Mythos: „Europa muss Deutsch lernen“
„Deutschland hat sich in eine Richtung orientiert, von der alle europäischen Länder profitieren könnten – vorausschauend, weltoffen und konzentriert auf Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität”, so EZB-Präsident Mario Draghi im November 2013. An dem deutschen Musterschüler sollen sich nun andere Länder orientieren und die Reformen übernehmen.
Das scheinbare Erfolgsrezept für Wirtschaftswachstum und steigende Exporte: Lohnzurückhaltung, die Steuerreformen Anfang der 2000er Jahre sowie die Reformen der Agenda 2010, wie unter anderen die Hartz IV-Reform. Zwischen 2000 und 2007 stiegen die Leistungsbilanzüberschüsse stark an, von einem nahezu ausgeglichenen Außenbeitrag zu einem Überschuss von 7% (2011: 5,1%).
Sparen für die Wirtschaft: Runter mit Löhnen und Steuern
Ursachen für diese „positive“ Entwicklung waren jedoch nicht nur die gestiegenen Exporte. Sondern vor allem auch auch, dass durch die schwache inländische Nachfrage und die Zurückhaltung staatlicher Investitionen die Importe kaum gestiegen sind. Der Anstieg der Löhne in Deutschland blieb seit 2000 weit hinter jenem anderer EU-Mitgliedsstaaten zurück und die Reallöhne sanken. Auch flexiblere Regelungen für atypische Beschäftigungsverhältnisse wie geringfügige Beschäftigung oder Leiharbeit, die häufig schlechter entlohnt werden als Normalarbeitsverhältnisse, wurden erleichtert. Immer mehr Arbeiten werden, gerade im Handel, in schlechter bezahlte Tarifverträge ausgegliedert oder sind nicht mehr tarifgebunden. Mit dem Dienstleistungssektor oder dem Leiharbeitssektor wuchsen die Bereiche, in denen häufig niedrige Löhne bezahlt werden, besonders stark.
Im Jahr 2000 wurde von der deutschen Bundesregierung eine Steuerreform beschlossen, durch die unter anderem die Körperschaftssteuer gesenkt und der Spitzensteuersatz verringert wurde. Dadurch wurden höhere Einkommen entlastet und gleichzeitig Sozialausgaben eingespart, von denen vor allem niedrige Einkommen profitieren würden. Die Gesamteinnahmen des Staates gingen von 2001 bis 2005 von 46,2% des BIP im Jahr 2000 auf 43,6% zurück. Die Gesamtausgaben des Staates sind von rund 48% des BIPs vor den Reformen auf 45% im Jahr 2011 gesunken. Die Folgen waren deutlich: Sozialabbau, Einschränkung bei der Versorgung mit öffentlichen Gütern, Senken der öffentlichen Investitionen sowie der Abbau von Personal und Lohnzurückhaltung im öffentlichen Dienst. Durch niedrige staatliche Investitionen und eine gedämpfte Binnennachfrage war die Wirtschaft weniger gewachsen, als bei einer Binnenmarktorientierten Politik möglich hätte sein können.
Reformen und ihre Folgen
Im Rahmen der Hartz IV-Reformen wurden die Zumutbarkeitskriterien für das Arbeitslosengeld II geändert: Jede Arbeit ist zumutbar, egal ob sie geringfügig oder untertariflich bezahlt ist oder den Qualifikationen nicht entspricht, und muss daher angenommen werden. Die Zahl der Erwerbslosen ist nach den Reformen deutlich gesunken, ob sie dafür ursächlich waren ist jedoch wenig eindeutig, denn es kam gleichzeitig zu einem Wirtschaftsaufschwung.
Zu einem Wirtschaftsaufschwung, bei dem die Zahl der Working Poor stark anstieg: Im Jahr 2011 waren 30% der Arbeitslosengeld II-EmpfängerInnen in Deutschland erwerbstätig, 2007 waren es nur 23%. Sie mussten also, teilweise sogar trotz eines Vollzeit-Jobs, einen Teil ihres Einkommens an Arbeitslosengeld, „aufstocken“.
Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten stieg in den letzten 10 Jahren von knapp 18% auf über 22%. Damit liegt Deutschland unter den EU-15 Ländern an erster Stelle, knapp vor dem Vereinigten Königreich. 2010 arbeitete somit fast jedeR Vierte in Deutschland Beschäftigte zu einem Niedriglohn, bei Geringqualifizierten sogar mehr als die Hälfte.
Betroffen von niedrigem Lohn und prekärer Beschäftigung sind vor allem Frauen. 29% der beschäftigten Frauen erhalten nur einen Niedriglohn (im Vergleich zu 17% der Männer). Die Mehrheit der beschäftigten Frauen arbeitet in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, wie Teilzeit oder Minijobs, und sie arbeiten häufiger in schlechter bezahlten Branchen und Berufen (Dienstleistung, Gesundheit etc.). In einzelnen Berufsgruppen arbeiten fast 90% in Niedriglohntätigkeiten.
Der niedrige Lohn führt aber nicht nur zu Armut trotz Arbeit, sondern bildet auch einen direkten Weg in die Altersarmut. Zusätzlich sinken die Steuereinnahmen – denn in der Regel fallen keine oder geringe Steuern an. Die niedrige Kaufkraft der GeringverdienerInnen dämpft dadurch auch den inländischen Konsum.
Fokus auf Exporte: Absatzmarkt am Mars
Durch die niedrigen Einkommen und die Sparmaßnahmen sinken der private Konsum und Investitionen. Drei Viertel des deutschen Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre sind den Exporten zuzuordnen, was negative Auswirkungen auf andere Staaten hat (vgl. Lehndorff 2012). Auch wenn seit kurzem die Löhne im vgl. zu anderen Staaten etwas stärker gestiegen sind, reicht dies noch lange nicht aus um die vorherige Entwicklung auszugleichen. Deutschland profitiert als Trittbrettfahrer von den Ländern, die aus Deutschland importieren und nutzt den eigenen Importspielraum nicht aus. Nun sollen auch andere Länder diese Politik umsetzen: Arbeitsmarktreformen, Flexibilisierung, Lohnzurückhaltung und Einsparungen bei den öffentlichen Ausgaben.
Woher soll das Wachstum aber kommen, wenn alle Staaten sparen und weder die eigenen Produkte kaufen noch importieren? Es müssen also schnell neue HandelspartnerInnen gefunden werden, die nichts gegen Leistungsbilanzdefizite haben – vielleicht auf dem Mars!
Mehr Staat statt mehr Sparen
Gerade in der Krise wurde deutlich, wie wichtig Sozialsysteme sind. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Wirtschaft nicht weiter eingebrochen ist, die Arbeitslosigkeit nicht weiter anstieg und die private Nachfrage nicht stärker zurückging. Konjunkturpakete trugen zusätzlich dazu bei, die Auswirkungen der Krise gering zu halten, gerade auch in Deutschland. Im Zuge der „Schuldenkrise“ sind die Wohlfahrtssysteme nun erneut unter Beschuss geraten. Um die Staatsschulden zu reduzieren, wird vor allem auf der Ausgabenseite gespart. Es werden Leistungen, Pensionen oder Löhne gekürzt, öffentliche Beschäftigung verringert, Arbeitsmarktregulierungen gelockert und weitere Privatisierungen durchgeführt; und immer weitere Sparmaßnahmen gefordert. Problem und Ausgangspunkt der Krise war nicht der Staat, sondern die wachsende Ungleichheit und der Finanzsektor. Nun werden die Staatsschulden als Möglichkeit genutzt den Staat weiter zurückzudrängen. Die Einsparungen haben einerseits negative Effekte auf Löhne, Nachfrage und damit auf das Wachstum, andererseits verstärken sie auf längere Frist die Ungleichgewichte in der Einkommens- und Vermögensverteilung. Und zusätzlich werden durch die Sparpolitik die Möglichkeiten verringert, weitere Krisen abzufangen.
Zur Bewältigung der aktuellen Krisen (wachsende Ungleichheit, Ungleichgewichte, Klimawandel; siehe Einleitung des Buches „Mythen des Sparens“) und deren Ursachen werden jedoch andere Lösungen gebraucht. Besonders Deutschland, aber auch Österreich und die Niederlande müssen jetzt bereit sein, mehr auszugeben, die Löhne zu erhöhen und die steigende Ungleichheit bekämpfen, anstatt auf Kosten anderer Staaten Außenhandelsüberschussrekorde zu sammeln.
Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um die gekürzte Version eines Kapitels aus dem Buch „Mythen des Sparens. Antizyklische Alternativen zur Schuldenbremse“. Dieses wurde 2013 vom BEIGEWUM herausgegeben und wendet sich an alle, die der Behauptung „Sparen sei das Gebot der Stunde“ fundierte Argumente entgegensetzen wollen. Es werden zentrale Mythen aus den Bereichen „Schulden“, „Sparen“ und der damit verbundenen EU-Politik kritisch hinterfragt und die dahinterstehenden Zusammenhänge erklärt. Das Buch ist im VSA-Verlag erschienen und kann hier bestellt werden: http://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/mythen-des-sparen/