Mythos: „Europa muss Deutsch lernen“ – BEIGEWUM

Mythos: „Europa muss Deutsch lernen“

am 1. Januar 2014 um 18:48h

Deutsch­land hat sich in eine Rich­tung ori­en­tiert, von der alle euro­päi­schen Län­der pro­fi­tie­ren könn­ten – vor­aus­schau­end, welt­of­fen und kon­zen­triert auf Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Pro­duk­ti­vi­tät”, so EZB-Prä­si­dent Mario Draghi im Novem­ber 2013. An dem deut­schen Mus­ter­schü­ler sol­len sich nun ande­re Län­der ori­en­tie­ren und die Refor­men übernehmen.

Das schein­ba­re Erfolgs­re­zept für Wirt­schafts­wachs­tum und stei­gen­de Expor­te: Lohn­zu­rück­hal­tung, die Steu­er­re­for­men Anfang der 2000er Jah­re sowie die Refor­men der Agen­da 2010, wie unter ande­ren die Hartz IV-Reform. Zwi­schen 2000 und 2007 stie­gen die Leis­tungs­bi­lanz­über­schüs­se stark an, von einem nahe­zu aus­ge­gli­che­nen Außen­bei­trag zu einem Über­schuss von 7% (2011: 5,1%).

Sparen für die Wirtschaft: Runter mit Löhnen und Steuern

Ursa­chen für die­se „posi­ti­ve“ Ent­wick­lung waren jedoch nicht nur die gestie­ge­nen Expor­te. Son­dern vor allem auch auch, dass durch die schwa­che inlän­di­sche Nach­fra­ge und die Zurück­hal­tung staat­li­cher Inves­ti­tio­nen die Impor­te kaum gestie­gen sind. Der Anstieg der Löh­ne in Deutsch­land blieb seit 2000 weit hin­ter jenem ande­rer EU-Mit­glieds­staa­ten zurück und die Real­löh­ne san­ken. Auch fle­xi­ble­re Rege­lun­gen für aty­pi­sche Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se wie gering­fü­gi­ge Beschäf­ti­gung oder Leih­ar­beit, die häu­fig schlech­ter ent­lohnt wer­den als Nor­mal­ar­beits­ver­hält­nis­se, wur­den erleich­tert. Immer mehr Arbei­ten wer­den, gera­de im Han­del, in schlech­ter bezahl­te Tarif­ver­trä­ge aus­ge­glie­dert oder sind nicht mehr tarif­ge­bun­den. Mit dem Dienst­leis­tungs­sek­tor oder dem Leih­ar­beits­sek­tor wuch­sen die Berei­che, in denen häu­fig nied­ri­ge Löh­ne bezahlt wer­den, beson­ders stark.

Im Jahr 2000 wur­de von der deut­schen Bun­des­re­gie­rung eine Steu­er­re­form beschlos­sen, durch die unter ande­rem die Kör­per­schafts­steu­er gesenkt und der Spit­zen­steu­er­satz ver­rin­gert wur­de. Dadurch wur­den höhe­re Ein­kom­men ent­las­tet und gleich­zei­tig Sozi­al­aus­ga­ben ein­ge­spart, von denen vor allem nied­ri­ge Ein­kom­men pro­fi­tie­ren wür­den. Die Gesamt­ein­nah­men des Staa­tes gin­gen von 2001 bis 2005 von 46,2% des BIP im Jahr 2000 auf 43,6% zurück. Die Gesamt­aus­ga­ben des Staa­tes sind von rund 48% des BIPs vor den Refor­men auf 45% im Jahr 2011 gesun­ken. Die Fol­gen waren deut­lich: Sozi­al­ab­bau, Ein­schrän­kung bei der Ver­sor­gung mit öffent­li­chen Gütern, Sen­ken der öffent­li­chen Inves­ti­tio­nen sowie der Abbau von Per­so­nal und Lohn­zu­rück­hal­tung im öffent­li­chen Dienst. Durch nied­ri­ge staat­li­che Inves­ti­tio­nen und eine gedämpf­te Bin­nen­nach­fra­ge war die Wirt­schaft weni­ger gewach­sen, als bei einer Bin­nen­markt­ori­en­tier­ten Poli­tik mög­lich hät­te sein können.

Reformen und ihre Folgen

Im Rah­men der Hartz IV-Refor­men wur­den die Zumut­bar­keits­kri­te­ri­en für das Arbeits­lo­sen­geld II geän­dert: Jede Arbeit ist zumut­bar, egal ob sie gering­fü­gig oder unter­ta­rif­lich bezahlt ist oder den Qua­li­fi­ka­tio­nen nicht ent­spricht, und muss daher ange­nom­men wer­den. Die Zahl der Erwerbs­lo­sen ist nach den Refor­men deut­lich gesun­ken, ob sie dafür ursäch­lich waren ist jedoch wenig ein­deu­tig, denn es kam gleich­zei­tig zu einem Wirtschaftsaufschwung.

Zu einem Wirt­schafts­auf­schwung, bei dem die Zahl der Working Poor stark anstieg: Im Jahr 2011 waren 30% der Arbeits­lo­sen­geld II-Emp­fän­ge­rIn­nen in Deutsch­land erwerbs­tä­tig, 2007 waren es nur 23%. Sie muss­ten also, teil­wei­se sogar trotz eines Voll­zeit-Jobs, einen Teil ihres Ein­kom­mens an Arbeits­lo­sen­geld, „auf­sto­cken“.

Der Anteil der Nied­rig­lohn­be­schäf­tig­ten stieg in den letz­ten 10 Jah­ren von knapp 18% auf über 22%. Damit liegt Deutsch­land unter den  EU-15 Län­dern an ers­ter Stel­le, knapp vor dem Ver­ei­nig­ten König­reich. 2010 arbei­te­te somit fast jedeR Vier­te in Deutsch­land Beschäf­tig­te zu einem Nied­rig­lohn, bei Gering­qua­li­fi­zier­ten sogar mehr als die Hälfte.

Betrof­fen von nied­ri­gem Lohn und pre­kä­rer Beschäf­ti­gung sind vor allem Frau­en. 29% der beschäf­tig­ten Frau­en erhal­ten nur einen Nied­rig­lohn (im Ver­gleich zu 17% der Män­ner). Die Mehr­heit der beschäf­tig­ten Frau­en arbei­tet in aty­pi­schen Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen, wie Teil­zeit oder Mini­jobs, und sie arbei­ten häu­fi­ger in schlech­ter bezahl­ten Bran­chen und Beru­fen (Dienst­leis­tung, Gesund­heit etc.). In ein­zel­nen Berufs­grup­pen arbei­ten fast 90% in Niedriglohntätigkeiten.

Der nied­ri­ge Lohn führt aber nicht nur zu Armut trotz Arbeit, son­dern bil­det auch einen direk­ten Weg in die Alters­ar­mut. Zusätz­lich sin­ken die Steu­er­ein­nah­men – denn in der Regel fal­len kei­ne oder gerin­ge Steu­ern an. Die nied­ri­ge Kauf­kraft der Gering­ver­die­ne­rIn­nen dämpft dadurch auch den inlän­di­schen Konsum.

Fokus auf Exporte: Absatzmarkt am Mars

Durch die nied­ri­gen Ein­kom­men und die Spar­maß­nah­men sin­ken der pri­va­te Kon­sum und Inves­ti­tio­nen. Drei Vier­tel des deut­schen Wirt­schafts­wachs­tums der ver­gan­ge­nen Jah­re sind den Expor­ten zuzu­ord­nen, was nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf ande­re Staa­ten hat (vgl. Lehn­dorff 2012). Auch wenn seit kur­zem die Löh­ne im vgl. zu ande­ren Staa­ten etwas stär­ker gestie­gen sind, reicht dies noch lan­ge nicht aus um die vor­he­ri­ge Ent­wick­lung aus­zu­glei­chen. Deutsch­land pro­fi­tiert als Tritt­brett­fah­rer von den Län­dern, die aus Deutsch­land impor­tie­ren und nutzt den eige­nen Import­spiel­raum nicht aus. Nun sol­len auch ande­re Län­der die­se Poli­tik umset­zen: Arbeits­markt­re­for­men, Fle­xi­bi­li­sie­rung, Lohn­zu­rück­hal­tung und Ein­spa­run­gen bei den öffent­li­chen Ausgaben.

Woher soll das Wachs­tum aber kom­men, wenn alle Staa­ten spa­ren und weder die eige­nen Pro­duk­te kau­fen noch impor­tie­ren? Es müs­sen also schnell neue Han­dels­part­ne­rIn­nen gefun­den wer­den, die nichts gegen Leis­tungs­bi­lanz­de­fi­zi­te haben – viel­leicht auf dem Mars!

Mehr Staat statt mehr Sparen

Gera­de in der Kri­se wur­de deut­lich, wie wich­tig Sozi­al­sys­te­me sind. Sie haben maß­geb­lich dazu bei­getra­gen, dass die Wirt­schaft nicht wei­ter ein­ge­bro­chen ist, die Arbeits­lo­sig­keit nicht wei­ter anstieg und die pri­va­te Nach­fra­ge nicht stär­ker zurück­ging. Kon­junk­tur­pa­ke­te tru­gen zusätz­lich dazu bei, die Aus­wir­kun­gen der Kri­se gering zu hal­ten, gera­de auch in Deutsch­land. Im Zuge der „Schul­den­kri­se“ sind die Wohl­fahrts­sys­te­me nun erneut unter Beschuss gera­ten. Um die Staats­schul­den zu redu­zie­ren, wird vor allem auf der Aus­ga­ben­sei­te gespart. Es wer­den Leis­tun­gen, Pen­sio­nen oder Löh­ne gekürzt, öffent­li­che Beschäf­ti­gung ver­rin­gert, Arbeits­markt­re­gu­lie­run­gen gelo­ckert und wei­te­re Pri­va­ti­sie­run­gen durch­ge­führt; und immer wei­te­re Spar­maß­nah­men gefor­dert. Pro­blem und Aus­gangs­punkt der Kri­se war nicht der Staat, son­dern die wach­sen­de Ungleich­heit und der Finanz­sek­tor. Nun wer­den die Staats­schul­den als Mög­lich­keit genutzt den Staat wei­ter zurück­zu­drän­gen. Die Ein­spa­run­gen haben einer­seits nega­ti­ve Effek­te auf Löh­ne, Nach­fra­ge und damit auf das Wachs­tum, ande­rer­seits ver­stär­ken sie auf län­ge­re Frist die Ungleich­ge­wich­te in der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung. Und zusätz­lich wer­den durch die Spar­po­li­tik die Mög­lich­kei­ten ver­rin­gert, wei­te­re Kri­sen abzufangen.

Zur Bewäl­ti­gung der aktu­el­len Kri­sen (wach­sen­de Ungleich­heit, Ungleich­ge­wich­te, Kli­ma­wan­del; sie­he Ein­lei­tung des Buches „Mythen des Spa­rens“) und deren Ursa­chen wer­den jedoch ande­re Lösun­gen gebraucht. Beson­ders Deutsch­land, aber auch Öster­reich und die Nie­der­lan­de müs­sen jetzt bereit sein, mehr aus­zu­ge­ben, die Löh­ne zu erhö­hen und die stei­gen­de Ungleich­heit bekämp­fen, anstatt auf Kos­ten ande­rer Staa­ten Außen­han­dels­über­schuss­re­kor­de zu sammeln.


Beim vor­lie­gen­den Bei­trag han­delt es sich um die gekürz­te Ver­sion eines Kapi­tels aus dem Buch „Mythen des Spa­rens. Anti­zy­kli­sche Alter­na­ti­ven zur Schul­den­bremse“. Die­ses wur­de 2013 vom BEIGEWUM her­aus­ge­ge­ben und wen­det sich an alle, die der Behaup­tung „Spa­ren sei das Gebot der Stun­de“ fun­dierte Argu­mente ent­ge­gen­set­zen wol­len. Es wer­den zen­trale Mythen aus den Berei­chen „Schul­den“, „Spa­ren“ und der damit ver­bun­de­nen EU-​​Po­li­tik kri­tisch hin­ter­fragt und die dahin­ter­ste­hen­den Zusam­men­hänge erklärt. Das Buch ist im VSA-​​Ver­lag erschie­nen und kann hier bestellt wer­den: http://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/mythen-des-sparen/


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