Wege aus der Krise? Einige Anmerkungen
Es gibt zwei Grundmuster des Wirtschaftens:
* Gemeinwirtschaftlichkeit: Niemand kann bei wirtschaftlichen Handlungen zu Lasten anderer (Erwerbs-)Vorteile für sich erzielen.
* Eigenwirtschaftlichkeit: Wirtschaftliche Handlungen werden mit der Absicht unternommen, (Erwerbs-)Vorteile für sich ohne Rücksicht darauf zu erzielen, zu wessen Lasten sie gehen.
Demgemäß gibt es zwei Grundmuster der Verteilung von Überschüssen: Sie werden
* entweder von der Gemeinschaft, die sie hervorgebracht hat, nach von der Gemeinschaft selbst festgelegten Regeln ebenso gemeinschaftlich genutzt beziehungsweise verbraucht
* oder von einer Person oder Wirtschaftseinheit auf eine andere Person oder Wirtschaftseinheit übertragen, wobei diese Übertragung
— entweder als Raub, also als erzwungene Hergabe und gewaltsame Aneignung,
— oder als Tausch, also als Verkauf und Kauf auf einem Markt (Vertrag durch schlüssige Handlungen) stattfinden kann.
Diese Grundmuster lassen sich zeitgenössisch als Solidarische Ökonomie und als Kapitalistische Rivalitätswirtschaft fassen.
Bedingt durch die politische Schwäche der Arbeiter/innenbewegung nicht erst seit zwei Jahrzehnten wurden solidarökonomische Elemente zunehmend aus der vorherrschenden kapitalistischen Ökonomie verdrängt. Das neoliberale Dogma vom „freien Wettbewerb in offener Marktwirtschaft“ hat zur Rivalität (auch unter den Kapitalfraktionen) und zum Totalitarismus des privaten Gewinnemachens geführt. Der Leistungsfetischismus wurde zum Leistungsfaschismus weiter pervertiert. Leistungsträger/innen, die den maximalen Anforderungen des Finanzkapitals nicht gewachsen sind („Minderleister/innen“) oder sogar Widerstand entgegensetzen, werden durch Hinauswurf aus den „Tempeln der Mehrwertabschöpfung“ bei gleichzeitiger Kürzung von Sozialleistungen gesellschaftlich „liquidiert“. Die in den ökonomischen Strukturen verborgene Gewalt läuft ebenso brutal auf eine soziale Vernichtung hinaus wie die offene Gewalt des Faschismus auf die physische Vernichtung.
So offenbart sich in der aktuellen Krise die Systemeigentümlichkeit des Kapitalismus: die Beeinträchtigung der Gesamtgesellschaft durch die „Kaufkraftschwächung“ ihrer Mehrheit. Als „Kostenfaktoren“ sind erwerbsarbeitende Menschen Störelemente im verselbstständigten Hauptzweck der kapitalistischen Wirtschaft, dem Trieb der privaten Kapitalanhäufung. Das Kapital als „Kommando über unbezahlte Arbeit“, wie Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Hauptwerk sein undemokratisches Wesen bloßlegen, ruft den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneignung hervor. Er bewirkt, dass „die kapitalistische Produktion … auf der einen Seite für die Gesellschaft verliert, was sie auf der anderen für den einzelnen Kapitalisten gewinnt“. Dazu tragen auch gezielte Privatisierungen öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Eigentums bei. Dadurch werden bedeutsame Bereiche der Gesellschaft dem Einfluss formaldemokratisch legitimierter Körperschaften entzogen und der Verfügungsgewalt demokratieloser Kapitaleigentümergremien unterworfen.
Das Kapital ist ein herrschaftliches Verhältnis zwischen Personen, das durch die Verfügung über Sachen vermittelt wird. So erfolgt unter dem trügerischen Schein von „Sachlichkeit“ die Herabwürdigung von Menschen zu „Arbeitskräften“, die nur solange Erwerbsarbeit finden, solange sie als „Waren“ für das Kapital verwertbar sind. Daraus resultiert eine tendenzielle Beeinträchtigung ihres Zutrauens in die Zuverlässigkeit ihrer eigenen Erfahrung. Dieser Zerstörungsvorgang bereitet die seelische Grundlage für das Empfinden auf, bedeutungslos zu sein, und führt zum Entstehen von Ich-Schwäche. Ganz zu schweigen davon, dass diese psychischen Mechanismen bei Erwerbsarbeitslosen noch viel heftiger wirken. Fehlende politische Bildung und mangelnde Kenntnisse von gesellschaftlichen Zusammenhängen begünstigen zusätzlich die Anfälligkeit vieler Betroffener für autoritäre Lösungen zu Lasten anderer Benachteiligter. Die Entfremdung durch Erwerbsarbeit oder ihr Fehlen wird politisch zur menschlichen Selbstentfremdung verdreht. Das Kapital erweist sich dadurch nicht bloß als demokratielos, sondern vielmehr als demokratiegefährdend.
Die Demokratielosigkeit der Wirtschaft wird damit zum Hauptansatzpunkt für Bemühungen, Wege aus der Krise zu finden. Denn milliardenschwere Konjunkturpakete, Stützungen und Garantien der Öffentlichen Hand nahezu bedingungslos über die bestehende kapitalistische Wirtschaftsstruktur auszuschütten, die diese Krise hervorgebracht hat, läuft nur darauf hinaus, der nächsten Krise Vorschub zu leisten.
Überschüsse sind unverzichtbar, aber ihre automatische Verteilung zum Kapital ist es nicht. Es genügt aber nicht, bloß Umverteilung und diese nur durch Steuern (Sekundärverteilung) oder Transferleistungen (Tertiärverteilung) bewerkstelligen zu wollen. Diese von repräsentativ-demokratischen Körperschaften zu beschließenden Maßnahmen können auf Dauer die „automatische“ Umverteilung von der Arbeit zum Kapital durch die antidemokratische kapitalistische Eigentumsordnung nicht korrigieren. Dafür bedarf es Eingriffe in die Primärverteilung, also in die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts dort, wo es entsteht: im demokratielosen Bereich der Arbeitswelt. Es geht damit auch um die Verwirklichung eines anderen Arbeitsbegriffs, der auf einem Bewusstsein der Menschen von ihrer gesellschaftlichen Verbundenheit beruht, von den Elementen der Solidarität sowie des Schöpferischen und Identitätsstiftenden geprägt und die Grundlage eines „guten Lebens für alle“ ist.
Gesellschaftliches Eigentum an Grund und Boden, Fabrik und Büro ist Voraussetzung und Ausdruck dieses Demokratisierungsprozesses. Es entsteht, wenn demokratisch legitimierte Öffentliche Hände die in ihrem Einflussbereich befindlichen Betriebe und Unternehmen gemeinsam mit demokratisch legitimierten Vertreter/inne/n der Beschäftigten und der Verbraucher/innen, „also derjenigen Gruppen, für die der Betrieb da sein soll“, verwalten. Das soll zur „wirtschaftlichen Selbstverwaltung des ganzen Volkes“ führen, wie es der Theoretiker des Austromarxismus Otto Bauer in seinen Sozialisierungskonzepten formulierte.
Gesellschaftliches Eigentum manifestiert sich in der Bestellung von Aufsichts- und Leitungsorganen durch die Triade Öffentliche Hand, Beschäftigte und Verbraucher/innen, in der demokratischen Verteilung des innerbetrieblichen Überschusses auf die einzelnen Einkommensarten nach gesetzlich festgelegten statutarischen Prinzipien beziehungsweise des außerbetrieblich zu verteilenden Überschusses nach gesetzlich festgelegten Zweckbindungen. Diese Strukturmerkmale sollen der Beeinträchtigung der Gesamtgesellschaft durch die Schwächung ihrer gesellschaftlichen Mehrheit vorbeugen sowie einem bedarfsdeckungsorientierten, gebrauchswertgeleiteten und selbstkostenbasierten Wirtschaften Vorschub leisten.
In der Neuzeit reichen Bemühungen um gesellschaftliches Eigentum beispielsweise von den Diggers und der New Model Army im England der Mitte des 17. Jahrhunderts über die Pariser Kommune vom Frühjahr 1871 und die Landbesetzungen in Mexiko Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den Arbeiterräten in Mittel- und Osteuropa sowie den Gemeinwirtschaftlichen Anstalten in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. Sie setzten sich nach dem Zusammenbruch des Faschismus in der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, den englischen Arbeiterkooperativen und den besetzten Betrieben Frankreichs fort und leben gegenwärtig weiter in den vielfältigen Mustern der Solidarökonomie in Argentinien, Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern sowie wie im Genossenschaftsnetzwerk Mondragon im spanischen Baskenland. Diese Bemühungen waren und sind nicht frei von Irrtümern und Fehlern der Bemühenden und sie unterlagen beziehungsweise unterliegen oft den Anfeindungen des Kapitals. Doch belegen diese Anfeindungen die grundsätzliche Richtigkeit dieser Stoßrichtung.
Die Demokratisierung der Wirtschaft eröffnet nicht zwangsläufig das Paradies. Konflikte werden nicht verschwinden, aber für ihre Lösung bieten sich andere Vorgänge an als das Ausspielen ökonomischer Gewalt. Sie gewährleisten jedenfalls die Bedingung der Möglichkeit, nicht mehr länger eine Suppe auslöffeln zu müssen, die uns andere einbrocken, sondern, gesellschaftlich organisiert, unsere Suppe solidarisch selbst zu kochen.