„Wage moderation“, die lohnpolitische Obsession der EU
Jetzt fehlt gerade noch, dass der ökonomische Mainstream die Lohnpolitik der Gewerkschaf-ten für die Finanzkrise verantwortlich macht! Denn nachdem die mehrheitlich konservativen Staatenlenkerinnen in der Union sich gegenüber dem penetranten Lobbying der Bank- und Hedgefondsmanager à la Ackermann offensichtlich nicht zur Wehr setzten können, wendet sich die EU wieder ihren beiden Lieblingsthemen zu: neben dem Sparen sind das die so ge-nannten Strukturreformen, die Lohnfindungssysteme im Speziellen. Dabei wird zum Schein eine technische Debatte geführt, im Hintergrund geht es jedoch um Interessen und Ideolo-gien, so simple. Aber der Reihe nach.
Mitte September 2011 fand in Brüssel eine ExpertInnen-Konferenz zum Thema „Wage trends in Europe“ statt. Weil das Treffen von der Generaldirektion Beschäftigung veranstaltet wurde, war für Ausgewogenheit auf den Panels und in den Workshops gesorgt: einem Ge-werkschafts-Vertreter folgte einer von der Arbeitgeberseite, einem Redner der Generaldi-rektion Wirtschaft und Finanzen einer von der Beschäftigungsseite, usw. So kamen viele in-teressante Argumente zu Wort, nur miteinander geredet und diskutiert wurde nicht. Das ist aber nicht weiter von Bedeutung, denn was wirtschaftspolitisch Sache ist in der EU, das be-stimmen ohnehin noch immer die FinanzministerInnen!
Im Kern ging es um zwei Fragen: (1) In welchem Zusammenhang steht die Entwicklung von Löhnen und Gehältern mit der Wettbewerbsfähigkeit? Seit M. Porter wissen wir, dass diese von vielen Faktoren wie den örtlichen Standortbedingungen (Infrastruktur, Ausbildungs- und Technologiestandards, Fleiß und Präzision der MitarbeiterInnen), den Nachfrageverhältnis-sen und der Wettbewerbsintensität am Heimmarkt, etc. abhängt; die Lohnhöhe ist dabei nur eine Größe unter vielen! Dennoch schielt die EU-KOM in ihren wirtschaftspolitischen Emp-fehlungen, aber auch beim so genannten Scoreboard im Rahmen des neuen „Excessive Im-balance Procedure“ beinahe ausschließlich auf die Arbeitskosten. Dabei sind die Zusam-menhänge zwischen der Entwicklung von Löhnen, Preisen, Produktivität, Realzinsen und dem Wachstum von Exporten, Inlandsnachfrage, BIP und Beschäftigung wie so oft in der Ökonomie alles andere als klar – das zeigt auch ein Blick auf die tatsächliche Entwicklung verschiedener Länder in verschiedenen Perioden. Alleine der Hausverstand würde einem schon sagen, dass bei der Frage, wodurch ein Unternehmen erfolgreich auf den Exportmärk-ten ist, das Niedrig-Halten von Löhnen vielleicht nicht gerade eine innovative Vorwärtsstra-tegie genannt werden kann. Der Exportweltmeister Deutschland ist v. a. deshalb erfolgreich, weil er die stark gestiegene Importnachfrage der Schwellenländer mit qualitativ hochwerti-gen Produkten bedienen kann. Die jahrelange Lohnzurückhaltung in Deutschland, aber auch in Österreich, wirkt dabei unterstützend, ist aber nicht entscheidend! Wendet man die so genannte „Golden Rule“ (früher hieß sie „Benya-Formel“) an – die Nominallöhne sollen im Ausmaß von Produktivität und Inflationsziel steigen –, dann hat sich Österreich seit Beginn der Währungsunion einen 10%igen Wettbewerbsvorteil ergattert, Deutschland gar über 17%. Aber bei dieser Betrachtung der Wettbewerbsfähigkeit sind die Vorteile der einen (DT, Ö) eben die Nachteile der anderen (GR, ITA, ESP, P); soviel zum Thema europäische Solidari-tät.
Die zweite zentrale Fragestellung der Konferenz bezog sich darauf, wie die ungleicher wer-dende Verteilung einzuschätzen sei? Hier ist mittlerweile die Faktenlage derart eindeutig, dass selbst die hartgesottenen Ökonomen der OECD (wie Stefano Scarpetta) feststellen mussten: „While overall redistribution has increased, this was not enough to offset growing market-income inequality.“ Die Daten der OECD zeigen eindeutig, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Industrieländer die Einkommensungleichheit in den letzten 25 Jahren größer geworden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Lage wahrscheinlich noch wesentlich dramatischer ist, weil: die Qualität der Daten notorisch schlecht ist, etwa bei den Einkommen der Selbstständigen; und weil sich die Ungleichverteilung bei den Vermögen noch wesentlich dramatischer darstellt. Diese Einsichten zur neuen Verteilungsfrage bleiben jedoch in der EU folgenlos, ganz im Gegensatz zu den unzähligen Empfehlungen und Mahnungen zur Lohnzurückhaltung. Nicht zuletzt an dieser Stelle wird sichtbar, wie ideologisch der Diskurs bis dato geführt wird. Pragmatisch wäre anders.
Angesichts der Einseitigkeit der Kontroverse und der beginnenden Herbstlohnrunde hierzu-lande liegt folgender Schluss nahe: Um sich selbst, aber auch den griechischen KollegInnen zu helfen, sollten die österreichischen Gewerkschaften höhere Lohnabschlüsse als in der Vergangenheit durchsetzen. Das wäre doch ein vernunftgeleiteter Beitrag zur Lage in Öster-reich und in der EU!
Ergänzend dazu der Hinweis auf das lesenswerte Interview mit Heiner Flassbeck im Kurier: http://kurier.at/wirtschaft/4273690.php