Wege aus der Krise? Einige Anmerkungen – BEIGEWUM

Wege aus der Krise? Einige Anmerkungen

am 9. November 2009 um 17:19h

Es gibt zwei Grund­mus­ter des Wirtschaftens:
* Gemein­wirt­schaft­lich­keit: Nie­mand kann bei wirt­schaft­li­chen Hand­lun­gen zu Las­ten ande­rer (Erwerbs-)Vorteile für sich erzielen.
* Eigen­wirt­schaft­lich­keit: Wirt­schaft­li­che Hand­lun­gen wer­den mit der Absicht unter­nom­men, (Erwerbs-)Vorteile für sich ohne Rück­sicht dar­auf zu erzie­len, zu wes­sen Las­ten sie gehen.

Dem­ge­mäß gibt es zwei Grund­mus­ter der Ver­tei­lung von Über­schüs­sen: Sie werden
* ent­we­der von der Gemein­schaft, die sie her­vor­ge­bracht hat, nach von der Gemein­schaft selbst fest­ge­leg­ten Regeln eben­so gemein­schaft­lich genutzt bezie­hungs­wei­se verbraucht
* oder von einer Per­son oder Wirt­schafts­ein­heit auf eine ande­re Per­son oder Wirt­schafts­ein­heit über­tra­gen, wobei die­se Übertragung
— ent­we­der als Raub, also als erzwun­ge­ne Her­ga­be und gewalt­sa­me Aneignung,
— oder als Tausch, also als Ver­kauf und Kauf auf einem Markt (Ver­trag durch schlüs­si­ge Hand­lun­gen) statt­fin­den kann.


Die­se Grund­mus­ter las­sen sich zeit­ge­nös­sisch als Soli­da­ri­sche Öko­no­mie und als Kapi­ta­lis­ti­sche Riva­li­täts­wirt­schaft fassen.


Bedingt durch die poli­ti­sche Schwä­che der Arbeiter/​innenbewegung nicht erst seit zwei Jahr­zehn­ten wur­den soli­dar­öko­no­mi­sche Ele­men­te zuneh­mend aus der vor­herr­schen­den kapi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mie ver­drängt. Das neo­li­be­ra­le Dog­ma vom „frei­en Wett­be­werb in offe­ner Markt­wirt­schaft“ hat zur Riva­li­tät (auch unter den Kapi­tal­frak­tio­nen) und zum Tota­li­ta­ris­mus des pri­va­ten Gewin­ne­ma­chens geführt. Der Leis­tungs­fe­ti­schis­mus wur­de zum Leis­tungs­fa­schis­mus wei­ter per­ver­tiert. Leistungsträger/​innen, die den maxi­ma­len Anfor­de­run­gen des Finanz­ka­pi­tals nicht gewach­sen sind („Minderleister/​innen“) oder sogar Wider­stand ent­ge­gen­set­zen, wer­den durch Hin­aus­wurf aus den „Tem­peln der Mehr­wert­ab­schöp­fung“ bei gleich­zei­ti­ger Kür­zung von Sozi­al­leis­tun­gen gesell­schaft­lich „liqui­diert“. Die in den öko­no­mi­schen Struk­tu­ren ver­bor­ge­ne Gewalt läuft eben­so bru­tal auf eine sozia­le Ver­nich­tung hin­aus wie die offe­ne Gewalt des Faschis­mus auf die phy­si­sche Vernichtung.


So offen­bart sich in der aktu­el­len Kri­se die Sys­tem­ei­gen­tüm­lich­keit des Kapi­ta­lis­mus: die Beein­träch­ti­gung der Gesamt­ge­sell­schaft durch die „Kauf­kraft­schwä­chung“ ihrer Mehr­heit. Als „Kos­ten­fak­to­ren“ sind erwerbs­ar­bei­ten­de Men­schen Stör­ele­men­te im ver­selbst­stän­dig­ten Haupt­zweck der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft, dem Trieb der pri­va­ten Kapi­tal­an­häu­fung. Das Kapi­tal als „Kom­man­do über unbe­zahl­te Arbeit“, wie Karl Marx und Fried­rich Engels in ihrem Haupt­werk sein unde­mo­kra­ti­sches Wesen bloß­le­gen, ruft den Wider­spruch zwi­schen gesell­schaft­li­cher Pro­duk­ti­on und indi­vi­du­el­ler Aneig­nung her­vor. Er bewirkt, dass „die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­on … auf der einen Sei­te für die Gesell­schaft ver­liert, was sie auf der ande­ren für den ein­zel­nen Kapi­ta­lis­ten gewinnt“. Dazu tra­gen auch geziel­te Pri­va­ti­sie­run­gen öffent­li­chen und gemein­wirt­schaft­li­chen Eigen­tums bei. Dadurch wer­den bedeut­sa­me Berei­che der Gesell­schaft dem Ein­fluss form­alde­mo­kra­tisch legi­ti­mier­ter Kör­per­schaf­ten ent­zo­gen und der Ver­fü­gungs­ge­walt demo­kra­tie­lo­ser Kapi­tal­ei­gen­tü­mer­gre­mi­en unterworfen.


Das Kapi­tal ist ein herr­schaft­li­ches Ver­hält­nis zwi­schen Per­so­nen, das durch die Ver­fü­gung über Sachen ver­mit­telt wird. So erfolgt unter dem trü­ge­ri­schen Schein von „Sach­lich­keit“ die Her­ab­wür­di­gung von Men­schen zu „Arbeits­kräf­ten“, die nur solan­ge Erwerbs­ar­beit fin­den, solan­ge sie als „Waren“ für das Kapi­tal ver­wert­bar sind. Dar­aus resul­tiert eine ten­den­zi­el­le Beein­träch­ti­gung ihres Zutrau­ens in die Zuver­läs­sig­keit ihrer eige­nen Erfah­rung. Die­ser Zer­stö­rungs­vor­gang berei­tet die see­li­sche Grund­la­ge für das Emp­fin­den auf, bedeu­tungs­los zu sein, und führt zum Ent­ste­hen von Ich-Schwä­che. Ganz zu schwei­gen davon, dass die­se psy­chi­schen Mecha­nis­men bei Erwerbs­ar­beits­lo­sen noch viel hef­ti­ger wir­ken. Feh­len­de poli­ti­sche Bil­dung und man­geln­de Kennt­nis­se von gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hän­gen begüns­ti­gen zusätz­lich die Anfäl­lig­keit vie­ler Betrof­fe­ner für auto­ri­tä­re Lösun­gen zu Las­ten ande­rer Benach­tei­lig­ter. Die Ent­frem­dung durch Erwerbs­ar­beit oder ihr Feh­len wird poli­tisch zur mensch­li­chen Selbst­ent­frem­dung ver­dreht. Das Kapi­tal erweist sich dadurch nicht bloß als demo­kra­tie­los, son­dern viel­mehr als demokratiegefährdend.


Die Demo­kra­tie­lo­sig­keit der Wirt­schaft wird damit zum Haupt­an­satz­punkt für Bemü­hun­gen, Wege aus der Kri­se zu fin­den. Denn mil­li­ar­den­schwe­re Kon­junk­tur­pa­ke­te, Stüt­zun­gen und Garan­tien der Öffent­li­chen Hand nahe­zu bedin­gungs­los über die bestehen­de kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­struk­tur aus­zu­schüt­ten, die die­se Kri­se her­vor­ge­bracht hat, läuft nur dar­auf hin­aus, der nächs­ten Kri­se Vor­schub zu leisten.


Über­schüs­se sind unver­zicht­bar, aber ihre auto­ma­ti­sche Ver­tei­lung zum Kapi­tal ist es nicht. Es genügt aber nicht, bloß Umver­tei­lung und die­se nur durch Steu­ern (Sekun­där­ver­tei­lung) oder Trans­fer­leis­tun­gen (Ter­tiär­ver­tei­lung) bewerk­stel­li­gen zu wol­len. Die­se von reprä­sen­ta­tiv-demo­kra­ti­schen Kör­per­schaf­ten zu beschlie­ßen­den Maß­nah­men kön­nen auf Dau­er die „auto­ma­ti­sche“ Umver­tei­lung von der Arbeit zum Kapi­tal durch die anti­de­mo­kra­ti­sche kapi­ta­lis­ti­sche Eigen­tums­ord­nung nicht kor­ri­gie­ren. Dafür bedarf es Ein­grif­fe in die Pri­mär­ver­tei­lung, also in die Ver­tei­lung des gesell­schaft­li­chen Mehr­pro­dukts dort, wo es ent­steht: im demo­kra­tie­lo­sen Bereich der Arbeits­welt. Es geht damit auch um die Ver­wirk­li­chung eines ande­ren Arbeits­be­griffs, der auf einem Bewusst­sein der Men­schen von ihrer gesell­schaft­li­chen Ver­bun­den­heit beruht, von den Ele­men­ten der Soli­da­ri­tät sowie des Schöp­fe­ri­schen und Iden­ti­täts­stif­ten­den geprägt und die Grund­la­ge eines „guten Lebens für alle“ ist.


Gesell­schaft­li­ches Eigen­tum an Grund und Boden, Fabrik und Büro ist Vor­aus­set­zung und Aus­druck die­ses Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zes­ses. Es ent­steht, wenn demo­kra­tisch legi­ti­mier­te Öffent­li­che Hän­de die in ihrem Ein­fluss­be­reich befind­li­chen Betrie­be und Unter­neh­men gemein­sam mit demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten Vertreter/​inne/​n der Beschäf­tig­ten und der Verbraucher/​innen, „also der­je­ni­gen Grup­pen, für die der Betrieb da sein soll“, ver­wal­ten. Das soll zur „wirt­schaft­li­chen Selbst­ver­wal­tung des gan­zen Vol­kes“ füh­ren, wie es der Theo­re­ti­ker des Aus­tromar­xis­mus Otto Bau­er in sei­nen Sozia­li­sie­rungs­kon­zep­ten formulierte.


Gesell­schaft­li­ches Eigen­tum mani­fes­tiert sich in der Bestel­lung von Auf­sichts- und Lei­tungs­or­ga­nen durch die Tria­de Öffent­li­che Hand, Beschäf­tig­te und Verbraucher/​innen, in der demo­kra­ti­schen Ver­tei­lung des inner­be­trieb­li­chen Über­schus­ses auf die ein­zel­nen Ein­kom­mens­ar­ten nach gesetz­lich fest­ge­leg­ten sta­tu­ta­ri­schen Prin­zi­pi­en bezie­hungs­wei­se des außer­be­trieb­lich zu ver­tei­len­den Über­schus­ses nach gesetz­lich fest­ge­leg­ten Zweck­bin­dun­gen. Die­se Struk­tur­merk­ma­le sol­len der Beein­träch­ti­gung der Gesamt­ge­sell­schaft durch die Schwä­chung ihrer gesell­schaft­li­chen Mehr­heit vor­beu­gen sowie einem bedarfs­de­ckungs­ori­en­tier­ten, gebrauchs­wert­ge­lei­te­ten und selbst­kos­ten­ba­sier­ten Wirt­schaf­ten Vor­schub leisten.


In der Neu­zeit rei­chen Bemü­hun­gen um gesell­schaft­li­ches Eigen­tum bei­spiels­wei­se von den Dig­gers und der New Model Army im Eng­land der Mit­te des 17. Jahr­hun­derts über die Pari­ser Kom­mu­ne vom Früh­jahr 1871 und die Land­be­set­zun­gen in Mexi­ko Anfang des 20. Jahr­hun­derts bis zu den Arbei­ter­rä­ten in Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa sowie den Gemein­wirt­schaft­li­chen Anstal­ten in Öster­reich nach dem Ers­ten Welt­krieg. Sie setz­ten sich nach dem Zusam­men­bruch des Faschis­mus in der jugo­sla­wi­schen Arbei­ter­selbst­ver­wal­tung, den eng­li­schen Arbei­ter­ko­ope­ra­ti­ven und den besetz­ten Betrie­ben Frank­reichs fort und leben gegen­wär­tig wei­ter in den viel­fäl­ti­gen Mus­tern der Soli­dar­öko­no­mie in Argen­ti­ni­en, Bra­si­li­en und ande­ren latein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern sowie wie im Genos­sen­schafts­netz­werk Mond­ra­gon im spa­ni­schen Bas­ken­land. Die­se Bemü­hun­gen waren und sind nicht frei von Irr­tü­mern und Feh­lern der Bemü­hen­den und sie unter­la­gen bezie­hungs­wei­se unter­lie­gen oft den Anfein­dun­gen des Kapi­tals. Doch bele­gen die­se Anfein­dun­gen die grund­sätz­li­che Rich­tig­keit die­ser Stoßrichtung.


Die Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft eröff­net nicht zwangs­läu­fig das Para­dies. Kon­flik­te wer­den nicht ver­schwin­den, aber für ihre Lösung bie­ten sich ande­re Vor­gän­ge an als das Aus­spie­len öko­no­mi­scher Gewalt. Sie gewähr­leis­ten jeden­falls die Bedin­gung der Mög­lich­keit, nicht mehr län­ger eine Sup­pe aus­löf­feln zu müs­sen, die uns ande­re ein­bro­cken, son­dern, gesell­schaft­lich orga­ni­siert, unse­re Sup­pe soli­da­risch selbst zu kochen.


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