Christian Marazzi: „Finance as a real economy“ – Bericht
Bei einem Vortrag am 4.5.09 in Wien sprach der postoperaistische Ökonom Christian Marazzi (Professor an der Hochschule der italienischen Schweiz und Autor von Büchern wie „Fetisch Geld. Wirtschaft, Staat, Gesellschaft im monetaristischen Zeitalter“ und „Capital and Language. From the New Economy to the War Economy“) über das Verhältnis von Finanz- und Realwirtschaft. Früher seien Finanzblasen am Ende von Konjunkturzyklen aufgetreten, und seien somit aus marxistischer Sicht als Ausdruck von Verwertungsproblemen im Realsektor aufgefasst worden: Demnach flüchte überschüssiges Kapital in den Finanzsektor, und führe dort zu Vermögenspreisinflation, bis die Blase schließlich platzt. In diesem Kontext sei zu Recht von Entkoppelung von Finanz- und Realsphäre die Rede.
Diese Analyse sei für die Periode des Fordismus treffend gewesen, so Marazzi, mittlerweile habe sich aber ein Wandel zu einem postfordistischen Akkumulationsregime durchgesetzt, wo Finanzwesen und Realwirtschaft enger miteinander verwoben sind. Postfordistische Produktion sei durch die fortschreitende Auslagerung des Wertschöpfungsprozesses aus den Unternehmen gekennzeichnet. Unternehmen im fortschreitenden Bereich immaterieller Produkte überlassen das Produzieren anderen und konzentrieren sich aufs Koordinieren und die Abschöpfung von Wert, der außerhalb ihrer selbst produziert wird – von schlecht bezahlten Freelancern, oder gar gratis von Konsumenten, die durch ihr Feedback Ideen zur Produktentwicklung beisteuern und entscheidende Handgriffe selbst beisteuern (das Modell youtube) bzw. deren selbstgeschaffene Kultur vereinnahmt und kommerziell vermarktet wird (Lifestyle-Produkte). Das Finanzwesen spielt zum Funktionieren dieses Modells eine entscheidende Rolle. Erstens spielt die finanzielle Steuerung der Unternehmen eine zentrale Rolle für das Outsourcing (Shareholder Value-Orientierung führt zu Druck auf Unternehmensverschlankung). Zweitens schließt der Konsumentenkredit die Lücke zwischen geringen Lohneinkommen und der notwendigen Kaufkraft für den Konsum.
In der Ausweitung der Privatverschuldung komme auch ein eigensinniger Anspruch auf einen Lebensstandard der Privathaushalte zum Ausdruck, eine Verweigerung von Bescheidenheit und Zufriedenheit mit einem kargen Lohn, was als eine Art Ausdruck des Klassenkampfes unter Bedingungen des Postfordismus interpretiert werden könne, der sich ansonsten vor allem in der Verteidigung von Gemeingütern gegen Privatisierung manifestiere.
Die aktuelle Krise führt zu einem Wegbrechen der kreditgestützten Nachfrage, ohne die das System nicht läuft.
Die Redimensionierung und Einschränkung des Finanzsektors und damit des Kredits allein sei die falsche Antwort auf die Krise, weil damit der Kredit als (privatisierte Form der) Artikulation und Finanzierung von sozialen Ansprüchen zerschlagen werde, ohne dass ein Ersatz angeboten würde. Aufgrund der Zerschlagung des öffentlichen Sektors und Wohlfahrtsstaates etwa sei ohne Studienkredit von den privaten Haushalten keine Bildung zu finanzieren.
Um aus der Krise zu kommen, müsste man die Privatverschuldung ersetzen durch ein Recht auf ein Sozialeinkommen, also umverteilen. Für die unmittelbare Lösung des Problems der „toxic assets“ der Banken sei die Refinanzierung der Immobilienkreditschuldner der beste Weg.
Ich bitte, mein Nichtwissen zu entschuldigen, aber: was ist ein postoperaistischer Ökonom?
Man verzeihe meine kryptischen Adjektive… Kurz gesagt: Operaismus = Italienstämmiger Theorieansatz, der die Bedeutung sozialer (v.a.Arbeits-)Kämpfe für die kapitalistische Entwicklung betont. Post-Operaismus = Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch Verknüpfung mit französischen Theorieansätzen (Foucault etc.). Eine zentrale These: „Immaterielle Arbeit“ wird im Postfordismus wichtiger.. Vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Operaismus