2014 Januar – BEIGEWUM

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Mythos: „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt“

2. Januar 2014 – 18:33 Uhr

Öffent­li­che Schul­den ent­ste­hen aus kol­lek­ti­vem und mora­li­schem Fehl­ver­hal­ten. Der Staat gibt für Sozi­al­leis­tun­gen zu viel Geld aus; dies kön­nen wir uns in Zukunft nicht mehr leis­ten. Schul­den – öffent­li­che, wie pri­va­te – bele­gen, dass über die eige­nen Ver­hält­nis­se gelebt wur­de. Die ein­zi­ge Lösung ist kon­se­quen­tes Spa­ren: durch Staa­ten und auch die pri­va­ten Haus­hal­te. Not­wen­di­ge Ein­schnit­te bei Aus­ga­ben müs­sen daher akzep­tiert werden.“

Mit dem Andau­ern der Kri­se fin­det auch ein stän­di­ger Kampf um Bedeu­tungs­ho­heit statt. Aus der Finanz­kri­se wur­de eine Schul­den­kri­se, und auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne heißt es nun: „Wir haben über unse­re Ver­hält­nis­se gelebt“. Über­setzt heißt das: Ers­tens kön­nen wir uns einen angeb­lich zu gene­rö­sen Sozi­al­staat nicht leis­ten. Zwei­tens sei­en wir alle „selbst schuld“, weil wir alle über­mä­ßig vom Sozi­al­staat pro­fi­tie­ren. Die Schluss­fol­ge­run­gen aus die­ser Ana­ly­se sind bekannt: Spa­ren, spa­ren, spa­ren. Einer­seits bei öffent­li­chen Aus­ga­ben, ande­rer­seits auch im Pri­va­ten. Wir wer­den dazu ange­hal­ten, weni­ger zu kon­su­mie­ren, aber auch Lohn­sen­kun­gen und weni­ger Sozi­al­leis­tun­gen in Kauf zu neh­men. Denn die Staats­schul­den betref­fen uns alle und müs­sen des­halb soli­da­risch von allen getra­gen wer­den – auch wenn das heißt, „den Gür­tel enger zu schnallen“.

Privates Sparen bedeutet höhere Staatsschulden

Der Spa­gat von öffent­li­chen zu pri­va­ten Schul­den wird fol­gen­der­ma­ßen argu­men­tiert: Die Schuld an Staats­schul­den und vor allem auch die Ver­ant­wor­tung zur Besei­ti­gung der Staats­schul­den trägt angeb­lich das Indi­vi­du­um. Die Staats­schul­den­last, so die Argu­men­ta­ti­on, wer­den von uns Steu­er­zah­le­rIn­nen getra­gen. Um sie abzu­tra­gen, müs­sen wir weni­ger aus­ge­ben und mehr spa­ren. Denn in der Ver­gan­gen­heit hät­ten wir über unse­re Ver­hält­nis­se gelebt. Ger­ne wird dann auch der pro-Kopf Staatschul­den­stand aus­ge­rech­net, um die irra­tio­na­le Furcht aus­zu­lö­sen, dass wir alle frü­her oder spä­ter mit unse­rem Erspar­ten für die Staats­schul­den auf­kom­men müs­sen. Das ist aller­dings nicht der Fall, einer­seits weil die Staa­ten auch Ver­mö­gen hal­ten, die gegen­zu­rech­nen sind, und ande­rer­seits weil die Bür­ge­rIn­nen kei­ne „Unter­neh­mens­an­tei­le“ am Staat hal­ten und daher nicht direkt für den eige­nen Staat haf­ten. Außer­dem kön­nen durch pri­va­tes Spa­ren öffent­li­che Schul­den nicht besei­tigt werden.

Denn wenn weni­ger kon­su­miert wird, wer­den weni­ger Steu­ern auf Kon­sum fäl­lig, außer­dem kön­nen Unter­neh­men weni­ger Pro­duk­te abset­zen und inves­tie­ren weni­ger, was wie­der­um zum Sin­ken der Beschäf­ti­gung führt. Auch letz­te­res belas­tet die Staats­fi­nan­zen durch weni­ger Ein­kom­mens­steu­er­ein­nah­men und mehr Aus­ga­ben für Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung etc. Weni­ger Kon­sum bedeu­tet also nicht weni­ger Staats­schul­den – im Gegen­teil. Als Gegen­ar­gu­ment hört man dann oft, dass aber durch mehr pri­va­tes Spa­ren die Zin­sen gesenkt wer­den (da sich das Geld­an­ge­bot erhöht und der „Preis“ des Gel­des, also der Zins­satz, sinkt) und so Inves­ti­tio­nen bil­li­ger wer­den – mit posi­ti­ven Effek­ten auf gesamt­wirt­schaft­li­che Akti­vi­tät und auch die öffent­li­chen Finan­zen. Tat­säch­lich hat die hei­mi­sche Spar­quo­te nur einen gerin­gen Ein­fluss auf den Zins­satz. Denn Unter­neh­men finan­zie­ren sich inter­na­tio­nal, und auch Ban­ken ver­lei­hen nicht nur das Geld, das Kun­dIn­nen am Spar­buch haben. Viel mehr Ein­fluss auf Zins­sät­ze als das Spar­ver­hal­ten im eige­nen Lan­de haben bei die­ser Kon­stel­la­ti­on Erwar­tungs­hal­tun­gen, Leit­zins­set­zun­gen der Zen­tral­ban­ken etc. Pri­va­tes Spa­ren bedeu­tet also nicht weni­ger Staatsschulden.

Sparefroh als moralisches Konstrukt

Kon­ser­va­ti­ve libe­ra­le Akteu­rIn­nen sehen die indi­vi­du­el­le Ebe­ne als zen­tra­len Angel­punkt, um gesell­schaft­li­che Ände­run­gen zu errei­chen. Gesell­schaft­li­che Miss­stän­de wer­den so weit wie mög­lich auf indi­vi­du­el­les Fehl­ver­hal­ten zurück­ge­führt – um mög­lichst wenig staat­li­ches Ein­grei­fen nötig zu machen. So ist es auch in der Finanz­kri­se: Anstatt feh­len­de Regu­lie­rung des Finanz­sek­tors und wach­sen­de Ungleich­ver­tei­lung als Kri­sen­ur­sa­chen und ‑aus­lö­ser zu sehen, wird ver­sucht, sowohl Ursa­che als auch Lösung auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne und somit in Eigen­ver­ant­wor­tung zu sehen. Zu vie­le Staats­schul­den bedeu­ten in die­ser Logik also, dass die Bür­ge­rIn­nen in der Ver­gan­gen­heit zu viel aus­ge­ge­ben haben. Und es bedeu­tet auch, dass die Lösung dar­in liegt, in Zukunft nicht „mehr aus­zu­ge­ben als man ein­nimmt“. Weder Regu­la­ti­on noch Umver­tei­lung ist nötig, wenn wir alle ein biss­chen spa­ren. Die Deu­tung von Spa­ren als mora­li­sche Not­wen­dig­keit wird somit zu einem Herr­schafts­in­stru­ment, das bestehen­de Struk­tu­ren aufrechterhält.

Ähn­lich ver­hält sich der Kampf um die Bedeu­tungs­ho­heit von Schul­den. Die kon­ser­va­ti­ve Deu­tung von Schuld als per­sön­li­che Schul­dig­keit und Fehl­ver­hal­ten zielt dar­auf ab, mora­li­schen Druck auf Schuld­ne­rIn­nen auf­zu­bau­en. Ande­re Ansät­ze heben aller­dings her­vor, dass die­se Schwarz-Weiß-Dar­stel­lung Rea­li­tä­ten aus­klam­mert. So haben bei­spiels­wei­se Pri­vat­ban­ken Hypo­the­ken wohl­wis­send eben­so an US-Ame­ri­ka­ne­rIn­nen ver­ge­ben, deren Ein­kom­men nicht aus­reich­te um die Hypo­the­ken spä­ter dann auch zurück zu zah­len. Die Kon­se­quen­zen des rea­li­sier­ten Risi­kos – also der ein­ge­tre­te­nen, ein­kal­ku­lier­ten Kata­stro­phe – hat­ten die Schuld­ne­rIn­nen (Zwangs­räu­mun­gen etc.) und die All­ge­mein­heit zu tragen.

Haben wir „über unseren Verhältnissen gelebt“?

Wenn behaup­tet wird, „wir“ hät­ten alle „über unse­ren Ver­hält­nis­sen gelebt“, dann wird sug­ge­riert, dass die brei­te Bevöl­ke­rung einen Lebens­stan­dard hat, der höher ist als sie und der Staat es sich leis­ten kön­nen. Stimmt das wirk­lich? Und wer ist „wir“? Seit 1975 ist die Lohn­quo­te, das heißt der Anteil der Löh­ne am BIP, ste­tig gesun­ken – in den meis­ten Län­dern der EU genau­so wie in Japan und den USA. In Deutsch­land kamen 1975 noch über 70% des BIP den Lohn­emp­fän­ge­rIn­nen zugu­te. 2007 waren es nur noch knapp 60%. Anders aus­ge­drückt heißt das, Gewinn- und Besitz­ein­kom­mens­be­zie­he­rIn­nen pro­fi­tier­ten ver­hält­nis­mä­ßig immer mehr vom Wirt­schafts­wachs­tum, da sie einen immer grö­ße­ren Anteil der erwirt­schaf­te­ten Leis­tun­gen erhiel­ten. Das ist auch einer der Grün­de für die immer grö­ßer wer­den­de Ungleich­ver­tei­lung zwi­schen den Haus­hal­ten, da die Gewinn- und Besitz­ein­kom­men wesent­lich kon­zen­trier­ter sind als die Lohn­ein­kom­men. Der Gini­ko­ef­fi­zi­ent ist in fast allen OECD-Staa­ten seit 1985 ange­stie­gen. Das heißt, auch der Unter­schied zwi­schen den Bezie­he­rIn­nen nied­ri­ger und hoher Ein­kom­men klafft immer wei­ter aus­ein­an­der. Anders gesagt: Die Mehr­heit der Men­schen hat sogar unter „ihren“ Ver­hält­nis­sen gelebt.

Die Gefah­ren von zu viel pri­va­tem Spa­ren, öffent­li­chem Spa­ren und Umver­tei­lung nach oben sind sich in einem Aspekt sehr ähn­lich: Sie schwä­chen Kauf­kraft, füh­ren zu einem Ein­bruch der Nach­fra­ge und haben nega­ti­ve gesamt­wirt­schaft­li­che Effek­te. Umver­tei­lung nach oben, wie sie in den letz­ten Jahr­zehn­ten mas­siv gesche­hen ist – egal ob es um die Ein­kom­mens­ver­tei­lung oder die Ver­mö­gens­ver­tei­lung – hat fol­gen­de Effek­te: Ers­tens haben Haus­hal­te mit höhe­rem ver­füg­ba­ren Ein­kom­men eine nied­ri­ge­re Kon­sum­nei­gung. Denn wer über weni­ger Ein­kom­men ver­fügt, muss einen höhe­ren Anteil davon für über­le­bens­wich­ti­ge Kon­sum­gü­ter (Nah­rung, Woh­nung) aus­ge­ben und kann dadurch weni­ger spa­ren. Mehr Ein­kom­men führt so zu einem stär­ke­ren Anstieg des Spa­rens als des Kon­sums, weil die genann­ten Kon­sum­aus­ga­ben schon abge­deckt sind. Des­halb führt Umver­tei­lung von unten nach oben zu weni­ger Nach­fra­ge. Zwei­tens sind vor allem die wach­sen­den Ver­mö­gens­be­stän­de von Haus­hal­ten mit hohem Ein­kom­men oder Ver­mö­gen ein Mit­grund für das Wach­sen des Finanz­sek­tors in den ver­gan­ge­nen Jahrzehnten.

Fazit

Zu wenig pri­va­tes Spa­ren ist weder Ursa­che noch Aus­lö­ser der aktu­el­len Kri­se gewe­sen. Regu­la­ti­ve Schwä­chen und wach­sen­de Ungleich­ver­tei­lung inner­halb und zwi­schen den Staa­ten sind sys­te­mi­sche Pro­ble­me, an deren Lösung gear­bei­tet wer­den muss. Ver­su­che, die Kri­sen­kos­ten durch Ein­spa­run­gen im Sozi­al­staat zu zah­len sind zum Schei­tern ver­ur­teilt, da sie ursäch­li­che Pro­ble­me nicht lösen, son­dern im Gegen­teil ver­grö­ßern. Genau­so wenig wird angeb­li­ches „mora­li­sches“ Spar­ver­hal­ten von Indi­vi­du­en den Aus­weg aus der Kri­se brin­gen. Nur sehr weni­ge haben etwas davon, wenn wir alle „den Gür­tel enger schnal­len“. Der Groß­teil der Bevöl­ke­rung wird jedoch ledig­lich wei­ter – bild­lich gespro­chen – „aus­ge­hun­gert“.


Beim vor­lie­gen­den Bei­trag han­delt es sich um die gekürz­te Ver­sion eines Kapi­tels aus dem Buch „Mythen des Spa­rens. Anti­zy­kli­sche Alter­na­ti­ven zur Schul­den­bremse“. Die­ses wur­de 2013 vom BEIGEWUM her­aus­ge­ge­ben und wen­det sich an alle, die der Behaup­tung „Spa­ren sei das Gebot der Stun­de“ fun­dierte Argu­mente ent­ge­gen­set­zen wol­len. Es wer­den zen­trale Mythen aus den Berei­chen „Schul­den“, „Spa­ren“ und der damit ver­bun­de­nen EU-​​Po­li­tik kri­tisch hin­ter­fragt und die dahin­ter­ste­hen­den Zusam­men­hänge erklärt. Das Buch ist im VSA-​​Ver­lag erschie­nen und kann hier bestellt wer­den: http://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/mythen-des-sparen/

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Kurswechsel 3/2013: „Regionale Integration – Alternative Entwicklungspfade? Perspektive industriepolitischer Optionen in räumlichen Strukturen“

1. Januar 2014 – 19:30 Uhr

Der neue Kurs­wech­sel ist schon in den Post­käs­ten unse­rer Abo­nen­tIn­nen und kann hier bestellt wer­den.

Gibt es in Euro­pa und sei­ner Nach­bar­schaft abseits der EU alter­na­tive Ent­wick­lungs­mo­delle regio­na­ler Inte­gra­tion? Anhand von Bei­spie­len wie der Schwarz­meer­re­gion sol­len Merk­male und Kon­se­quen­zen sol­cher Model­le ana­ly­siert werden.

Mit Bei­trä­gen von Johan­nes Leit­ner, Eli­sa­beth Spring­ler u.a.

Das Debat­ten­fo­rum dreht sich dies­mal um: „Renais­sance der Indus­trie­po­li­tik: Irr- oder Königsweg?“

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„It’s the injustice, stupid! – Vom New Deal lernen.“ 22.01.2014, AK Bildungszentrum

1. Januar 2014 – 19:18 Uhr
Der zwei­te Ter­min der Ver­stal­tungs­rei­he „Die Zukunft Euro­pas – Kurs­wech­sel für ein gutes Leben?“ trägt den Titel: „It’s the injus­ti­ce, stu­pid! – Vom New Deal lernen.“


Immer wie­der wird ein öko­lo­gisch inspi­rier­ter Key nesia­nis­mus als Lösung der gegen­wär­ti­gen Kri­se vor­ge­schla­gen, gleich­sam ein Green New Deal. Dabei kon­zen­trie­ren sich Ver­fech­te­rIn­nen und Kri­ti­ke­rIn­nen oft­mals auf einen Aspekt eines grü­nen Kapi­ta­lis­mus, näm­lich die Schaf­fung neu­er Märk­te und neu­er Arbeits­plät­ze durch Umwelt­tech­no­lo­gien. Die­se sol­len öko­lo­gi­sche Pro­ble­me lösen und Inno­va­tio­nen und Wirt­schafts­wachs­tum erzeu­gen. Über­se­hen wird dabei zumeist, dass der öko­no­mi­sche Erfolg des US-ame­ri­ka­ni­schen New Deal der 1930er Jah­re wesent­lich sei­nen Umver­tei­lungs­maß­nah­men ver­dank­te. Die Umver­tei­lung von oben nach unten durch Ver­mö­gens- und Ein­kom­mens­steu­ern und regio­na­le Umver­tei­lung war nur durch die Stär­kung der zen­tral­staat­li­chen Insti­tu­tio­nen der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka mög­lich. Bei­des schuf die Vor­aus­set­zun­gen für ein erfolg­rei­ches Nach­kriegs­mo­dell, das auf Inklu­si­on, sozia­len Zusam­men­halt und Voll­be­schäf­ti­gung beruh­te. Dar­aus abge­lei­tet stellt sich die Fra­ge, ob ein „Green and Social New Deal“ als Ein­stiegs­pro­jekt für eine öko­so­zia­le Trans­for­ma­ti­on in Euro­pa geeig­net ist. Wel­che poli­ti­schen und insti­tu­tio­nel­len Vor­aus­set­zun­gen müss­ten dafür wie und von wem geschaf­fen werden?


Ste­phan Schul­meis­ter (Wirt­schafts­for­scher), Ulrich Brand (Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaf­ten, Wien), Sil­via Ange­lo (AK Wien) und Cris­ti­na Asen­si (Attac Spa­ni­en) im Gespräch mit Ulri­ke Herr­mann (Wirt­schafts­jour­na­lis­tin taz).
22.01.2014, 18–20 Uhr
AK Bil­dungs­zen­trum, gro­ßer Saal
The­re­sian­um­gas­se 16–18, 1040 Wien
(Um Anmel­dung wird gebe­ten: daniela.paraskevaidis@akwien.at)

Buchvorstellung „Mythen des Sparens“ 10.01. Innsbruck

1. Januar 2014 – 19:07 Uhr

Wir freu­en uns, dass unser neu­es Buch „Mythen des Spa­rens“ (zu bestel­len hier: http://www.vsa-verlag.de/…/artikel/mythen-des-sparen/) nun auch in Inns­bruck prä­sen­tiert wird.

Jana Schult­heiss und Tobi­as Ori­sch­nig vom AutorIn­nen­kol­lek­tiv dis­ku­tie­ren unter der Mode­ra­ti­on von Gün­ter Mayr über die Bedeu­tung und Kon­struk­ti­on von Sparmythen.

Frei­tag 10. Jän­ner 2014
19 Uhr – Buch­hand­lung Wiederin
Erler­stra­ße 6, 6020 Innsbruck

Mythos: „Europa muss Deutsch lernen“

1. Januar 2014 – 18:48 Uhr

Deutsch­land hat sich in eine Rich­tung ori­en­tiert, von der alle euro­päi­schen Län­der pro­fi­tie­ren könn­ten – vor­aus­schau­end, welt­of­fen und kon­zen­triert auf Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Pro­duk­ti­vi­tät”, so EZB-Prä­si­dent Mario Draghi im Novem­ber 2013. An dem deut­schen Mus­ter­schü­ler sol­len sich nun ande­re Län­der ori­en­tie­ren und die Refor­men übernehmen.

Das schein­ba­re Erfolgs­re­zept für Wirt­schafts­wachs­tum und stei­gen­de Expor­te: Lohn­zu­rück­hal­tung, die Steu­er­re­for­men Anfang der 2000er Jah­re sowie die Refor­men der Agen­da 2010, wie unter ande­ren die Hartz IV-Reform. Zwi­schen 2000 und 2007 stie­gen die Leis­tungs­bi­lanz­über­schüs­se stark an, von einem nahe­zu aus­ge­gli­che­nen Außen­bei­trag zu einem Über­schuss von 7% (2011: 5,1%).

Sparen für die Wirtschaft: Runter mit Löhnen und Steuern

Ursa­chen für die­se „posi­ti­ve“ Ent­wick­lung waren jedoch nicht nur die gestie­ge­nen Expor­te. Son­dern vor allem auch auch, dass durch die schwa­che inlän­di­sche Nach­fra­ge und die Zurück­hal­tung staat­li­cher Inves­ti­tio­nen die Impor­te kaum gestie­gen sind. Der Anstieg der Löh­ne in Deutsch­land blieb seit 2000 weit hin­ter jenem ande­rer EU-Mit­glieds­staa­ten zurück und die Real­löh­ne san­ken. Auch fle­xi­ble­re Rege­lun­gen für aty­pi­sche Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se wie gering­fü­gi­ge Beschäf­ti­gung oder Leih­ar­beit, die häu­fig schlech­ter ent­lohnt wer­den als Nor­mal­ar­beits­ver­hält­nis­se, wur­den erleich­tert. Immer mehr Arbei­ten wer­den, gera­de im Han­del, in schlech­ter bezahl­te Tarif­ver­trä­ge aus­ge­glie­dert oder sind nicht mehr tarif­ge­bun­den. Mit dem Dienst­leis­tungs­sek­tor oder dem Leih­ar­beits­sek­tor wuch­sen die Berei­che, in denen häu­fig nied­ri­ge Löh­ne bezahlt wer­den, beson­ders stark.

Im Jahr 2000 wur­de von der deut­schen Bun­des­re­gie­rung eine Steu­er­re­form beschlos­sen, durch die unter ande­rem die Kör­per­schafts­steu­er gesenkt und der Spit­zen­steu­er­satz ver­rin­gert wur­de. Dadurch wur­den höhe­re Ein­kom­men ent­las­tet und gleich­zei­tig Sozi­al­aus­ga­ben ein­ge­spart, von denen vor allem nied­ri­ge Ein­kom­men pro­fi­tie­ren wür­den. Die Gesamt­ein­nah­men des Staa­tes gin­gen von 2001 bis 2005 von 46,2% des BIP im Jahr 2000 auf 43,6% zurück. Die Gesamt­aus­ga­ben des Staa­tes sind von rund 48% des BIPs vor den Refor­men auf 45% im Jahr 2011 gesun­ken. Die Fol­gen waren deut­lich: Sozi­al­ab­bau, Ein­schrän­kung bei der Ver­sor­gung mit öffent­li­chen Gütern, Sen­ken der öffent­li­chen Inves­ti­tio­nen sowie der Abbau von Per­so­nal und Lohn­zu­rück­hal­tung im öffent­li­chen Dienst. Durch nied­ri­ge staat­li­che Inves­ti­tio­nen und eine gedämpf­te Bin­nen­nach­fra­ge war die Wirt­schaft weni­ger gewach­sen, als bei einer Bin­nen­markt­ori­en­tier­ten Poli­tik mög­lich hät­te sein können.

Reformen und ihre Folgen

Im Rah­men der Hartz IV-Refor­men wur­den die Zumut­bar­keits­kri­te­ri­en für das Arbeits­lo­sen­geld II geän­dert: Jede Arbeit ist zumut­bar, egal ob sie gering­fü­gig oder unter­ta­rif­lich bezahlt ist oder den Qua­li­fi­ka­tio­nen nicht ent­spricht, und muss daher ange­nom­men wer­den. Die Zahl der Erwerbs­lo­sen ist nach den Refor­men deut­lich gesun­ken, ob sie dafür ursäch­lich waren ist jedoch wenig ein­deu­tig, denn es kam gleich­zei­tig zu einem Wirtschaftsaufschwung.

Zu einem Wirt­schafts­auf­schwung, bei dem die Zahl der Working Poor stark anstieg: Im Jahr 2011 waren 30% der Arbeits­lo­sen­geld II-Emp­fän­ge­rIn­nen in Deutsch­land erwerbs­tä­tig, 2007 waren es nur 23%. Sie muss­ten also, teil­wei­se sogar trotz eines Voll­zeit-Jobs, einen Teil ihres Ein­kom­mens an Arbeits­lo­sen­geld, „auf­sto­cken“.

Der Anteil der Nied­rig­lohn­be­schäf­tig­ten stieg in den letz­ten 10 Jah­ren von knapp 18% auf über 22%. Damit liegt Deutsch­land unter den  EU-15 Län­dern an ers­ter Stel­le, knapp vor dem Ver­ei­nig­ten König­reich. 2010 arbei­te­te somit fast jedeR Vier­te in Deutsch­land Beschäf­tig­te zu einem Nied­rig­lohn, bei Gering­qua­li­fi­zier­ten sogar mehr als die Hälfte.

Betrof­fen von nied­ri­gem Lohn und pre­kä­rer Beschäf­ti­gung sind vor allem Frau­en. 29% der beschäf­tig­ten Frau­en erhal­ten nur einen Nied­rig­lohn (im Ver­gleich zu 17% der Män­ner). Die Mehr­heit der beschäf­tig­ten Frau­en arbei­tet in aty­pi­schen Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen, wie Teil­zeit oder Mini­jobs, und sie arbei­ten häu­fi­ger in schlech­ter bezahl­ten Bran­chen und Beru­fen (Dienst­leis­tung, Gesund­heit etc.). In ein­zel­nen Berufs­grup­pen arbei­ten fast 90% in Niedriglohntätigkeiten.

Der nied­ri­ge Lohn führt aber nicht nur zu Armut trotz Arbeit, son­dern bil­det auch einen direk­ten Weg in die Alters­ar­mut. Zusätz­lich sin­ken die Steu­er­ein­nah­men – denn in der Regel fal­len kei­ne oder gerin­ge Steu­ern an. Die nied­ri­ge Kauf­kraft der Gering­ver­die­ne­rIn­nen dämpft dadurch auch den inlän­di­schen Konsum.

Fokus auf Exporte: Absatzmarkt am Mars

Durch die nied­ri­gen Ein­kom­men und die Spar­maß­nah­men sin­ken der pri­va­te Kon­sum und Inves­ti­tio­nen. Drei Vier­tel des deut­schen Wirt­schafts­wachs­tums der ver­gan­ge­nen Jah­re sind den Expor­ten zuzu­ord­nen, was nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf ande­re Staa­ten hat (vgl. Lehn­dorff 2012). Auch wenn seit kur­zem die Löh­ne im vgl. zu ande­ren Staa­ten etwas stär­ker gestie­gen sind, reicht dies noch lan­ge nicht aus um die vor­he­ri­ge Ent­wick­lung aus­zu­glei­chen. Deutsch­land pro­fi­tiert als Tritt­brett­fah­rer von den Län­dern, die aus Deutsch­land impor­tie­ren und nutzt den eige­nen Import­spiel­raum nicht aus. Nun sol­len auch ande­re Län­der die­se Poli­tik umset­zen: Arbeits­markt­re­for­men, Fle­xi­bi­li­sie­rung, Lohn­zu­rück­hal­tung und Ein­spa­run­gen bei den öffent­li­chen Ausgaben.

Woher soll das Wachs­tum aber kom­men, wenn alle Staa­ten spa­ren und weder die eige­nen Pro­duk­te kau­fen noch impor­tie­ren? Es müs­sen also schnell neue Han­dels­part­ne­rIn­nen gefun­den wer­den, die nichts gegen Leis­tungs­bi­lanz­de­fi­zi­te haben – viel­leicht auf dem Mars!

Mehr Staat statt mehr Sparen

Gera­de in der Kri­se wur­de deut­lich, wie wich­tig Sozi­al­sys­te­me sind. Sie haben maß­geb­lich dazu bei­getra­gen, dass die Wirt­schaft nicht wei­ter ein­ge­bro­chen ist, die Arbeits­lo­sig­keit nicht wei­ter anstieg und die pri­va­te Nach­fra­ge nicht stär­ker zurück­ging. Kon­junk­tur­pa­ke­te tru­gen zusätz­lich dazu bei, die Aus­wir­kun­gen der Kri­se gering zu hal­ten, gera­de auch in Deutsch­land. Im Zuge der „Schul­den­kri­se“ sind die Wohl­fahrts­sys­te­me nun erneut unter Beschuss gera­ten. Um die Staats­schul­den zu redu­zie­ren, wird vor allem auf der Aus­ga­ben­sei­te gespart. Es wer­den Leis­tun­gen, Pen­sio­nen oder Löh­ne gekürzt, öffent­li­che Beschäf­ti­gung ver­rin­gert, Arbeits­markt­re­gu­lie­run­gen gelo­ckert und wei­te­re Pri­va­ti­sie­run­gen durch­ge­führt; und immer wei­te­re Spar­maß­nah­men gefor­dert. Pro­blem und Aus­gangs­punkt der Kri­se war nicht der Staat, son­dern die wach­sen­de Ungleich­heit und der Finanz­sek­tor. Nun wer­den die Staats­schul­den als Mög­lich­keit genutzt den Staat wei­ter zurück­zu­drän­gen. Die Ein­spa­run­gen haben einer­seits nega­ti­ve Effek­te auf Löh­ne, Nach­fra­ge und damit auf das Wachs­tum, ande­rer­seits ver­stär­ken sie auf län­ge­re Frist die Ungleich­ge­wich­te in der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung. Und zusätz­lich wer­den durch die Spar­po­li­tik die Mög­lich­kei­ten ver­rin­gert, wei­te­re Kri­sen abzufangen.

Zur Bewäl­ti­gung der aktu­el­len Kri­sen (wach­sen­de Ungleich­heit, Ungleich­ge­wich­te, Kli­ma­wan­del; sie­he Ein­lei­tung des Buches „Mythen des Spa­rens“) und deren Ursa­chen wer­den jedoch ande­re Lösun­gen gebraucht. Beson­ders Deutsch­land, aber auch Öster­reich und die Nie­der­lan­de müs­sen jetzt bereit sein, mehr aus­zu­ge­ben, die Löh­ne zu erhö­hen und die stei­gen­de Ungleich­heit bekämp­fen, anstatt auf Kos­ten ande­rer Staa­ten Außen­han­dels­über­schuss­re­kor­de zu sammeln.


Beim vor­lie­gen­den Bei­trag han­delt es sich um die gekürz­te Ver­sion eines Kapi­tels aus dem Buch „Mythen des Spa­rens. Anti­zy­kli­sche Alter­na­ti­ven zur Schul­den­bremse“. Die­ses wur­de 2013 vom BEIGEWUM her­aus­ge­ge­ben und wen­det sich an alle, die der Behaup­tung „Spa­ren sei das Gebot der Stun­de“ fun­dierte Argu­mente ent­ge­gen­set­zen wol­len. Es wer­den zen­trale Mythen aus den Berei­chen „Schul­den“, „Spa­ren“ und der damit ver­bun­de­nen EU-​​Po­li­tik kri­tisch hin­ter­fragt und die dahin­ter­ste­hen­den Zusam­men­hänge erklärt. Das Buch ist im VSA-​​Ver­lag erschie­nen und kann hier bestellt wer­den: http://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/mythen-des-sparen/

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