80 Jahre ›Schwarzer Donnerstag‹ – John Kenneth Galbraith neu gelesen – BEIGEWUM

80 Jahre ›Schwarzer Donnerstag‹ – John Kenneth Galbraith neu gelesen

am 19. Oktober 2009 um 18:19h

Am Don­ners­tag, den 24. Okto­ber 1929 „wech­sel­ten 12.894.650 Antei­le den Besit­zer, die meis­ten zu einem Preis, der die Träu­me und Hoff­nung der bis­he­ri­gen Inha­ber rest­los Zer­stör­te“ (S. 136). Das schreibt John Ken­neth Gal­braith in sei­nem Buch Der Gro­ße Crash 1929. Ursa­chen, Ver­lauf, Fol­gen.* An die­sem Tag – und nicht am ›Schwar­zen Frei­tag‹ – gin­gen die Bör­sen­kur­se in New York am stärks­ten wäh­rend des Bör­sen­crashs 1929 zurück. Am kom­men­den Sams­tag jährt sich die­ser Tag zum acht­zigs­ten Mal. Ange­sichts der aktu­el­len Wirt­schafts­kri­se ist es loh­nend, den Klas­si­ker von Gal­braith neu zu lesen.


Gal­braith beschreibt in sei­nem Buch zunächst den Ver­lauf der Ent­wick­lun­gen, die spä­ter zum Gro­ßen Crash füh­ren soll­ten. Zwar ging es den Bau­ern bereits nach der Depres­si­on der Jah­re 1920 und 1921 auf Grund der gesun­ke­nen Agrar­prei­se schlecht, ins­ge­samt waren die 1920er-Jah­re aber eine gute Zeit für die USA. Die Pro­duk­ti­vi­tät erhöh­te sich, die Beschäf­ti­gung war auf einem hohen Niveau, und Armut konn­te zwar nicht gänz­lich über­wun­den, aber ein gutes Stück zurück­ge­drängt wer­den (vgl. S. 34). Rück­bli­ckend stellt sich die Fra­ge, ob die Zei­ten nicht nur gut, son­dern zu gut waren… Jeden­falls stie­gen in der Fol­ge die zu Beginn der 1920er-Jah­re nied­ri­gen Akti­en­kur­se. Trotz eini­ger Rück­schlä­ge war die Rich­tung der Kur­se ein­deu­tig: Sie stie­gen. „Bis Anfang 1928 muss­ten selbst äußerst kon­ser­va­tiv ein­ge­stell­te Leu­te glau­ben, dass die Akti­en­kur­se sich sowohl den wach­sen­den Unter­neh­mens­ge­win­nen als auch den Aus­sich­ten auf wei­te­re künf­ti­ge Stei­ge­run­gen anpas­sen wür­den. Auch die Pha­se des Frie­dens und die ruhi­gen Zei­ten konn­te man guten Gewis­sens ein­kal­ku­lie­ren, eben­so die Sicher­heit, dass die Regie­rung in Washing­ton die Erträ­ge nicht stär­ker als im not­wen­di­gen Maß besteu­ern wür­de. Anfang 1928 begann dann die Pha­se der Über­trei­bung: eine Mas­sen­flucht in die Schein­welt […] nahm ernst­haf­te For­men an“ (S. 44). 1928 schließ­lich wur­de Her­bert Hoo­ver als neu­er US-Prä­si­dent gewählt. Er hat­te zwar zuvor als Han­dels­mi­nis­ter und Prä­si­dent Coo­lidge ver­sucht, den Markt unter Kon­trol­le zu bekom­men, aller­dings war sei­ne kri­ti­sche Hal­tung zur Ent­wick­lung an der Bör­se wenig bekannt. Nach Hoo­vers Wahl gab es einen regel­rech­ten Boom, am Tag nach der Wahl stie­gen die Papie­re um 5 bis 15 Pro­zent. Außer Hoo­vers Wahl war nichts pas­siert, was als Ursa­che für die­sen Anstieg genannt wer­den könn­te (S. 50).

Mit leich­ten Schwan­kun­gen ging es so wei­ter, wobei vor allem Ter­min­ge­schäf­te stark aus­ge­wei­tet wur­den. Gal­braith beschreibt, wie zuneh­mend Spe­ku­la­tio­nen ohne Eigen­tum ein­setz­ten. Am Eigen­tum als sol­ches waren Spe­ku­lan­ten nicht inter­es­siert – son­dern ledig­lich am Wert­zu­wachs. Daher wur­den ein Mecha­nis­mus ent­wi­ckelt, der das Spe­ku­lie­ren von den „Las­ten des Eigen­tums befreit“ und über Kre­di­te funk­tio­niert (S. 51ff, Zitat S. 53). Damit war der Spe­ku­la­ti­on Tür und Tor geöff­net, und der Glau­be, dass jeder gewin­nen kön­ne (und wür­de) tat sein übriges.

In der Fol­ge gab es kein Hal­ten mehr. War­nen­de Stim­men gab es weni­ge, und die, die es gab, wur­den igno­riert oder denun­ziert als Men­schen, die die gute Stim­mung kaputt­re­den wol­len. Ein bis heu­te berühm­ter Beschwich­ti­ger der dama­li­gen Zeit war Prof. Irving Fisher (bspw. S. 107). Auch ande­re Wis­sen­schaft­ler und zahl­rei­che Medi­en gehör­ten zu den unkri­ti­schen Beglei­tern – und oft genug betei­lig­ten Spe­ku­lan­ten – im Jah­re 1929. Zwei­fel waren weder erlaubt noch erwünscht, und wei­te­re Instru­men­te zur Aus­wei­tung der Spe­ku­la­tio­nen wur­den ein­ge­setzt, ins­be­son­de­re die Hebel­kraft (Leverage) spiel­te eine immer grö­ße­re Rol­le (S. 93ff.), wie übri­gens auch in der aktu­el­len Kri­se. Es wur­den Trusts mit wohl­klin­gen­den Namen wie Shen­an­do­ah gegrün­det, die direkt über­zeich­net waren und im Wert oft kräf­tig anstie­gen – um nach dem Crash kaum noch etwas Wert zu sein.


Der Crash

Selbst als die Akti­en­kur­se ein­bra­chen gin­gen vie­le von einem tem­po­rä­ren Knick aus. Ende Okto­ber 1929 gab es dann jedoch kein Hal­ten mehr. Dazu Gal­braith: „Was den Anstoß gab, wis­sen wir nicht. Wahr­schein­lich ist es auch gar nicht wich­tig, dass wir es wis­sen“ (S. 129). Bei den ers­ten Ein­brü­chen mach­te die Hoff­nung einer „orga­ni­sier­ten Unter­stüt­zung“ die Run­de, die Lage spitz­te sich den­noch mehr und mehr zu. Und am 24. Okto­ber gab es dann schlicht kei­ne Käu­fer mehr für die Antei­le, deren Wer­te daher ins Boden­lo­se stürz­ten (S. 136f.). Zwar ver­such­ten gro­ße Ban­ken mit einer orga­ni­sier­ten Stüt­zung des Mark­tes ein­zu­grei­fen (S. 138ff.), was die Prei­se auch kurz­fris­tig wie­der zum Stei­gen brach­te. Tat­säch­lich glaub­ten vie­le nach dem Schwar­zen Don­ners­tag, dass man das Schlimms­te über­stan­den habe. Aller­ding folg­te am Diens­tag, dem 29. Okto­ber „der ver­hee­rends­te Tag in der Geschich­te der New Yor­ker Bör­se“ (S. 150, das Buch von Gal­braith erschien 1954!).

Gal­braith beschreibt in sei­nem Buch detail­liert die Tage Ende Okto­ber, die in die Geschich­te als Gro­ßer Crash ein­gin­gen. Er räumt dabei auch mit eini­gen Legen­den auf (etwa, dass es zahl­rei­che Selbst­mor­de in New York gege­ben habe, S. 168f.). Er beschreibt die Hilf­lo­sig­keit der Akteu­re und die Auf­de­ckung von Unter­schla­gun­gen sowie die Plei­te zahl­rei­cher Unter­neh­men. Gal­braith beschreibt fer­ner die schwie­ri­ge Auf­ar­bei­tung der Kri­se. Vor allem aber: Er ana­ly­siert ihre Ursachen. 


Die Ursa­chen

John Ken­neth Gal­braith benennt fünf Punk­te als Ursa­chen für den Gro­ßen Crash und die fol­gen­de Welt­wirt­schafts­kri­se (S. 216ff.):

  1. Die schlech­te Ein­kom­mens­ver­tei­lung: Die Ein­kom­men waren 1929 beson­ders ungleich ver­teilt. Genaue Zah­len lägen für die­se Zeit nicht vor, aller­dings sei davon aus­zu­ge­hen, dass 5 Pro­zent der Bevöl­ke­rung mehr als 30 Pro­zent des Ein­kom­mens erziel­ten. „Auf­grund die­ser höchst unglei­chen Ein­kom­mens­ver­tei­lung war die Wirt­schaft von mög­lichst hohen Inves­ti­tio­nen oder von einem mög­lichst hohen Ver­brauch an Luxus­gü­tern oder von bei­den Fak­to­ren gleich­zei­tig abhän­gig. Die Rei­chen konn­ten nicht Unmen­gen von Brot kau­fen, um ihr Geld umzu­set­zen.“ Die Aus­ga­ben der Rei­chen waren jedoch für die schlech­ten Nach­rich­ten von der Bör­se beson­ders emp­fäng­lich. Mit Blick auf die aktu­el­le Kri­se hat Engel­bert Stock­ham­mer bereits im April die Fra­ge gestellt: Was hat die Finanz­kri­se mit der Ein­kom­mens­ver­tei­lung zu tun?

  2. Die pre­kä­re Struk­tur der Kapi­tal­ge­sell­schaf­ten. Gal­braith nennt eine „außer­ge­wöhn­li­che Anzahl von aus­ge­buff­ten Geschäf­te­ma­chern, Blen­dern und Schwind­lern“ in den Direk­ti­ons­bü­ros der Unter­neh­men. Zen­tra­ler Schwach­punkt – auch das erin­nert an heu­te – waren die unüber­schau­ba­ren neu­en Struk­tu­ren bei den Hol­dings und Trusts. Die Ver­schach­te­lun­gen waren so stark, dass ein Aus­fall an einer Stel­le oft gra­vie­ren­de Fol­gen hatte.

  3. Die Labi­li­tät des Ban­ken­we­sens. Hier­bei geht es Gal­braith vor allem um die Ket­ten­re­ak­ti­on aus der Plei­te einer Bank und dem Abzug der Ein­la­gen bei ande­ren Ban­ken (Ban­ken­run). Hier­auf wur­de nach der Kri­se mit der Ein­rich­tung von Ein­la­ge­si­che­rungs­sy­te­men reagiert. Aktu­ell muss das nie­der­län­di­sche Sys­tem nach der Plei­te der DSB-Bank nach einem Ban­ken­run ein­grei­fen.

  4. Der deso­la­te Zustand der Außen­han­dels­bi­lanz. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten waren nach dem ers­ten Welt­krieg der größ­te Gläu­bi­ger der Welt. Zudem bestand zunächst noch ein Han­dels­über­schuss, der die­se Posi­ti­on wei­ter stärk­te. Zwar war der Sal­do zwi­schen Expor­ten und Impor­ten nicht son­der­lich groß, den­noch muss­te er abge­deckt wer­den. „Das Aus­land konn­te die Pas­siv­sal­den gegen­über den Ver­ei­nig­ten Staa­ten nicht mehr oder nicht mehr lan­ge mit erhöh­ten Gold­über­wei­sun­gen bezah­len. Das hieß, es muss­te ent­we­der sei­ne Impor­te aus den USA zurück­fah­ren oder alter­na­tiv mit sei­nen Dar­le­hens­ver­bind­lich­kei­ten in Ver­zug gera­ten.“ Auch die unaus­ge­gli­che­ne Leis­tungs­bi­lanz, aller­dings unter umge­kehr­ten Vor­zei­chen, ist in der aktu­el­len Kri­se ein The­ma. So set­zen u.a. Öster­reich, vor allem aber Deutsch­land auf eine rei­ne Export­stra­te­gie (sin­ken­de Real­löh­ne, sin­ken­de Bin­nen­nach­fra­ge aber gute Wett­be­werbs­fä­hig­keit auf den Weltmärkten).

  5. Der schlech­te Zustand der Wirt­schafts­po­li­tik und der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten. Gal­braith nennt die Ideo­lo­gie des aus­ge­gli­chen Haus­halts (=Kon­trak­ti­on der Nach­fra­ge) und die Angst vor Infla­ti­on (=stei­gen­de Zin­sen und Ver­teue­rung von Geld), die eine ver­nünf­ti­ge Geld­po­li­tik ver­hin­der­te, obwohl das Land vor einer Defla­ti­on stand. Auch die­se Debat­ten ken­nen wir von heu­te. Gal­braith schrieb sei­ner­zeit (S. 225): „Sowohl die akti­ve Fis­kal­po­li­tik – Besteue­rung und Staats­aus­ga­ben – als auch eine ver­nünf­ti­ge Geld­po­li­tik zu unter­las­sen war das Glei­che, wie jeg­li­che kon­struk­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik abzu­leh­nen. Die Wirt­schafts­ex­per­ten jener Tage besa­ßen genü­gend Ein­mü­tig­keit und Auto­ri­tät, um die Füh­rer bei­der Par­tei­en zu ver­an­las­sen, alles, was Defla­ti­on und Depres­si­on hät­te bekämp­fen kön­nen, zu ver­mei­den […], ein Tri­umph der Schul­weis­heit über die Pra­xis. Die Fol­gen waren verheerend.“

 

Gal­braith 2009

Natür­lich waren Ursa­chen, Ver­lauf und Fol­gen 1929 ande­re als 2009, auch wenn heu­te noch nicht klar ist, wie die aktu­el­le Kri­se wei­ter­geht. Erschre­ckend sind eini­ge Par­al­le­len aber schon, die Dog­ma­tik der Öko­no­mie, die Ein­kom­mens­ver­tei­lung usw. Es lohnt sicher daher unbe­dingt, sich eine der bekann­tes­ten Inter­pre­ta­ti­on der Welt­wirt­schafts­kri­se zu Gemü­te zu füh­ren – und John Ken­neth Gal­braith neu zu lesen.

 

* Alle Sei­ten­an­ga­ben bezie­hen sich auf den unver­än­der­ten Nach­druck der 4. Auf­la­ge aus dem Jahr 2009. Das Buch erschien erst­mals 1954.


Kommentieren



Noch keine Kommentare.

Zum Anfang der Seite