Staatseuphorie ohne Strategie
Zur Lage der Linken im Postneoliberalismus
Die aktuelle Wirtschaftskrise hat auch unter den politisch und ökonomisch Herrschenden – wie beispielsweise jüngst beim Weltwirtschaftsforum in Davos – eine intensive Auseinandersetzung darüber ausgelöst, was künftig verändert werden muss.
In der aktuellen Krise scheint es – zumindest auf den ersten Blick –, als würde das neoliberale Dogma eines Besseren belehrt. Aber auch wenn derzeit Banken verstaatlicht und Vorschläge für eine Reregulierung der Finanzmärkte diskutiert werden, so ist doch weiterhin offen, inwieweit damit ein Gestaltungsanspruch staatlicher Politik gegen die Interessen der starken Kapitalgruppen einhergeht. Denn es handelt sich zuvorderst – bei aller ruinösen Konkurrenz – um eine Krisenintervention im Interesse der dominanten Kräfte.
Im Grunde geht es hier um die Neuauflage eines keynesianischen Programms, bei dem der Staat korrigierend in ökonomische Zyklen und die Macht des Kapitals eingreift. Im Zuge der unter Linken derzeit grassierenden Staatseuphorie sind Reflexionen über die sich verändernden Formen der Staatsintervention seit den 70er Jahren – und besonders in der aktuellen Krise – ausgesprochen selten anzutreffen. Die Vorschläge der Krisenbearbeitung bleiben weitgehend makroökonomisch ausgerichtet. Letztlich verbirgt sich hinter den meisten Diagnosen eine diffuse Hoffnung auf die Einsichtsfähigkeit der politischen und ökonomischen Eliten. Bei realistischer Betrachtung erweist sich diese Hoffnung jedoch als Illusion.
Nicht zufällig kommt das Problem der Hegemonie in den meisten aktuellen Diagnosen nicht vor. Krisen bedeuten nicht unbedingt eine Abkehr von der herrschenden Politik, sondern führen oft zu deren gradueller Erneuerung und festigen auf diese Weise die zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnisse. Antonio Gramsci nannte das eine „passive Revolution“, in der Zustimmung zur „großen Politik“ und makroökonomischen Entwicklung, aber auch hinsichtlich alltäglicher Orientierungen und Praktiken ausgearbeitet wird. Hier liegt denn auch der Kern des erfolgten neoliberalen Gesellschaftsumbaus. Er bestand ja nicht zuletzt darin, den Markt- und Konkurrenzimperativ tief in der Gesellschaft, ja bis in die Subjekte hinein zu verankern. Das ist mit der Krise nicht vorbei.
Der Staat ist aus herrschender Perspektive teilweise ein Opfer, vor allem jedoch ein Problemlöser, eine neutrale Instanz und den gesellschaftlichen Allgemeininteressen verpflichtet. Der Staat soll’s richten: Dieses Verständnis dominiert derzeit auch die Diskussion um die Finanzmarktkrise. Demgegenüber versteht eine kritische Analyse den Staat gerade nicht als „neutrale Instanz“, sondern als soziales Verhältnis oder genauer: als institutionell verdichtetes gesellschaftliches Kräfteverhältnis, in dem die herrschenden Kräfte dominieren und ihre Interessen leichter durchsetzen können als die schwächeren Akteure.
Der Staat, insbesondere in den OECD-Ländern, hat die Globalisierung kräftig vorangetrieben und wurde zum „nationalen Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch) transformiert.
Durch die Staatsintervention werden Unternehmensverluste sozialisiert (Bankenrettungsschirme), und die Krise selbst wird von mächtigen Konzernen dazu genutzt, geschwächte Konkurrenten zu erwerben (beispielsweise der Kauf der Dresdner Bank durch die Commerzbank).
Währenddessen gilt der Schutz der von Arbeitslosigkeit Bedrohten (von symbolisch und für die herrschende Politik wichtigen Kämpfen wie jenen um Opel abgesehen) oder der im Zuge der Hypothekenkrise ihre Häuser verlierenden Menschen als nachrangig.
Die kapitalistische Entwicklung produziert jedoch nicht nur Krisen, sondern auch ihre eigenen Gegenkräfte in Form von Widerstand und Alternativen. Diese können reaktionär oder gar faschistisch sein, aber auch emanzipatorisch und demokratisch.
Im Unterschied zu den staatszentrierten Krisendiagnosen plädiere ich daher dafür, die unterschiedlichen Vorschläge und Strategien zur Krisenbearbeitung mit dem Begriff des Postneoliberalismus zu fassen. Anders als im Diskurs vom „Ende des Neoliberalismus“ und der „Rückkehr des Staates“ geraten auf diese Weise die Brüche, aber eben auch die Kontinuitäten in den Blick. Kurz: Postneoliberale Strategien bedeuten nicht per se eine Abkehr von neoliberaler Politik; mit dem Begriff werden vielmehr unterschiedliche Optionen der Krisenbearbeitung in den Blick genommen. Dies erlaubt eine präzisere Einschätzung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die sich in einzelnen gesellschaftlichen Konfliktfeldern durchaus unterschiedlich ausformen.
Aus emanzipatorischer Perspektive geht es darum, Antworten auf die drängenden Probleme wie soziale Spaltung und Verarmung, Angst und die Privatisierung der Risikoabsicherung, ökologische Krise und Zunahme der Gewalt zu finden. Gleichzeitig gilt es, die herrschaftlichen Definitionen der „drängenden Probleme“ zurückzuweisen und zu verändern. Die Engführung der meisten Missstände auf die aktuelle Finanz- und sich anbahnende Wirtschaftskrise ist problematisch, denn eine solche Reduktion der Ursachen tendiert dazu, einen undemokratischen Etatismus zu begünstigen. Dieser setzt die soziale Spaltung fort bzw. vertieft sie weiter – nicht zuletzt auch dadurch, dass er die Krisen der Ökologie, der Integration, der Sicherheit und der Demokratie für zweitrangig erklärt.
Dieses Problem wird analytisch dadurch gewissermaßen „verdoppelt“, dass einer (guten) Realökonomie die aus dem Ruder gelaufenen (schlechten) Finanzmärkte gegenübergestellt werden, die es in Kombination mit progressiver Verteilungspolitik zu „entschleunigen“ gelte. Aber ist es denn überhaupt wünschenswert, rein makroökonomisch die Wirtschaft wieder „anzukurbeln“, anstatt die aktuellen Möglichkeiten dafür zu nutzen, eine qualitativ und von den komplexen Anreiz- und Bedürfnisstrukturen her ganz andere Lebensweise als die imperiale durchzusetzen?
Für alle Konfliktfelder und umfassende gegenhegemoniale Strategien gilt: Entscheidend wird sein, ob die Macht der Kapital- und Vermögensbesitzer – samt ihrer politisch-institutionellen, medialen und wissenschaftlichen Absicherung – wirklich in Frage gestellt werden kann und ob ein Umbau der Produktions- und Lebensweise akzeptiert wird. Denn eines sollte nicht übersehen werden: Der neoliberale Gesellschaftsumbau wurde und wird auch deshalb breit akzeptiert, weil er die imperiale Lebensweise der Bevölkerungsmehrheit in den Ländern des globalen Nordens und der Mittelklassen in den Ländern des globalen Südens absichert.
In der linken Diskussion sind alternative Ansätze kaum zu finden, werden die unterschiedlichen Krisendimensionen und Problemebenen bis heute nicht zusammengedacht. So wird der Widerspruch zwischen kurz- und mittelfristigen Kriseninterventionen und dem gleichzeitig notwendigen Umbau der Energie- und Ressourcenbasis des globalen Nordens nur selten benannt. Dies könnte in den kommenden Jahren das in vielerlei Hinsicht problematische Projekt eines „grünen New Deal“ zu der vermeintlich linken sozial-ökologischen „Alternative“ machen. Hier liegt eine große intellektuelle, strategische und politische Aufgabe.
Der weitreichenden Entpolitisierung muss mit einer gesellschaftlichen Mobilisierung entgegengearbeitet werden, deren Voraussetzung es ist, die „Parzellierung“ der gesellschaftlichen Probleme in Politikbereiche und entsprechende Lösungsansätze aufzuheben.
(Eine Langversion des Beitrags erschien in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, April 2009).
„Europe’s left is failing to gain from the crisis“
http://www.ft.com/cms/s/2/dd9609d0-2d09-11de-8710–00144feabdc0.html