Politische Intellektuelle und die Wirtschaftskrise
Die Frage der politischen Interventionsfähigkeit der Sozialwissenschaften war ein Thema der Konferenz „Political Economy, Financialisation and Discourse Theory“ Ende Mai in Cardiff.
Karel Williams (Manchester Business School) thematisierte in seinem Vortrag, wie stark sich die öffentliche Reaktion auf die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise von der Reaktion auf die Krisen 1931 (Weltwirtschaftskrise) und 1981 (Thatcher-Schock in UK) unterscheide. Damals gerieten die Eliten unter Druck, 1931 führte das zu Veränderungen in der Wirtschaftspolitik, 1981 zumindest zu einem öffentlichen Auftreten linker Wissenschaft (auch wenn sie letztlich erfolglos blieb).
Heute sei die öffentliche Reaktion vergleichsweise verhalten. Williams konstatierte eine Art gesellschaftliches „Stockholm-Syndrom“, auf Basis einer Geiselnahme der Gesellschaft durch den Finanzsektor – die fortgeschrittene Durchdringung der Gesellschaft mit einer finanzialisierten Logik führe zur Identifikation mit den Interessen und Motiven des Finanzsektors.
Auch die öffentlichen Intellektuellen fehlten. Williams nannte folgende Gründe: Zersplitterung in feindliche Theorie-Lager; Verdrängung politischer Ökonomie aus der Mainstreamökonomie und Ausweichen in Sub-Disziplinen mit engem Fokus wie Internationale Politische Ökonomie, Geografie, Kulturstudien etc.; Professionalisierung/ Akademisierung – das Feld der Medienarbeit wird von AkademikerInnen aufgegeben und wird völlig den Leuten aus dem Finanzsektor überlassen.
Ein Teil der Erklärung für diese Entwicklungen sei Unklarheit über die Situation und der politische Kontext (Rechtswendung der Labour Party, Marginalisierung der Gewerkschaften). Einen Teil der Erklärung liefere aber auch die Selbstbeschränkung der Intellektuellen. Williams Abschlussfrage: Sollte die Intelligenz von der Kritik zur Selbstkritik über ihre innenorientierte Professionalisierung übergehen?
Colin Wight (University of Exeter) konstatierte eine „Gang-Mentalität“ in den Sozialwissenschaften. Theoretische Abgrenzungen hätten häufig mehr mit Identitätspolitik statt Substanz zu tun, seien in einem zersplitterten Feld wie etwa Politikwissenschaft aber wichtig für das akademische Fortkommen (vgl. den Artikel von Kyle Siler in Kurswechsel 4/05 für den Fall der Wirtschaftswissenschaften). Das zeige sich in vielen Diskussionen der Konferenz wieder, wo Debatten zwischen Postrukturalistismus- und Kritischer-Realismus-Ansätzen oft übertrieben heftig geführt würden (So hatte etwa jemand auf Marieke de Goedes [Uni Amsterdam] Einfühungsvortrag, in dem sie die internationale Terror-Geldwäsche-Bekämpfungs-Offensive als Projekt zur Ausdehnung der Überwachung im Alltag kritisierte, gefragt, wozu sie für diese Analyse einen poststrukturalistischen Ansatz bemühe).
Der kritische Buchhaltungs-Theoretiker Prem Sikka (University of Essex), der für die Aufdeckung von Parteienfinanzierungsströmen der Tories bekannt ist, plädierte für mehr journalistisches und politisches Engagement von WissenschafterInnen.
In der Diskussion wurde debattiert, ob die Ursache dafür in der Wissenschaft selbst oder eher in Veränderungen von Politik und Öffentlichkeit zu suchen ist. Die Ignoranz gegenüber Wissenschaft habe mit Interessen und Macht zu tun, nicht mit dem Zustand der Wissenschaft, so eine Anmerkung. Der öffentliche Sektor fragt heute Beratungsfirmen und Unternehmen um Expertise, nicht mehr in Universitäten. Öffentliche Untersuchungskommissionen sind nicht an wissenschaftlichen Ergebnissen, Problematisierungen und Ursachenforschungen interessiert, sondern kompilieren nur noch Meinungen von (Industrie-)ExpertInnen.
Andere hinterfragten, ob der Stellenwert der Wissenschaft in der (Berufs-)Politikberatung der entscheidende Indikator sei, oder ob es nicht vielmehr darum ginge, sich in Beziehung zu sozialen Bewegungen und widerständigen AkteurInnen außerhalb der etablierten Politik zu setzen.
Der BEIGEWUM hat zu diesen Themen vor einigen Jahren selbstreflexive Überlegungen angestellt (siehe auch hier). Zeit, angesichts der Krise daran weiterzuarbeiten!
Danke für diesen hochinteressanten Bericht! Und es soll gar keine Einschränkung dagegen sein, aber: es handelt sich hier doch um eine sehr britische Debatte, nicht? Wenn ich das mal ganz grob nach Hause übersetzen darf:
Einerseits würde ich mir in Österreich schon mal eine Diskussion zwischen Critical Realists und Poststrucuralists wünschen, was wär das für ein Fortschritt!
Andererseits zeigt der in diesem Posting aufgezeigte Zustand der kritischen Social Sciences in Great Britain, die doch um so viel besser dotiert, organisiert und kulturell akzeptiert sind als hierzulande, dass das konsequente Spiel nach akademischen Regeln allein noch nichts ausmacht.
In Österreich steht eine doppelte Kraftanstrengung bevor: die Sozialwissenschaften (sofern sie als Reservoir für die kritischen Intellektuellen dienen) müssen sich an vielen Stellen endlich aus ihrer Provinzialität befreien, und sie dürfen dabei nicht den Kontakt zu den relevanten Themenstellungen verlieren (bzw., ums noch komplizierter zu machen, müssen sie ihn oftmals erst suchen …). Das wird nicht einfach.