Die Bildungslücken des Herrn Sarrazin und Co. – BEIGEWUM

Die Bildungslücken des Herrn Sarrazin und Co.

am 17. September 2010 um 16:31h

Die Aus­sa­gen von Thi­lo Sar­ra­zin („Deutsch­land schafft sich ab“) sor­gen für öffent­li­che Auf­re­gung. An ihrem Ori­gi­na­li­täts­wert kann es nicht lie­gen: Offe­ner Ras­sis­mus ist in der poli­ti­schen Debat­te im deutsch­spra­chi­gen Raum eine fixe Grö­ße, wobei Mus­li­me in den letz­ten Jah­ren zum Haupt­ob­jekt ent­spre­chen­der Dis­kur­se gewor­den sind.

Ein wich­ti­ger Grund für die öffent­li­che Auf­merk­sam­keit ist wohl die Tat­sa­che, dass es dies­mal ein Bil­dungs­bür­ger ist, der noch dazu ein hohes Amt besetzt, der zur Ver­tei­di­gung des Abend­lan­des auf­ruft. Ein ande­rer ist die Magie der Zahl: Sar­ra­zin argu­men­tiert mit viel Zah­len­ma­te­ri­al, beruft sich auf wis­sen­schaft­li­che Argu­men­te und die der­zeit als Uni­ver­sal­erklä­rung äußerst popu­lä­re Gene­tik, um sei­ner Pole­mik den Anstrich sach­li­cher Fun­die­rung zu geben. Doch was ist dran an dem Argu­ment, dass Dum­me eben auch dum­me Kin­der krie­gen und Klu­ge eben Kluge?


Behaup­tet wird damit die Ver­er­bung von Intel­li­genz. Zunächst: Was ist Intel­li­genz in unse­rer von den Natur­wis­sen­schaf­ten domi­nier­ten Welt? Intel­li­genz ist das Ergeb­nis eines Intel­li­genz­test. Des­sen Ergeb­nis­se lie­gen Ant­wor­ten auf Fra­gen zugrun­de, die von Exper­tIn­nen gestellt wer­den, die sich damit aus­ken­nen, wel­che Ant­wor­ten auf wel­che Fra­gen zu hohen Ergeb­nis­sen füh­ren und wel­che zu nied­ri­gen. Intel­li­genz ist das was die Exper­tIn­nen­schicht einer bestimm­ten Gesell­schaft zu einem bestimm­ten Zeit­punkt als sol­che fest­legt. Fra­gen zur Ver­er­bung wer­den allein schon dadurch rela­ti­viert, weil heu­te unklar ist, was in Zukunft als intel­li­gent gilt und was nicht.

Sar­ra­zin ver­legt sich bei der Mes­sung von Intel­li­genz auf den Bil­dungs­er­folg. Das Sub­strat der oft­mals trans­por­tier­ten The­se: Es liegt nicht am Umfeld, nicht an Dis­kri­mi­nie­rung und auch nicht an feh­len­der För­de­rung, dass bestimm­te Grup­pen kei­ne oder weni­ger Bil­dung haben, son­dern schlicht­weg an deren durch Ver­er­bung wei­ter­ge­ge­be­ner Intelligenz.

Doch da braucht sich noch nie­mand in wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur ver­tie­fen um fest­zu­stel­len: Komisch, Bil­dungs­ni­veaus ver­schie­de­ner Grup­pen ver­än­dern sich über die Zeit lau­fend, und das selbst, wenn sie auf den Bil­dungs­durch­schnitt der Gesell­schaft nor­ma­li­siert wer­den. Wäre die The­se von der Ver­er­bung zutref­fend, wür­de das bedeu­ten, dass sich wohl der gene­ti­sche Pro­zess ziem­lich rasch – und für ver­schie­de­ne Grup­pen unter­schied­lich – ver­än­dert über die Zeit: Mal gibt es ein, zwei Deka­den, wo beson­ders wenig gebil­de­te Eltern dann offen­bar beson­ders gute Gene wei­ter­ge­ben, die dann zu einem Auf­ho­len unte­rer Bil­dungs­schich­ten führen.
Aber nicht nur die Varia­ti­on über die Zeit ist es, die uns da zu den­ken geben soll­te. Von Land zu Land ist die Bil­dungs­mo­bi­li­tät sehr unter­schied­lich. Wir müs­sen noch gar nicht wis­sen, wor­an das liegt, um fest­zu­stel­len, dass die Gene­tik dafür wohl kaum in Fra­ge kom­men kann.

Die Fra­ge nach der „Ver­er­bung“ von Bil­dung ist sowohl in der Sozio­lo­gie, der Psy­cho­lo­gie als auch der Volks­wirt­schafts­leh­re all­ge­mein in der Lite­ra­tur zur inter­ge­nera­tio­nel­len Wei­ter­ga­be von Ein­kom­men, sozia­lem Sta­tus, Cha­rak­te­ris­ti­ka der Per­sön­lich­keit, Wer­ten, Beru­fen und vie­lem mehr verortet.

Wäh­rend sich die Psy­cho­lo­gie vor allem auf die Wei­ter­ga­be von Wer­ten und Cha­rak­te­ris­ti­ka der Per­sön­lich­keit kon­zen­triert (sie­he bei­spiels­wei­se Heck­man and Car­nei­ro 2003 und Loeh­lin 2005), ste­hen in der Sozio­lo­gie vor allem sozia­ler Sta­tus und Beru­fe, aber auch Wer­te im Mit­tel­punkt (sie­he bei­spiels­wei­se Bour­dieu 1984 und D’Addio 2007).

In der Volks­wirt­schafts­leh­re, angeb­lich Sar­ra­zins Fach­ge­biet, exis­tiert eben­so bereits seit Jahr­zehn­ten Lite­ra­tur zu die­sem The­ma. Gele­sen dürf­te er sie nicht haben. Sie beschäf­tigt sich vor allem mit Ein­kom­men und Bil­dung (bei der es deut­lich weni­ger Mess­pro­ble­me gibt als beim Ein­kom­men). Die meis­ten Main­stream-Publi­ka­tio­nen beru­fen sich auf die theo­re­ti­schen Model­le von Becker und Tomes (1979,1986) für Ein­kom­men, und auf jene von Solon (1999, 2002, 2004) für Bil­dung. Der domi­nie­ren­de Ansatz ist die Mes­sung von soge­nann­ten inter­ge­nera­tio­nel­len Elas­ti­zi­tä­ten, oder ein­fa­cher gesagt simp­len Kor­re­la­tio­nen zwi­schen den Genera­tio­nen. In etwa „Ein Jahr mehr an Eltern­bil­dung geht mit wie viel mehr an Kin­der­bil­dung ein­her?“. Allein in die­sem Ansatz zeigt sich schon die bespro­che­ne star­ke Varia­ti­on über die Zeit und zwi­schen den Län­dern. Hertz et al. 2008 lie­fern ent­spre­chen­de Zah­len zu sehr vie­len Län­dern. Einen brei­ten Lite­ra­tur­über­blick lie­fert etwa Mul­ligan (1999). Der zwei­te Ansatz ver­sucht die kau­sa­len Effek­te der Bil­dung der Eltern auf die Bil­dung der Kin­der zu berech­nen, also für alle ande­ren Mög­lich­kei­ten, die sowohl das eine als auch das ande­re latent beein­flus­sen könn­ten zu kon­trol­lie­ren und steckt noch recht in den Kin­der­schu­hen. Das geschieht ent­we­der recht „natur­wis­sen­schaft­lich“ inspi­riert anhand von Zwil­lings­for­schung oder For­schung mit adop­tier­ten Kin­dern (sie­he Behr­man and Rosen­zweig 2002 und Plug 2004) oder aber anhand der Instru­men­tie­rung mit Schul­re­for­men (sie­he Black et al., 2005).

Zusam­men­fas­send wird etwa in einem OECD Report zum The­ma (OECD 2008) fest­ge­hal­ten, dass inter­ge­nera­tio­nel­le sozia­le Per­sis­tenz (Bil­dung wird auch spe­zi­ell behan­delt) stark mit Ungleich­heit und Armut kor­re­liert ist. Das wei­ters vor allem Ver­mö­gen und Ein­kom­men, das über die Genera­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben wird für die Unter­schie­de (auch in Bezug auf Bil­dung) in der nächs­ten Genera­ti­on ver­ant­wort­lich sind. Bel­zil und Hann­sen 2008 zei­gen, dass rund 68% der Varia­ti­on der Bil­dung auf Unter­schie­de der Eltern­haus­hal­te zurück­zu­füh­ren sind (die in den Daten beob­acht­bar sind). Die Bil­dung der Eltern, die stark mit Ein­kom­men und Ver­mö­gen kor­re­liert, spielt dabei die größ­te Rol­le. Zum sel­ben Schluss kommt auch die OECD (2008).
Der IQ scheint, abge­se­hen davon, dass ohne­hin unklar ist wie es in einem bestimm­ten Alter zu einem bestimm­ten IQ-Squo­re in einem bestimm­ten IQ-Test kommt (könn­te ja etwa auch mit der Bil­dung wach­sen ;-)), rela­tiv wenig bei­zu­tra­gen (sie­he Bow­les und Gin­tis 2001).

Wen die gan­ze The­ma­tik inter­es­siert, dem ist jeden­falls was den volks­wirt­schaft­li­chen Main­stream angeht fol­gen­des zu empfehlen:

Black und Dev­reux (2010): Recent deve­lo­p­ments in Inter­ge­nera­tio­nal Mobility.
ftp://repec.iza.org/RePEc/Discussionpaper/dp4866.pdf

Sum­ma sum­ma­rum: Mit der volks­wirt­schaft­li­chen Kennt­nis­sen von Thi­lo Sar­ra­zin dürf­te es nicht weit her sein. Wie kommt er dann auf sei­ne Mei­nun­gen? Viel­leicht lie­fert der For­schungs­zweig zur inter­ge­nera­tio­nel­len Trans­mis­si­on ras­sis­ti­scher Vor­ur­tei­le eine Ant­wort, doch das ist eine ande­re Geschichte.

Lite­ra­tur:

Bel­zil, C./Hansen, J. (2003): Struc­tu­ral esti­ma­tes of the inter­ge­nera­tio­nal edu­ca­tio­nal cor­re­la­ti­on in: Jour­nal of App­lied Eco­no­metrics Vol. 18 No 5
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1979):An Equi­li­bri­um Theo­ry of the Dis­tri­bu­ti­on of Inco­me and Inter­ge­nera­tio­nal Mobi­li­ty, The Jour­nal of Poli­ti­cal Eco­no­my, Vol. 87, No. 6,p.1153–1189
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1986):Human Capi­tal and the Rise and Fall of Fami­lies, Jour­nal of Labor Eco­no­mics, Vol. 4, No. 3, Part 2: The Fami­ly and the Dis­tri­bu­ti­on of Eco­no­mic Rewards (Jul., 1986), p. S1-S39
Behr­man, J. R./Rosenzweig, M. R. (2002): Does Incre­a­sing Women’s Schoo­ling Rai­se the Schoo­ling of the Next Genera­ti­on? , Ame­ri­can Eco­no­mic Review 92, pp. 323–334
Bow­les, Samuel/​Gintis, Her­bert (2001):The Inheri­tance of Eco­no­mic Sta­tus: Edu­ca­ti­on, Class, and Gene­tics, TWor­king Papers 01–01-005, San­ta Fe Institute
Black, S. E./Devereux, P. J./Salvanes, K. G. (2005): Why the Apple Doesn’t Fall Far: Under­stan­ding Inter­ge­nera­tio­nal Trans­mis­si­on of Human Capi­tal, Ame­ri­can Eco­no­mic Review 95, pp. 437–449
Bour­dieu, P. (1984): Die fei­nen Unter­schie­de STW Frankfurt
Heck­man, J./Carneiro, P. (2003): Human capi­tal poli­cy NBER Working Paper 9495
D’Addio (2007):Intergenerational Trans­mis­si­on of dis­ad­van­ta­ge. mobi­li­ty or immo­bi­li­ty across genera­ti­ons? OECD Social Employ­ment and Migra­ti­on WP No. 52
Hertz, T./Jayasundera, T./Piraino, P./Selcuk, S./Smith, N./Verashchagina, A. (2008): The Inheri­tance of Edu­ca­tio­nal Ine­qua­li­ty: Inter­na­tio­nal Com­pa­ri­sons and Fif­ty-Year Trends, Advan­ces in Eco­no­mic Ana­ly­sis & Poli­cy, Ber­ke­ley Elec­tro­nic Press, vol. 7(2), pages 1775–1775.
Loeh­lin, J.C. (2005): Resem­blan­ce in Per­so­na­li­ty and Atti­tu­des Bet­ween Par­ents and Their Child­ren: Gene­tic and Envi­ron­men­tal Con­tri­bu­ti­ons in: S. Bow­les, et al Prince­ton Uni­ver­si­ty Press.
Mul­ligan, Casey B.(1999):Galton ver­sus the Human Capi­tal Approach to Inheri­tance, The Jour­nal of Poli­ti­cal Eco­no­my, Vol. 107, No. 6, Part 2: Sym­po­si­um on the Eco­no­mic Ana­ly­sis of Social Beha­vi­or in Honor of Gary S. Becker (Dec., 1999), pp. S184-S224
Plug, E. (2004):Estimating the Effect of Mother’s Schoo­ling Using a Sam­ple of Adop­tees, The Ame­ri­can Eco­no­mic Review 94, pp. 358–368
Solon, G. (1999): Inter­ge­nera­tio­nal mobi­li­ty in the labor mar­ket, in Hand­book of Labor Eco­no­mics, ed. by O. Ashen­fel­ter, and D. Card, vol. 3 of Hand­book of Labor Eco­no­mics, chap. 29, pp. 1761–1800. Elsevier
Solon, G. (2002): Cross-coun­try dif­fe­ren­ces in inter­ge­nera­tio­nal inco­me mobi­li­ty in: Jour­nal of Eco­no­mic Per­spec­ti­ves Vol. 16
Solon, G. (2004): A model of inter­ge­nera­tio­nal mobi­li­ty varia­ti­on over time and place in: M. Corak (ed.) Genera­tio­nal Inco­me mobi­li­ty in North Ame­ri­ca and Euro­pe. Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press


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