16.3.: Präsentation „Mythen der Krise“ (Hauptbücherei Wien)
Präsentation des neuen BEIGEWUM/Attac-Buchs „Mythen der Krise“ am Di, 16.3. 2010 um 19h in der Städtischen Bücherei Wien am Urban Loritz Platz mit Karin Küblböck, Markus Marterbauer und Georg Feigl: „Alle Gürtel enger schnallen, sonst droht der Staatsbankrott und andere Mythen der Krise“
Mythen-umrankte Bankensteuer
Die in Österreich geplante Bankensteuer macht Schlagzeilen, und Bundeskanzler Faymann macht so viel PR-Wind darum, dass man fürchten muss, er werde im Abtausch für diese geringfügige Maßnahme überproportional große Zugeständnisse an den Koalitionspartner bei der Verteilung der weiteren Budgetkonsolidierungs-Belastungen machen. Um das vorzubereiten, schlagen die Betroffenen und ihre Verbündeten jedenfalls mal mächtig Alarm – nicht immer mit sehr überzeugenden Argumenten. Eine kleine Auswahl:
„Abwanderung der Konzernzentralen nach Osteuropa als Folge der Einführung der Bankensteuer“: Da kann man nur sagen: Viel Spaß, wenn die nächste Finanzkrise kommt! Werden die Banken in ihren neuen Standorten in osteuropäischen Staaten dann genauso großzügig mit steuerfinanzierten Bankenpaketen gerettet werden wie vom österreichischen Staat im Herbst 2008? Angesichts der Minimal- bis Null-Pakete in den östlichen Nachbarstaaten in der jetzigen Krise und den düsteren wirtschaftlichen und budgetären Aussichten in den betroffenen Ländern kaum vorstellbar.
„Im Gegensatz zu den US-Banken sind österreichische Banken unschuldige Opfer der Krise“: Zwar ist der Anteil des spekulativen Eigenhandels in österreichischen Banken relativ klein. Doch die österreichischen Banken haben als Kundschaft durchaus versucht, an den Ertragsversprechen spekulativer Geschäfte in den USA und anderswo mitzunaschen. Und auch das vielbeschworene konservative Geschäftsmodell ist durch Überdehnung zu einem volkswirtschaftlichen Risiko geworden. Das österreichische Bankenpaket zählt mit rund 30% des BIP zu den größten in der EU – warum bloß? Weil die österreichischen Banken in den letzten Jahren aggressiv expandiert haben, vor allem im jetzt wackelnden Osteuropa. Mehr dazu im neuen BEIGEWUM-Buch „Mythen der Krise“.
„Die Steuer wird ohnehin an die Kundschaft weitergegeben“: Wenn Brancheninsider das als gesichertes Wissen vor sich hertragen, ist das ein Hinweis auf mangelnden Wettbewerb im Bankensektor, ja auf ein Fortbestehen verbotener informeller Preisabsprachen. Ein deutlicher Aufruf zum Einschreiten der Wettbewerbsbehörde. Und selbst wenn es zu einer Überwälzung kommt, ist immer noch die Frage, in welcher Form: Eine allgemeine Erhöhung von Gebühren für Basisdienstleistungen wie Kontoführung wirkt unter Verteilungsgesichtspunkten eher regressiv, eine Senkung der Sparzinsen eher proportional, eine Erhöhung spezieller Transaktionsgebühren vielleicht sogar progressiv.
Solidarisches Europa?
Das Projekt Europa war nie in erster Linie ein soziales Projekt, und es ist kein Projekt, dass die Konzeption der standartorientierten Wettbewerbsstaaten in Frage gestellt hätte. Zaghafte Ansätze mögen vorhanden gewesen sein, im Wesentlich versuchen die Staaten aber nach wie vor, ihre Volkswirtschaft zu Lasten anderer Staaten besserzustellen. Aktuell lässt sich das Resultat an mindestens zwei Beispielen sehen.
Steueroasen
Steuerbetrug ist Diebstahl am öffentlichen Eigentum. Die Wahrung eines strikten Bankgeheimnisses ist die Beihilfe zu diesem Diebstahl. So versuchen Staaten wie die Schweiz und Liechtenstein, aber eben auch Österreich sich zu Lasten anderer Staaten zu bereichern, indem durch ein rigoroses Bankgeheimnis verhindert wird, dass die umliegenden Staaten die ihnen zustehenden Steuern eintreiben können. Dagegen wehrt sich Deutschland nun mit dem Aufkauf der ominösen Steuerdaten-CD aus der Schweiz. Und die Schweiz keilt zurück, wobei die Steuerflucht auch gerne mal als „Notwehr“ vor den hohen Steuern genannt wird. Dabei wird – wie immer bei solchen Debatten – außer Acht gelassen, dass die Spitzenverdiener nur deswegen so viel verdienen, weil es in Europa eine entsprechende Infrastruktur an Bildung, Straßen, Schienen, (Rechts-)Sicherheit usw. gibt, die eben steuerfinanziert werden. Es ist eben meistens nicht – oder nicht nur – die „eigene Leistung“, die den Erfolg bringt. Daneben sorgt diese „Notwehr“ dafür, dass soziale Leistungen nicht oder nur vermindert erbracht werden.
Ökonomische Ungleichgewichte
Deutschland hat zwar in der Frage des Steuerbetrugs recht, aber auch die Bundesrepublik verhält sich keineswegs so, wie es ein solidarisches Europa erfordern würde. Seit Jahren werden die Lohnkosten gedrückt und die Binnennachfrage stranguliert, um als „Exportweltmeister“ andere Länder zu zwingen, sich in Deutschland zu verschulden. Das geht einerseits gegen die Bevölkerung in Deutschland; die Verteilung wird immer ungleicher. Andererseits ist dies aber auch ein Angriff auf andere Staaten, da diese sich entweder bei Deutschland verschulden oder selbst eine Dumpingpolitik betreiben müssen. Eine nachhaltige Entwicklung in Europa sieht anders aus. Griechenland gehört mit Sicherheit zu den Ländern, das – neben der eigenen Fehler – unter dem „Exportweltmeister“ leidet. Solche Ungleichgewichte – noch dazu in einem einheitlichen Währungsraum – sind auf Dauer fatal.
Was Europa wirklich braucht sind weder Steueroasen noch Lohndumping, weder Steuerwettbewerb noch sinnlose Deregulierungen. Europa muss ein Europa für die Menschen werden – mit sozialen Mindeststandards, die kontinuierlich ausgebaut werden, mit einer stärkeren Besteuerung der Kapitaleinkünfte, mit starken Regulierungen und mit dem Ziel eines sozialen und nachhaltigen Wirtschaftens. Dazu allerdings müssen die nationalen Egoismen, die der Mehrheit der BürgerInnen sowieso nur schaden, aufgegeben werden.
„Bologna“ – und weiter?
von Klemens Himpele und Oliver Prausmüller. Ist im Debattenforum der Zeitschrift Kurswechsel erschienen: Ausgabe 1/2010, S. 113–117.
Als der heute heftig diskutierte „Bologna-Prozess“ Ende der 1990er-Jahre entstand, konnte in Europa bereits auf zwei Jahrzehnte Reformologie für die „standortgerechte Dienstleistungshochschule“ zurückgeblickt werden. Die hochschulpolitische Debatte war in vielen Ländern – wenn auch in unterschiedlichen Tempi – in eine ähnliche Richtung verlaufen: Eine stärker „marktorientierte Umgebung“ und klamme öffentlichen Finanzen würden mehr Wettbewerbsorientierung an den Hochschulen erfordern; dafür sei mithin ein „gestärkter Führungskern“ notwendig, der mit genügend „Autorität“ für die Implementierung des „New Public Management“ ausgestattet ist; es brauche eine „Diversifizierung“ der Finanzierungsbasis; die Hochschulen müssten mehr „vermarktbare Dienstleistungen“ liefern etc. (vgl. Bultmann 1996; Österreichische HochschülerInnenschaft/Paulo Freire Zentrum 2005; Zeuner 2007; EURYDICE 2000; Maassen/Olsen 2007). Der seinerzeit vornehmlich nationalstaatliche Bezugsrahmen der Hochschulpolitik soll nicht über die europäischen Dimensionen der Neoliberalisierungs-Dynamiken hinwegtäuschen, in die der Aufstieg der „standortgerechten Dienstleistungshochschule“ in einem erweiterten Sinne eingebettet ist (vgl. Bieling 2004). Nur basiert dieser zu gewichtigen Teilen auf Politiken, die ohne Bezüge auf einen europäischen Hochschulraum Wirkmächtigkeit entfaltet haben.
Angesichts der im Zuge der Studierendenproteste aufgeflammten Debatten stellt sich nun die Frage, wie die formalisierte, wenn auch rechtlich nicht bindende Europäisierung des Hochschulraums den unternehmerischen Umbau der Hochschulen (weiter) beeinflusst hat. Klar ist einerseits, dass „Bologna“ Strukturen schafft, die einen europäischen Bildungsmarkt erst ermöglichen. Zudem können ungeliebte Reformen durchgesetzt werden, indem nationalstaatlich auf den vermeintlichen Sachzwang „Bologna“ verwiesen wird. Damit kann der Prozess von den Akteuren durchaus implizit als Instrument zur Umstrukturierung des Hochschulsystems angelegt worden sein (vgl. Martens et al. 2006). Andererseits ist auch immer wieder auf die Potenziale des Bologna-Prozesses zu verweisen, etwa im Bereich der sozialen Öffnung. Es stellt sich mithin heute die Frage, ob „Bologna“ „an sich“ ein Teil des Problems ist, oder ob die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die eine bestimmte Tendenz des Bologna-Prozesses in den Vordergrund rücken lassen, das Problem sind.
Andreas Keller (2003) kommt zu der Einschätzung, dass der Bologna-Prozess eine neoliberale Umstrukturierung des europäischen Hochschulwesens begünstigen kann, ebenso wie er in der Lage ist, emanzipatorische hochschulpolitische Entwicklungen in Gang zu setzen. Keller macht damit deutlich, dass der Bologna-Prozess von Beginn an umkämpft war. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass in den Bologna-Dokumenten einerseits positiv auf die Lissabon-Strategie Bezug genommen wird. Diese steht unter dem Ziel, die EU bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Entlang dieser Logik braucht es inbesondere eine Optimierung der Humankapitalproduktion: „Die Studierenden sollten für den Arbeitsmarkt möglichst effizient und kostengünstig ‚beschäftigungsfähig‘ gemacht werden“ (Hirsch 2008, S. 23). Dieser Verengung des Bildungsbegriffs entspricht die Überlagerung der Studienreformdebatten durch Studienzeitverkürzungen, einer Engführung der Praxisorientierung – und gipfelt im Unwort der „Employability“. Auf der anderen Seite betonen die Dokumente der Bologna-Folgekonferenzen die Bedeutung der sozialen Dimension und die öffentliche Verantwortung für das Bildungssystem. Ferner sind die Erhöhung der Mobilität, das Durchbrechen der Versäulung zwischen akademischer und dualer Ausbildung und die Öffnung der Hochschulen für Menschen ohne traditionelle Hochschulzugangsberechtigung als positive Ziele zu benennen (vgl. Banscherus et al. 2009). Diese sind in der praktischen Ausgestaltung jedoch kaum zum Zug gekommen. Ob sich das durch die europaweiten Proteste ändert, ist derzeit offen.
Die Ambivalenz des Bologna-Prozesses lässt sich auch in der Auseinandersetzung progressiver Kräfte erkennen. Torsten Bultmann (2007) identifiziert hier zwei zentrale Positionierungen: Erstens diene der Prozess der Kommodifizierung wissenschaftlicher Bildung und stelle somit „lediglich eine Eins-zu-Eins Umsetzung neoliberaler Konzepte dar“ (S. 148). Maßgebend sei dabei ein Qualifikationsbegriff, demzufolge das „Eintrainieren eines instrumentell abrufbaren arbeitsmarktrelevanten ‚Wissens‘ Vorrang hat vor der Aneignung einer selbstständigen wissenschaftlichen Urteilsfähigkeit“ (ebd.). In diese Richtung weisen etwa die Kritiken an der zentralen Stellung von Employability-Konzepten in dem Reformprozess. Zweitens sei dieser vor allem mit verkappter Sparpolitik assoziiert, die in Verbindung mit einem „konservativen Roll-back der Massenuniversität“ (ebd.) steht. Die Etablierung des sechssemestrigen Bachelors sei entlang dieser Position gleichsam wegbereitend dafür, den Zugang zum bisherigen „Regelabschluss“ selektiver zu gestalten bzw. stärker zu konditionalisieren. Bultmann weist zwar darauf hin, dass für diese Schlussfolgerungen zweifelsfrei Anhaltspunkte bestehen. Ebenso lassen sich gut organisierte Interessen identifizieren, denen diese Motive zugeordnet werden können. Sein Einwand läuft jedoch grundsätzlich darauf hinaus, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Bologna-Prozess nicht in einem „bloß entlarvenden Hinweis“ auf die neoliberalen Motive zentraler Akteure des Prozesses erschöpfen kann. Damit bliebe gerade auch eine Politisierung der Widersprüche und Spannungsfelder, die im Bologna-Prozess angelegt sind, aus.
Entlang dieses Einwands müssen die Spannungsfelder, die im Bologna-Prozess präsent sind, stärker kenntlich gemacht werden. Diesen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, könnte gleichsam eine Möglichkeit darstellen, die durch die Studierendenproteste geschaffenen politischen Interventionsmöglichkeiten auch in diesem Zusammenhang zu nutzen.
- Wird der Bologna-Prozess vor dem Hintergrund der Bestrebungen perspektiviert, einen globalen Bildungsmarkt zu konstituieren (vgl. Hartmann 2004, Anthofer 2005), birgt das in den Dokumenten enthaltende Bekenntnis zu Hochschulbildung als einem „öffentlichen Gut“ einen Ansatzpunkt, eine alternative „Verlaufsform“ der Europäisierung einzufordern. Was mit diesem (Lippen?-)Bekenntnis geschieht, gewinnt u.a. angesichts der forcierten Strategie an Bedeutung, den Wunsch höherer Bildungsausgaben über die verstärkte Erschließung privater Finanzierungsquellen zu erreichen. Hier setzt beispielsweise die deutsche Bildungsgewerkschaft GEW an, indem sie die Unterzeichnerstaaten der Bologna-Erklärung dazu auffordert, die Realisierung des im Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verbürgten Rechts auf Bildung im gesamten europäischen Hochschulraum zu realisieren. Dies soll auch dadurch erfolgen, dass „der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss“ (Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe c UN Sozialpakt). Die Verknüpfung des Bekenntnisses zu Bildung als einem öffentlichen Gut mit den Forderungen des UN-Sozialpakts könnte demnach als Ansatzpunkt genutzt werden, die Debatte über den Bildungsbegriff und über die soziale Durchlässigkeit von Bildungssystemen neu zu entfachen. Dazu gehört beispielsweise auch ein gebührenfreier europäischer Hochschulraum.
- In den Bologna-Dokumenten wird wiederholt die soziale Dimension betont, ohne dass dies bisher nachhaltige Änderungen nach sich gezogen hätte. Die Frage der Aufnahme eines Studiums ist stark mit dem familiären Hintergrund korreliert. Noch immer studieren deutlich mehr Kinder aus sogenannten bildungsnahen Elternhäusern. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. So werden Kinder durch diese Eltern in der Regel stärker gefördert, es sind größere Ressourcen vorhanden, das Verständnis für eine Bildungskarriere ist größer und die Selbstverständlichkeit, bestimmte Bildungswege bis hin zu einem Studienabschluss zu beschreiten, vorhanden. Kinder, deren Eltern selbst nicht studiert haben, müssen sich oft erst gegen diese durchsetzen und haben oft eine unsichere Einschätzung von einem Studium und scheuen die Kosten eines Studiums eher. Gerade hier hätte die neue Stufung der Studiengänge ansetzen können, indem der Bachelor genutzt wird, ein zugänglicheres Studium auch für Menschen anzubieten, die bisher vor einem langen Magisterstudium zurückgeschreckt sind. Die Entscheidung für ein Studium könnte erleichtert werden, wenn man bei der Konzeption der Studiengänge eben diese bildungsfernen Schichten mitdenkt und auch bereit ist, den elitären Habitus der Hochschulen zu durchbrechen. Geschehen ist das Gegenteil: Die Studiengänge werden immer weiter geschlossen. Auch die Frage des Übergangs zum Master fällt unter das Stichwort „Soziale Dimension“: Anstatt zu versuchen, das Dogma der Studienzeitverkürzung umzusetzen, indem man Zugänge zum Master beschränkt, ist das Studium auch an dieser Hürde zu öffnen, um allen, die wollen, einen Zugang zum Master zu ermöglichen.
- Der Bologna-Prozess muss dazu genutzt werden, einen sinnvollen Praxisbegriff zu entwickeln. Nicht die Engführung auf „Employability“, sondern die Frage der gesellschaftlichen Relevanz ist hier in den Mittelpunkt zu stellen. Gerade kritische Kräfte sollten die Debatte um den Praxisbegriff offensiv führen. Dafür braucht es mithin mehr als das Wegschieben der „Praxisfrage“ in Richtung Fachhochschulen.
- Die Versäulung zwischen akademischer und handwerklicher Ausbildung ist aufzubrechen. Der Bologna-Prozess stellt hier durchaus Instrumente bereit, wenn die konsekutive Struktur zur Öffnung der Hochschulen etwa für Menschen mit Berufserfahrung genutzt wird. Dies erfordert jedoch Veränderungen in der Arbeitswelt und an den Hochschulen. So sind kulturelle Hürden zu überwinden und die Hochschulen tatsächlich für beruflich Qualifizierte zu öffnen. Zudem ist der Praxisorientierung der Wissenschaft eine Verwissenschaftlichung der Praxis zur Seite zu stellen (vgl. Banscherus et al. 2009).
Die Studierendenproteste waren insofern erfolgreich, als sie bestimmte Themen auf die politische Tagesordnung gesetzt und den öffentlichen Diskurs verschoben haben. Bisher galt das Leitbild der neoliberalen Strukturreform: Hochschulen sollten zu standortgerechten Dienstleistungsunternehmen umgebaut werden, die im Wettbewerb um die Studierenden als zahlende KundInnen werben und diesen mit einem Ausbildungszertifikat die Beschäftigungsfähigkeit attestieren. Bildung wird hier weiterführend als Ware verstanden, das Studium mit einer Investition in das eigene Humankapital verbunden (und nicht etwa mit dem Ziel eines Erkenntnisgewinns). In dieser Richtung kann auch der Bologna-Prozess interpretiert werden: Denn wird „der Bildungs- und Wissenschaftsmarkt, auf dem die Hochschulen in einen Wettbewerb um Nachfrager treten, europaweit konstituiert, bedarf es einer europaweiten Kompatibilität und Übertragbarkeit. Zentrales Instrumentarium für die Herstellung der Übertragbarkeit von Studienleistungen ist ein einheitliches Leistungspunktsystem – gleichsam die gemeinsame ‚Währung´ im europäischen Studienraum, die Studienleistungen messbar und vergleichbar macht. Die europaweit einheitliche Messbarkeit von Studienleistungen bzw. den ihnen zugrunde liegenden Studiendienstleistungen könnte in einem weiteren Schritt zur Voraussetzung für eine international vergleichbare Berechnung von durch die Studierenden zu bezahlenden Gebühren oder für ein europaweit geltendes Bildungsgutscheinsystem werden“ (Keller 2003, S. 44).
Nicht nur im europäischen, sondern auch im nationalen Kontext wurde der Bologna-Prozess oft neoliberal interpretiert: Marktkonforme Disziplinierung der Studierenden in einem stark verschulten „Ausbildungsbetrieb“, Bildung als Investition in die „Ich-AG“, Employability als Ziel und das Einziehen einer weiteren selektiven Hierarchieebene beim Übergang vom Bachelor zum Master. Zudem verbinden nationale Akteure mit Europäisierung vor allem die Möglichkeit des Spiels über Bande: Unpopuläre Änderungen und eigenes Versagen bei Studienreformen und der Finanzierung der Hochschulen können auf „Europa“ gebucht und so der eigenen Verantwortung entledigt werden.
Die Studierendenproteste haben den Fokus jedoch auf die Potentiale des Prozesses gelegt, da sie in ein erhebliches inhaltliches Vakuum gestoßen sind. Im März soll die Vollendung des europäischen Hochschulraums gefeiert werden, bisweilen steht in den offiziellen Vorbereitungen eines „Follow-up für die nächste Dekade“ Selbstbeweihräucherung im Vordergrund*. Viele Akteure sind irritiert bis ratlos, was die Chancen gezielter Interventionen erhöht. In vielen Fällen können derzeit eher Fragen formuliert als Antworten gegeben werden. Die Debatte über eine neue Architektur des europäischen Hochschulraums könnte jedoch umso mehr dazu beitragen, neue Handlungsspielräume für kritisches Studieren, Lehren und Forschen zu erschließen.
* vgl. Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung; zur „Gegen-Mobilisierung“ siehe Bolgnaburns.
Literatur:
- Anthofer, Helmut (2005): GATS und die Liberalisierung von Bildungsdienstleistungen. Eine Bestandsaufnahme, Wien, PDF [2,8 MB].
- Banscherus, Ulf / Gulbins, Annerose / Himpele, Klemens / Staack, Sonja (2009): Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland. Eine Expertise im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung, Frankfurt/M., PDF [800 KB].
- Bieling, Hans-Jürgen (2004): Europäische Integration: Determinanten und Handlungsmöglichkeiten, in: Beerhorst, Joachim/et al. (Hg.): Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt/M., 94–127.
- Bultmann, Torsten (1996): Die standortgerechte Dienstleistungshochschule, in: PROKLA, 26/104, 329–355, PDF [3,7 MB].
- Bultmann, Torsten (2007): Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf – Widersprüche und Konfliktlinien des Bolognaprozesses und der Reorganisation der Hochschulen. In: Brüchert, Oliver/et al. (Hg.): Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschulen, Marburg, 147–154.
- EURYDICE (2000): Two Decades of Reform in Higher Education in Europe: 1980 onwards, Brüssel, PDF [3 MB].
- Hartmann, Eva (2004): Der globale Bildungsmarkt. Hegemoniekämpfe um Qualitätsstandards und Anerkennung von Abschlüssen, in: PROKLA, 34/137, 565–585, PDF [3,8 MB].
- Hirsch, Nele (2008): „Bologna-Prozess“ und der Kampf an den Hochschulen, in: Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 19/74, 22 ‑27, Online hier.
- Keller, Andreas (2003): Chancen und Risiken des Bologna-Prozess, in: Forum Wissenschaft 3/2003, 43–45, Online hier.
- Martens, Kerstin/Wolf, Dieter (2006): Paradoxien der neuen Staatsräson. Die Internationalisierung der Bildungspolitik in der EU und der OECD, in: Zeitschrift für internationale Beziehungen, 13/2, 145–176, PDF [400 KB]
- Maassen, Peter/Olsen, Johan P. (2007): University Dynamics and European Integration, Dordrecht.
- Österreichische HochschülerInnenschaft, Paulo Freire Zentrum (Hg., 2005): Ökonomisierung der Bildung. Tendenzen, Strategien, Alternativen, Wien, PDF [700 KB].
- Zeuner, Bodo (2007): Die Freie Universität Berlin vor dem Börsengang. Bemerkungen zur Ökonomisierung der Wissenschaft. Abschiedvorlesung, [PDF 350 KB].
Links zuletzt geprüft am 8. Februar 2010