Was hat die Finanzkrise mit der Einkommensverteilung zu tun?
Seit den frühen 80er Jahren ist es zu dramatischen Veränderungen in der Einkommensverteilung gekommen. In den meisten Ländern hat sich die Einkommensverteilung polarisiert – die Reichen sind reicher und die Armen (relativ) ärmer geworden. In praktisch allen Ländern ist die Lohnquote, d.h. der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen gesunken, in Österreich seit 1980 gar um mehr als 15 %. Schlimm, aber was hat das mit der Finanzkrise zu tun?
Auf den ersten Blick wenig, mag es scheinen. Die Finanzkrise wurde verursacht durch die Deregulierung der Finanzmärkte: Banken bündelten Hypothekarkredite, tranchierten sie und verkauften sie; unregulierte Hedge Fonds verschuldeten sich gewaltig und waren damit krisenanfällig; starke Kapitalzuflüsse in die USA, die diese zur Deckung ihres Leistungsbilanzdefizits benötigten, finanzierten die Spekulation … So, oder so ähnlich sind die gängigen Krisenerklärungen – alles Entwicklungen eines außer Rand und Band geratenen Finanzsektors.
Korrekt, aber der Fokus auf die Fehlentwicklungen im Finanzsektor droht dahinterliegende strukturelle Ursachen aus dem Bewusstsein zu verdrängen – und die haben viel mit der Veränderung der Einkommensverteilung zu tun.
Für den Großteil der Haushalte sind Lohneinkommen die Haupteinkommensquelle. Aus ihnen wird der Grossteil der Konsumausgaben finanziert. Bleiben die Löhne hinter dem Produktivitätswachstums zurück, so wird weniger konsumiert. Ökonometrische Schätzungen ergeben, dass Eine Umverteilung von 100 € von den Profiten zu den Löhnen zu rund 30 bis 40 € mehr Konsumausgaben führt.
Eine niedrigere Lohnquote bedeutet definitionsgemäß eine höhere Profitquote. Und höhere Profite führen zu mehr Investitionen. Kompensieren die höheren Investitionsausgaben nicht die gesunkenen Konsumausgaben? Nein; zwar führen höhere Gewinne tatsächlich zu mehr Investitionen, aber in einem bescheidenen Ausmaß. 100 € höhere Gewinne führen zu rund 10 € höheren Investitionen.
Kurz, die heimische Nachfrage stagniert, wenn die Löhne nicht steigen. Verschiedene Länder entwickelten unterschiedliche Strategien damit umzugehen. Etliche Länder, z.B. Deutschland und Japan, haben das schwache Wachstum der heimischen Nachfrage durch Exportüberschüsse kompensiert.
Das Problem: es können nicht alle Länder gleichzeitig Exportüberschüsse erzielen. Jedem Leistungsbilanzüberschuß muss ein Leistungsbilanzdefizit in einem anderen Land gegenüberstehen. Irgendwer muss importieren. Es waren die angelsächsischen Ländern, allen voran die USA, die sich als Wachstumsmotor der Weltwirtschaft etablierten. Waren in diesen Ländern die Löhne etwa stärker gewachsen? Nein, im grossen und ganzen nicht. Aufgrund ihres Immobilienmarktes und ihres Finanzsystem entwickelten diese Länder mit der Deregulierung des Finanzsektors ein scheinbar brillantes System der Nachfrageankurbelung: der Konsum wurde kreditfinanziert und die Kredite durch steigende Immobilienpreise besichert. Dieses kredit-finanzierte Wachstums ging gut, solange die Hauspreise weiter stiegen. Als diese zu fallen begannen, begannen auch die Banken zu krachen.
Wie finanzierten die Banken eigentlich dieses Kreditwachstum? Größtenteils nicht über Einlagen, sondern indem sie die Kredite weiterverkauften, teils in Form recht komplizierter Wertpapiere. Und wer kaufte eigentlich diese Papiere? Zu einem Teil internationale Anleger. Das muß so sein: ein Land das Exportüberschüsse (an Gütern) hat, muß auch Kapital exportieren. Indirekt finanzierten damit China, Japan und Deutschland die Kredite für die Immobilienblase. In einem vernünftigen Wechselkurssystem hätten der US-Dollar schon vor Jahren abwerten müssen. Aber im heutigen System sind die Wechselkurse den Märkten überlassen. Die Aussenhandelsungleichwichte konnten damit in ungewohnte Höhen steigen.
Fassen wir also zusammen: Einige Länder, in denen wegen Lohnzurückhaltung die heimische Nachfrage schwächelt, exportieren fleissig und finanzieren mit ihren Kapitalexporten die Kreditgenerierung in jene Länder, wo die Haushalte fleissig einkaufen, was sie sich wegen des geringen Lohnwachstums gar nicht leisten können und daher über Kredite finanzieren müssen. Insgesamt ein perverses System. Möglich wurde all dies durch die Deregulierung des Finanzsystems, aber auch durch eine Polarisierung der Einkommensverteilung.
Und die Moral von der Geschicht? Eine Reform des Finanzsystems kann daher nur ein Teil der Reparatur des Systems sein. Der andere Bereich der der Reparatur bedarf ist die Lohn- und Verteilungspolitik. Erst wenn die Löhne wieder mit der Produktivität wachsen ist ein wirtschaftliches Gleichgewicht möglich, das ohne spekulative Blasen und steigende Haushaltsverschuldung auskommt.