Staatsfinanzierung durch die EZB: Ein notwendiger Tabubruch
Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir vorab einen Beitrag(sentwurf) von Stefan Ederer, Lisa Mittendrein und Valentin Schwarz, der im Debattenforum des Kurswechsel 1/2015 erscheinen wird. Sie kritisieren darin insbesondere das auch durch die heutige EZB-Entscheidung unangetastete Dogma des Verbots der Finanzierung höherer staatlicher Defizite durch die Zentralbank.
Die Krise hat Europa fest im Griff. Der Aufschwung lässt weiter auf sich warten, die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Deflationsgefahr steigt kontinuierlich. Die Wirtschaftspolitik hat dem bislang wenig entgegengesetzt. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zwar das Vertrauen in den Weiterbestand der Währungsunion vorläufig wieder hergestellt, ihre Geldpolitik wirkt jedoch kaum mehr stimulierend auf die Realwirtschaft. Die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten beschränken sich auf Einschnitte in Sozialsysteme, Arbeitsrechte und öffentliche Aufgaben. Sie leisten damit nicht nur keinen Beitrag zur Stabilisierung der Konjunktur, sondern wirken den expansiven Maßnahmen der EZB sogar entgegen. Wesentlich effektiver war die Krisenbekämpfung hingegen in den USA. Die Regierung ließ dort während der Krise höhere Defizite zu als im Euroraum. Die Zentralbank kaufte große Mengen von Staatsanleihen und hielt so die Zinsen niedrig.
Als Folge davon wird die Rolle der Zentralbanken bei der Krisenbekämpfung intensiv diskutiert. Vor allem im englischsprachigen Raum ist dabei die Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. So thematisierte Adair Turner, ehemaliger Vorsitzender der britischen Finanzmarktregulierungsbehörde FSA, die Notwendigkeit, während der Krise auf das Instrument der direkten Staatsfinanzierung zurückzugreifen. Er berief sich dabei auf die Monetaristen Irving Fisher und Milton Friedman sowie auf Ben Bernanke, der eine ähnliche Politik in den 1990er-Jahren für Japan gefordert hatte. Er begab er sich damit allerdings auch in unmittelbare Nähe zur postkeynesianischen Geldtheorie, deren Vertreter_innen schon seit jeher die direkte Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank befürworten (Lerner 1943, Wray 2012).
In der Eurozone ist das allerdings weiterhin ein Tabu. Die direkte Staatsfinanzierung ist der EZB verboten, die „Disziplinierung“ der Regierungen durch die Finanzmärkte gilt als sinnvoll und notwendig.
EZB-Staatsfinanzierung als Krisenlösung …
Die Fortsetzung des bisherigen Kurses der Wirtschaftspolitik wird die Krise nicht lösen. Hingegen gibt es gute Gründe dafür, öffentliche Defizite über die Zentralbank zu finanzieren:
- Die Konjunktur kommt unter anderem deshalb nicht in Gang, weil Haushalte und Unternehmen in einigen Ländern hoch verschuldet sind und versuchen, ihre Vermögens- bzw. Eigenkapitalpositionen zu verbessern. Also eine Situation, die Richard Koo (2009) als „balance sheet recession“ bezeichnet. Zusätzliche öffentliche Ausgaben wären daher dringend notwendig, um die fehlende Nachfrage zu kompensieren.
- Der Fiskalpolitik sind jedoch mehrfach „die Hände gebunden“. Neben den Einschränkungen durch die EU-Fiskalregeln sorgt vor allem die Angst vor höheren Zinsen dafür, dass Staaten keine zusätzlichen Ausgaben tätigen.
- Die Geldpolitik der EZB ist bei ihrem Versuch, die Konjunktur zu stärken, längst an ihre Grenzen gestoßen. Der Leitzinssatz hat die Nullprozentmarke erreicht und kann nicht mehr weiter gesenkt werden. Unkonventionelle Maßnahmen wie gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte und Ankäufe forderungsbesicherter Wertpapiere zielen auf eine Ausweitung des Kreditangebots. Wenn, wie in der aktuellen Situation, die Unternehmen und Haushalte keine Kredite nachfragen, laufen diese Maßnahmen ins Leere.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten somit nur zusätzliche öffentliche Ausgaben – finanziert über die EZB. So würde unmittelbar Nachfrage geschaffen, ohne dass die Gefahr eines neuerlichen Anstiegs der Zinsen auf Staatsanleihen entsteht. Turner sieht in dieser Kombination aus expansiver Fiskalpolitik und Finanzierung über die Zentralbank, wie sie von den USA vorgemacht wurde, sogar die einzige Möglichkeit in der aktuellen Krise die Konjunktur zu stärken.
… und dauerhafte Maßnahme
Vieles spricht allerdings dafür, öffentliche Defizite auch abseits von Krisen durch die EZB zu finanzieren. Die Schuldenaufnahme auf den Finanzmärkten bringt auch über die aktuelle Krise hinaus Probleme mit sich:
- Gerade die Eurokrise zeigt, dass Finanzmärkte die ihnen unterstellte Stabilisierungsfunktion nicht wahrnehmen. Sie tendieren vielmehr dazu, prozyklisch zu agieren und dadurch Booms und Krisen zu verstärken. Die Finanzierungskosten für Staaten neigen zu übertriebenen Schwankungen, die eine langfristige Planbarkeit öffentlicher Ausgaben erschweren.
- Finanzmärkte repräsentieren vor allem den reichsten Teil einer Gesellschaft. Menschen mit niedrigen oder mittleren Einkommen haben kaum überschüssiges Einkommen, das sie in Finanzanlagen investieren können. Sie tragen aber zum allgemeinen Steueraufkommen bei, aus dem Staatsanleihen bedient werden. Staatsfinanzierung über Finanzmärkte bedeutet somit eine strukturelle Umverteilung von arm zu reich.
- Die Finanzierung öffentlicher Aufgaben über Finanzmärkte ordnet das Gemeinwohl privaten Kapitalinteressen unter. Investor_innen haben auf diesem Weg die Möglichkeit, Druck auf demokratisch legitimierte Regierungen auszuüben und sie im Interesse einer kleinen Minderheit zu beeinflussen.
- Der Finanzsektor ist in den vergangenen Jahrzehnten viel schneller gewachsen als die Realwirtschaft und die Häufigkeit von Finanzkrisen hat zugenommen. Die Umkehrung dieser Entwicklung ist ohne eine Restrukturierung und Verkleinerung des Finanzsektors unmöglich. Jede Transformation in diese Richtung ist nur möglich, wenn die Regierungen an fiskalischer Bewegungsfreiheit gewinnen und sich vom Finanzsektor emanzipieren.
Entscheidend sind die richtigen Regeln
Entscheidend für ihre Wirkung ist die institutionelle und regulatorische Ausgestaltung einer EZB-Staatsfinanzierung. Sinnvoll wäre beispielsweise, dass die unabhängige Zentralbank in Abstimmung mit den Regierungen der Mitgliedstaaten die Höhe der von der ihr finanzierten Defizite festlegt. Sie orientiert sich dabei an ihrem Mandat, das neben Preisstabilität auch Vollbeschäftigung umfassen sollte. Wenn Konjunktur und Inflation schwach sind, wird das Finanzierungsvolumen höher ausfallen als bei gut ausgelasteten Kapazitäten. So ist sichergestellt, dass Regierungen ihre Ausgaben nicht in beliebiger Höhe über die Zentralbank finanzieren. Sie haben keinen Zugriff auf die sprichwörtliche Notenpresse. Die – ohnehin nicht funktionierende – Disziplinierung durch die Finanzmärkte wird durch eine abgestimmte Finanzplanung ersetzt. Die Finanzierung erfolgt zinsfrei und direkt über den Primärmarkt. Das verhindert einen Anstieg der Zinsen der über den Markt gehandelten Staatsanleihen und der Belastung der öffentlichen Haushalte. Will man eine zu starke Konzentration der Macht bei der EZB vermeiden, kann die Abwicklung der Staatsfinanzierung auch an eine von ihr finanzierte, neu zu gründende und durch das EU-Parlament kontrollierte Institution übergehen.
Die institutionelle Teilung der Entscheidungskompetenz zwischen Regierungen und EZB stellt sicher, dass die Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank keine unkontrollierte Inflation auslöst. Das monetaristische Argument, dass eine Erhöhung der Zentralbankgeldmenge in jedem Fall stark steigende Preise bewirkt, ist falsch. Solange Kapazitäten unterausgelastet sind und die Arbeitslosigkeit hoch ist, bleibt der Preisauftrieb niedrig. Wenn sich die Zentralbank entsprechend ihrem Mandat auch an solchen realwirtschaftlichen Indikatoren orientiert, ist sichergestellt, dass die Inflation nicht übermäßig von ihrem Zielwert abweicht. Das Instrument der Zentralbankfinanzierung bewirkt auch nicht mehr oder weniger Inflation als traditionelle geld- und fiskalpolitische Maßnahmen. Ob Staatsausgaben über die EZB oder über die Finanzmärkte finanziert werden, spielt für ihre Wirkung auf die Preisentwicklung keine Rolle. Anders als in der heutigen Situation hat die Zentralbank sogar ein Instrument mehr, die Konjunktur zu steuern. Aktuell ist es problematisch, dass die EZB mit ihrem – für die gesamte Eurozone geltenden – Leitzins nicht auf die unterschiedliche konjunkturelle Lage in einzelnen Staaten reagieren kann. Mit dem Instrument der Staatsfinanzierung könnte das Defizit hingegen in Absprache mit den Regierungen für jedes Land maßgeschneidert werden.
Anspruch auf EZB-Geld sollen allerdings nur jene Regierungen haben, die bestimmte fiskalpolitische Bedingungen erfüllen. Diese bestehen aber nicht aus Einschnitten in Sozialsysteme, Arbeitsrechte und öffentliche Aufgaben, wie sie heute in der Eurozone als Voraussetzung für ESM-Kredite oder EZB-Garantien verlangt werden. Vielmehr sollen sich die Regierungen als Gegenleistung verpflichten, ihre reguläre Einnahmenbasis zu stärken. Dadurch wird verhindert, dass sie im gegenseitigen Wettbewerb Steuern senken und die fehlenden Einnahmen durch EZB-Geld ersetzen. Mögliche Elemente eines solchen Steuerpakts sind:
- Einhaltung einer Mindestabgabenquote
- Einhaltung eines Mindestanteils von Steuern auf Vermögen, Kapitaleinkommen und Unternehmensgewinnen am Gesamtaufkommen
- Vollständige Teilnahme an der europäischen Steuerkooperation, um Steuerbetrug zu effektiver zu bekämpfen
Die genauen Details sollten demokratisch verhandelt, beschlossen und bei Bedarf angepasst werden.
Schlussfolgerung
Die Finanzierung öffentlicher Defizite durch die Zentralbank ist eine wirksame und sinnvolle Maßnahme zur Krisenbekämpfung. Sie eröffnet jedoch auch über die Krise hinaus die Möglichkeit, die Finanzierung öffentlicher Aufgaben vom Diktat der Finanzmärkte zu befreien und die Stabilität des Wirtschaftssystems zu erhöhen. Die heutigen Kräfteverhältnisse in der europäischen Währungsunion sind noch weit davon entfernt, eine solche Art der Finanzierung zuzulassen. Dennoch ist es dringend notwendig, das herrschende Tabu zu brechen und die Debatte darüber in Gang zu bringen.
Literatur
Koo, R. (2009): The Holy Grail of Macroeconomics: Lessons from Japans Great Recession. John Wiley & Sons, Singapur.
Lerner, A. (1943): Functional Finance and the Federal Debt. Social Research, Vol. 10(1), S. 38–51.
Wray, R. (2012): Modern Money Theory. A Primer on Macroeconomics for Sovereign Monetary Systems. Palgrave Macmillan, London and New York.