Die Bildungslücken des Herrn Sarrazin und Co.
Die Aussagen von Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) sorgen für öffentliche Aufregung. An ihrem Originalitätswert kann es nicht liegen: Offener Rassismus ist in der politischen Debatte im deutschsprachigen Raum eine fixe Größe, wobei Muslime in den letzten Jahren zum Hauptobjekt entsprechender Diskurse geworden sind.
Ein wichtiger Grund für die öffentliche Aufmerksamkeit ist wohl die Tatsache, dass es diesmal ein Bildungsbürger ist, der noch dazu ein hohes Amt besetzt, der zur Verteidigung des Abendlandes aufruft. Ein anderer ist die Magie der Zahl: Sarrazin argumentiert mit viel Zahlenmaterial, beruft sich auf wissenschaftliche Argumente und die derzeit als Universalerklärung äußerst populäre Genetik, um seiner Polemik den Anstrich sachlicher Fundierung zu geben. Doch was ist dran an dem Argument, dass Dumme eben auch dumme Kinder kriegen und Kluge eben Kluge?
Behauptet wird damit die Vererbung von Intelligenz. Zunächst: Was ist Intelligenz in unserer von den Naturwissenschaften dominierten Welt? Intelligenz ist das Ergebnis eines Intelligenztest. Dessen Ergebnisse liegen Antworten auf Fragen zugrunde, die von ExpertInnen gestellt werden, die sich damit auskennen, welche Antworten auf welche Fragen zu hohen Ergebnissen führen und welche zu niedrigen. Intelligenz ist das was die ExpertInnenschicht einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als solche festlegt. Fragen zur Vererbung werden allein schon dadurch relativiert, weil heute unklar ist, was in Zukunft als intelligent gilt und was nicht.
Sarrazin verlegt sich bei der Messung von Intelligenz auf den Bildungserfolg. Das Substrat der oftmals transportierten These: Es liegt nicht am Umfeld, nicht an Diskriminierung und auch nicht an fehlender Förderung, dass bestimmte Gruppen keine oder weniger Bildung haben, sondern schlichtweg an deren durch Vererbung weitergegebener Intelligenz.
Doch da braucht sich noch niemand in wissenschaftliche Literatur vertiefen um festzustellen: Komisch, Bildungsniveaus verschiedener Gruppen verändern sich über die Zeit laufend, und das selbst, wenn sie auf den Bildungsdurchschnitt der Gesellschaft normalisiert werden. Wäre die These von der Vererbung zutreffend, würde das bedeuten, dass sich wohl der genetische Prozess ziemlich rasch – und für verschiedene Gruppen unterschiedlich – verändert über die Zeit: Mal gibt es ein, zwei Dekaden, wo besonders wenig gebildete Eltern dann offenbar besonders gute Gene weitergeben, die dann zu einem Aufholen unterer Bildungsschichten führen.
Aber nicht nur die Variation über die Zeit ist es, die uns da zu denken geben sollte. Von Land zu Land ist die Bildungsmobilität sehr unterschiedlich. Wir müssen noch gar nicht wissen, woran das liegt, um festzustellen, dass die Genetik dafür wohl kaum in Frage kommen kann.
Die Frage nach der „Vererbung“ von Bildung ist sowohl in der Soziologie, der Psychologie als auch der Volkswirtschaftslehre allgemein in der Literatur zur intergenerationellen Weitergabe von Einkommen, sozialem Status, Charakteristika der Persönlichkeit, Werten, Berufen und vielem mehr verortet.
Während sich die Psychologie vor allem auf die Weitergabe von Werten und Charakteristika der Persönlichkeit konzentriert (siehe beispielsweise Heckman and Carneiro 2003 und Loehlin 2005), stehen in der Soziologie vor allem sozialer Status und Berufe, aber auch Werte im Mittelpunkt (siehe beispielsweise Bourdieu 1984 und D’Addio 2007).
In der Volkswirtschaftslehre, angeblich Sarrazins Fachgebiet, existiert ebenso bereits seit Jahrzehnten Literatur zu diesem Thema. Gelesen dürfte er sie nicht haben. Sie beschäftigt sich vor allem mit Einkommen und Bildung (bei der es deutlich weniger Messprobleme gibt als beim Einkommen). Die meisten Mainstream-Publikationen berufen sich auf die theoretischen Modelle von Becker und Tomes (1979,1986) für Einkommen, und auf jene von Solon (1999, 2002, 2004) für Bildung. Der dominierende Ansatz ist die Messung von sogenannten intergenerationellen Elastizitäten, oder einfacher gesagt simplen Korrelationen zwischen den Generationen. In etwa „Ein Jahr mehr an Elternbildung geht mit wie viel mehr an Kinderbildung einher?“. Allein in diesem Ansatz zeigt sich schon die besprochene starke Variation über die Zeit und zwischen den Ländern. Hertz et al. 2008 liefern entsprechende Zahlen zu sehr vielen Ländern. Einen breiten Literaturüberblick liefert etwa Mulligan (1999). Der zweite Ansatz versucht die kausalen Effekte der Bildung der Eltern auf die Bildung der Kinder zu berechnen, also für alle anderen Möglichkeiten, die sowohl das eine als auch das andere latent beeinflussen könnten zu kontrollieren und steckt noch recht in den Kinderschuhen. Das geschieht entweder recht „naturwissenschaftlich“ inspiriert anhand von Zwillingsforschung oder Forschung mit adoptierten Kindern (siehe Behrman and Rosenzweig 2002 und Plug 2004) oder aber anhand der Instrumentierung mit Schulreformen (siehe Black et al., 2005).
Zusammenfassend wird etwa in einem OECD Report zum Thema (OECD 2008) festgehalten, dass intergenerationelle soziale Persistenz (Bildung wird auch speziell behandelt) stark mit Ungleichheit und Armut korreliert ist. Das weiters vor allem Vermögen und Einkommen, das über die Generationen weitergegeben wird für die Unterschiede (auch in Bezug auf Bildung) in der nächsten Generation verantwortlich sind. Belzil und Hannsen 2008 zeigen, dass rund 68% der Variation der Bildung auf Unterschiede der Elternhaushalte zurückzuführen sind (die in den Daten beobachtbar sind). Die Bildung der Eltern, die stark mit Einkommen und Vermögen korreliert, spielt dabei die größte Rolle. Zum selben Schluss kommt auch die OECD (2008).
Der IQ scheint, abgesehen davon, dass ohnehin unklar ist wie es in einem bestimmten Alter zu einem bestimmten IQ-Squore in einem bestimmten IQ-Test kommt (könnte ja etwa auch mit der Bildung wachsen ;-)), relativ wenig beizutragen (siehe Bowles und Gintis 2001).
Wen die ganze Thematik interessiert, dem ist jedenfalls was den volkswirtschaftlichen Mainstream angeht folgendes zu empfehlen:
Black und Devreux (2010): Recent developments in Intergenerational Mobility.
ftp://repec.iza.org/RePEc/Discussionpaper/dp4866.pdf
Summa summarum: Mit der volkswirtschaftlichen Kenntnissen von Thilo Sarrazin dürfte es nicht weit her sein. Wie kommt er dann auf seine Meinungen? Vielleicht liefert der Forschungszweig zur intergenerationellen Transmission rassistischer Vorurteile eine Antwort, doch das ist eine andere Geschichte.
Literatur:
Belzil, C./Hansen, J. (2003): Structural estimates of the intergenerational educational correlation in: Journal of Applied Econometrics Vol. 18 No 5
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1979):An Equilibrium Theory of the Distribution of Income and Intergenerational Mobility, The Journal of Political Economy, Vol. 87, No. 6,p.1153–1189
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1986):Human Capital and the Rise and Fall of Families, Journal of Labor Economics, Vol. 4, No. 3, Part 2: The Family and the Distribution of Economic Rewards (Jul., 1986), p. S1-S39
Behrman, J. R./Rosenzweig, M. R. (2002): Does Increasing Women’s Schooling Raise the Schooling of the Next Generation? , American Economic Review 92, pp. 323–334
Bowles, Samuel/Gintis, Herbert (2001):The Inheritance of Economic Status: Education, Class, and Genetics, TWorking Papers 01–01-005, Santa Fe Institute
Black, S. E./Devereux, P. J./Salvanes, K. G. (2005): Why the Apple Doesn’t Fall Far: Understanding Intergenerational Transmission of Human Capital, American Economic Review 95, pp. 437–449
Bourdieu, P. (1984): Die feinen Unterschiede STW Frankfurt
Heckman, J./Carneiro, P. (2003): Human capital policy NBER Working Paper 9495
D’Addio (2007):Intergenerational Transmission of disadvantage. mobility or immobility across generations? OECD Social Employment and Migration WP No. 52
Hertz, T./Jayasundera, T./Piraino, P./Selcuk, S./Smith, N./Verashchagina, A. (2008): The Inheritance of Educational Inequality: International Comparisons and Fifty-Year Trends, Advances in Economic Analysis & Policy, Berkeley Electronic Press, vol. 7(2), pages 1775–1775.
Loehlin, J.C. (2005): Resemblance in Personality and Attitudes Between Parents and Their Children: Genetic and Environmental Contributions in: S. Bowles, et al Princeton University Press.
Mulligan, Casey B.(1999):Galton versus the Human Capital Approach to Inheritance, The Journal of Political Economy, Vol. 107, No. 6, Part 2: Symposium on the Economic Analysis of Social Behavior in Honor of Gary S. Becker (Dec., 1999), pp. S184-S224
Plug, E. (2004):Estimating the Effect of Mother’s Schooling Using a Sample of Adoptees, The American Economic Review 94, pp. 358–368
Solon, G. (1999): Intergenerational mobility in the labor market, in Handbook of Labor Economics, ed. by O. Ashenfelter, and D. Card, vol. 3 of Handbook of Labor Economics, chap. 29, pp. 1761–1800. Elsevier
Solon, G. (2002): Cross-country differences in intergenerational income mobility in: Journal of Economic Perspectives Vol. 16
Solon, G. (2004): A model of intergenerational mobility variation over time and place in: M. Corak (ed.) Generational Income mobility in North America and Europe. Cambridge University Press