Syntagma, Puerta del Sol, Tottenham – Autoritäre Wende und Gespenster des Politischen in Europa
Autoritäres Wirtschaftsrecht
Dieser Umstand lässt sich nicht nur an den Gewaltmitteln ablesen, die in den Städten gegen Menschen zum Einsatz kamen, sondern auch an Maßnahmen auf höherer Maßstabsebene. Zwar schmiedet das europäische Staatsapparate- und Medienensemble an einer alternativen Erzählung, die aufs Neue den Alltagsverstand erobern soll: Die multiple Krise des neoliberalen Kapitalismus wird als eine der Staatsschulden und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit reinterpretiert . Doch für den Fall, dass das reaktualisierte Narrativ nicht greift, ist in den letzten Monaten eine beachtliche Apparatur an Zwangsmaßnahmen im Feld des europäischen Wirtschaftsrechts in Stellung gebracht worden. Mittels der als Rettungsschirm bekannt gewordenen European Financial Stability Facility (EFSF) stellen die europäischen Regierungen jenen Ländern, deren Re-Finanzierungskosten durch Krise und koordinierte Spekulation explodiert sind, Kredite zur Verfügung. Diese sind jedoch an eine „strikte Konditionalität“ gebunden. Nur gegen Umsetzung der mittlerweile allgegenwärtigen Strukturanpassungsprogramme werden die entsprechenden Geldmittel zu Verfügung gestellt. Nicht die gern bemühte europäische Solidarität treibt die Geberländer dazu an. Vielmehr sollen die Kredite garantieren, dass alte Schulden bezahlt werden – bei Banken der europäischen Exportweltmeister und Mitverursachern der Krise (vor allem Deutschland und Österreich). Allein die deutschen Banken halten griechische Staatsanleihen in der Höhe von mehr als 15 Milliarden Euro. Während sich die „aufgeklärte“ Zivilgesellschaft und ihre Intellektuellen noch am Euro-Plus-Pakt abarbeiten, ein Thesenpapier aller europäischen Staats- und Regierungschefs zur Förderung der „europäischen Wettbewerbsfähigkeit“, hat sich im Code der europäischen Rechtsform, ein beachtliches Paket (Economic Governance) zur Verschärfung des neoliberalen Konstitutionalismus zusammengeschnürt. Mit dem als „Sixpack“ bezeichneten Bündel aus fünf Verordnungen und einer Richtlinie möchte die Europäische Kommission im Bündnis mit den Staats- und Regierungschefs erstens den 1997 beschlossen Stabilitäts- und Wachstumspakt radikalisieren, zweitens durch ein Verfahren zur „Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ ergänzen und drittens entsprechende Sanktionen verschärfen beziehungsweise einführen. Darüber hinaus wird die Rolle der Kommission in den entsprechenden Verfahren massiv aufgewertet: In Zukunft soll die Brüsseler Exekutive Entscheidungen, insbesondere auch die Verhängung von Sanktionen, de facto alleine treffen („Reverse Majority Rule“).
Hegemonie und Rechtsform
Dass die europäische Integrationsweise durch den Einbau von autoritären Regierungstechnologien von ihrem hegemonialen Pfad abkommt, lässt sich auch anhand der Art und Weise zeigen, wie die neuen Maßnahmen eingeführt werden sollen. Diese verstößt nämlich gegen zentrale Kategorien der europäischen Rechtsform. Unter bürgerlich demokratischen Betriebstemperaturen werden gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in den Verfahren der Rechtsform in juristische übersetzt und hegemonial eingebunden. Die juridischen Intellektuellen, etwa des Europäischen Gerichtshofs, werden so zu Organisator_innen eines feingliedrigen rechtsförmigen Konsenses, der aufeinandertreffende Interessen in Form von Durchbrüchen und darauf folgende Zugeständnisse in einem langwierigen Prozess zu einem hegemonialen Projekt zusammenfügt. Eine der zentralen Charakteristika der Rechtsform ist daher, dass sie Hegemonie durch die Beachtung von Verfahren herstellt. Genau dies ist bei den „Gesetzen“, mit denen die europäischen Regierungen den neoliberalen Konstitutionalismus verschärfen wollen, nicht der Fall. So verstößt das „Economic Governance Paket“ gegen die europäischen Verträge, da die Kompetenzgrundlage auf welche die Kommission ihre Vorschläge gestützt hat, weder die neuen Sanktionen noch die Reverse Majority Rule vorsehen. Während der Vertrag von Maastricht Anfang der 1990er noch leicht die Mehrheiten für eine Wirtschafts- und Währungsunion erreichen konnte, die er auf die Einhaltung der Grundsätze „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“ (Art. 119 Abs. 3 AEUV) festlegte, ist die neoliberale Hegemonie heute brüchig: Für eine entsprechende Vertragsänderung sind die Mehrheiten nicht gesichert – daher wird sie umgangen.
Gespenster des Politischen
Die Neuzusammensetzung der Praxen zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse hat durch die Dynamik der Krise und die Renaissance der Kämpfe an Geschwindigkeit gewonnen. Der Umstand, dass die autoritäre Wende des neoliberalen Projektes auch auf dem europäischen Terrain und unter Einsatz von rechtsförmigen Attrappen vollzogen wird, fordert die Gespenster des Politischen heraus. Wollen die Bewegungen nicht Gefahr laufen, dass sich nationalistische Kräfte in sie einschreiben und dadurch ihr Einbau in eine autoritäre Wettbewerbsstaatlichkeit erleichtert wird, brauchen sie auch ein transnationales Programm der Transformation. Die drei zentralen Projekte des Neoliberalismus sollten dabei im Fokus stehen: Entdemokratisierung, Um-Verteilung und Konstitutionalisierung eines unbeschränkten Eigentumsrechts. Ein Bruch mit der verfassungsrechtlichen Immunisierung der Politik des absoluten Eigentums hätte die Streichung der Grundsätze (siehe oben) und Zielregime (Maastricht-Kriterien; Indikatoren der Economic Governance) der Wirtschafts- und Währungsunion zur Voraussetzung. Die sogenannten Marktfreiheiten (für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit) müssten von einem System, das ihre Beschränkung verbietet, zu Ansprüchen gegen Diskriminierung umgebaut werden. Die Neuerfindung des Öffentlichen durch eine gesellschaftlich verwaltetete „Infrastruktur des guten Lebens aller“, sollte von allen Blockaden des Wirtschaftsrechts (insbesondere des Vergabe- und Beihilfenrechts) befreit werden. Die durch den Steuerwettbewerb in Europa befeuerte Umverteilung, die etwa dazu geführt hat, dass Unternehmen im Schnitt weniger als 10% Steuern zahlen, gilt es durch einheitliche Steuern für Finanzmärkte (Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe etc), Unternehmen (Körperschaftssteuer) und Vermögen (Kapitalertragsteuer) zu beenden. Allein die Hebung der europäischen Demokratie auf bürgerliches Niveau (eine umfassende europäische Legislative bestimmt eine entsprechende Exekutive und kann eine Änderung „der Verfassung“ beschließen) hätte den Effekt, dass die Konstitution der Menschen zum Wettbewerbs-„Volk als Nation“ („wir Deutsche“) durch nationalstaatliche Politiker_innen erschwert wäre und sich gleichzeitig ein transnationaler Resonanzraum für weitergehende Forderungen der Bewegungen konstituieren würde. Syntagma, Puerta del Sol, Tottenham haben das Politische zurück auf die Plätze und Viertel der Städte gebracht – nach Praxen und Transformationsperspektiven zum Spuk auf europäischer Maßstabsebene muss noch gesucht werden.
Dieser Eintrag ist die leicht geänderte Fassung eines gleichnamigen Beitrages, der in der Nr. 11 des Prager Frühlings erscheint.
Autor_inneninfo: Lukas Oberndorfer arbeitet zu einer kritischen Theorie & Empirie der europäischen Integration und des Europarechts. Er ist Redaktionsmitglied des juridikum (zeitschrift für kritik|recht|gesellschaft) und Kuratoriumsmitglied des Institut Solidarische Moderne.
15.9.: Diskussion „Die Krise der Eurozone“
DIE KRISE DER EUROZONE – Welche progressiven Antworten braucht es?
Podiumsdiskussion
Donnerstag, 15. September 2011, 19.00 Uhr
Ort: C3 – Centrum für Internationale Entwicklung
1090 Wien, Sensengasse 3
Zum Inhalt
Die Krise der Eurozone hat sich in den letzten Wochen erneut zugespitzt.
Nach der Einigung auf das zweite sog. Hilfspaket für Griechenland im Juli
gerieten Spanien, Italien und zuletzt auch Frankreich verstärkt ins Visier
der Finanzmärkte. Mittlerweile fährt die seitens der EU und des
Internationalen Währungsfonds oktroyierte harte Spar- und
Konsolidierungspolitik zu einer markanten Abkühlung des
Wirtschaftswachstums, ein Rückfall in eine neue Rezession ist möglich. Wie
ist die Lage in den EU-Krisenländern, insb. in Griechenland und Spanien,
derzeit einzuschätzen? Welche Vorschläge widerständiger sozialer Kräfte
für eine andere Krisenpolitik gibt es in diesen Ländern, und welche
Chancen auf Verwirklichung haben diese? Wie ist die derzeitige
Krisenpolitik der EU, die zuvorderst auf ausgabenseitige Konsolidierung
setzt, insgesamt einzuschätzen? Welche alternativen Politiken wären nötig,
um die bislang schwerste Krise der europäischen Währungsunion erfolgreich
bekämpfen zu können?
Diesen Fragen soll mit einem Panel von internationalen ÖkonomInnen
nachgegangen werden, die sich aus Anlass der Jahreskonferenz der
EuroMemo-Group eines europäischen Netzwerkes
kritischer ÖkonomInnen, in Wien befinden.
Podiumsdiskussion mit
Marica Frangakis, Nicos Poulantzas Institut, Athen
Miren Etxezarreta, Universidad Autónoma, Barcelona
Dominique Plihon, Université Paris Nord, Paris
Trevor Evans, Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin
Moderation: Werner Raza, ÖFSE
Im Anschluss an die Veranstaltung Erfrischungen.
Die Veranstaltung findet in englischer Sprache statt.
Anmeldung erbeten: Ingrid Pumpler, i.pumpler(at)oefse.at oder Tel: +43/1/317
40 10–100
Eine Veranstaltung von:
Imagewandel für Grasser
Ex-Finanzminister Grassers Lebensfreude ist seit geraumer Zeit beeinträchtigt: Seine Telefonsammlung wird abgehört, seine hilfreiche Kofferträgerei öffentlich verunglimpft, und seine Badefotos müssen auf den Titelblättern mit Negativschlagzeilen konkurrieren. Gibt es denn gar kein Entkommen aus dem Tief?
Vielleicht doch – Vorbilder jenseits der Grenze zeigen vor, wie es gehen könnte: In den USA hat Milliardär Warren Buffet in einem offenen Brief die Regierung aufgefordert, ihn und seinesgleichen höher zu besteuern. Kurz darauf folgten die französischen Millionäre Pierre Berge und Maurice Levy in der gleichen Stoßrichtung für Frankreich. Reiche, die eine höhere Besteuerung fordern – so etwas gab es in Österreich – von einer weitgehend erfolglosen kleinen Initiative der Grünen abgesehen – bislang nicht.
Welch eine ideale Vorlage für den Selbstmarketing-versierten Grasser: Eine Inszenierung als reuiger Sünder, inklusive Seitenblicke-begleiteter kollektiver Pilgerfahrt mit all seinen Bekannten nach Liechtenstein, Rückkehr barfuß über die Grenze, in jeder Hand einen dicken Geldkoffer, dann per Bahn nach Wien und das gleiche noch mal von den hiesigen Banken in Richtung Finanzamt. Dort dann eine Rede, die die Nation und vor allem die Society-Szene bewegt. „Ich bereue, widerrufe und fordere: Überfluss besteuern!“ Ein kirchlicher Würdenträger erteilt die Absolution, Tränen fließen. Vorhang. Der Coup seines Lebens! Das wär doch was!