Rezension: Politische Ökonomie Österreich – BEIGEWUM

Rezension: Politische Ökonomie Österreich

am 24. Februar 2016 um 11:03h

BEIGEWUM (Hg.): Poli­ti­sche Öko­no­mie Öster­reichs. Kon­ti­nui­tä­ten und Ver­än­de­rung seit dem EU-Bei­tritt. Wien: Man­del­baum Ver­lag 2015, 373 Seiten

Öster­reichs wirt­schaft­li­che, sozia­le und poli­ti­sche Gegen­wart und Geschich­te sind aufs Engs­te mit euro­päi­schen Ent­wick­lun­gen ver­wo­ben. 20 Jah­re EU-Bei­tritt stel­len einen wich­ti­gen äuße­ren Anlass zur Refle­xi­on dar. Dies umso mehr, als sich die Euro­päi­sche Uni­on wohl seit nun­mehr über sechs Jah­ren in einer tie­fen Kri­se befin­det, deren Über­win­dung noch nicht abseh­bar ist.

Der BEIGEWUM (Bei­rat für gesell­schafts- wirt­schafts- und umwelt­po­li­ti­sche Alter­na­ti­ven) hat sich der Her­aus­ga­be eines umfas­sen­den Wer­kes gestellt. Auch wenn der BEIGEWUM vie­len Lese­rIn­nen von Wirtschaft&Gesellschaft sicher­lich bekannt ist, so soll der Voll­stän­dig hal­ber doch fest­ge­hal­ten wer­den, dass die­ser Ver­ein von Sozi­al­wis­sen­schaf­te­rIn­nen aus unter­schied­li­chen Dis­zi­pli­nen getra­gen wird. Seit sei­ner Grün­dung 1985 trägt er regel­mä­ßig dazu bei, dass kri­ti­sche For­schungs­tä­tig­kei­ten in lau­fen­de poli­ti­sche Debat­ten ein­ge­bracht wer­den. Über die vier­tel­jähr­lich erschei­nen­de Zeit­schrift Kurs­wech­sel, zahl­rei­che Buch­pu­bli­ka­tio­nen und damit ver­bun­de­ne Ver­an­stal­tung wird dies umge­setzt. Der vor­lie­gen­de aktu­el­le Sam­mel­band zum 20-Jäh­ri­gen „EU-Bei­tritts­ju­bi­lä­um“ stellt den Ver­such dar, eine mög­lichst umfas­sen­de Dar­stel­lung der wirt­schaft­li­chen, gesell­schaft­li­chen, sozia­len und poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen in Öster­reich vor­zu­neh­men. Im Zuge der tra­di­tio­nell inter­dis­zi­pli­nä­ren Her­an­ge­hens­wei­se, die vie­le BEI­GEWUM-Publi­ka­tio­nen aus­zeich­net, wird auch hier ver­sucht unter­schied­li­che mit ein­an­der ver­knüpf­te zen­tra­le Aspek­te dar­zu­stel­len. Das Buch stellt eine zeit­ge­schicht­lich ein­ge­bet­te­te Ana­ly­se des Sta­tus Quo dar. Damit wird auch gewis­ser Maßen der gemein­sa­me metho­di­scher Nen­ner der Bei­trä­ge im Buch deut­lich. Sie ver­su­chen die Gegen­wart aus der Ver­gan­gen­heit zu rekon­stru­ie­ren. Über­dies wird, wenn auch mit unter­schied­li­cher Schwer­punkt­set­zung, so doch meist ver­sucht öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Ent­wick­lun­gen in ihrer intrinsi­schen Ver­knüp­fung zu behan­deln. Die „Poli­ti­sche Öko­no­mie Öster­reichs“ kann damit in der wei­te­ren Tra­di­ti­on polit­öko­no­mi­scher Per­spek­ti­ven ver­stan­den wer­den, wenn auch die ein­zel­nen AutorIn­nen sich viel­fach nicht unmit­tel­bar und expli­zit an spe­zi­fi­schen metho­di­schen Vor­gangs­wei­sen in der kri­ti­schen poli­ti­schen Öko­no­mie ori­en­tie­ren. Dafür bein­druckt der Band jedoch dadurch, dass es gelun­gen ist für die ein­zel­nen Bei­trä­ge und damit die abge­deck­ten Berei­che viel­fach „die“ aus­ge­wie­se­nen Fach­ex­per­tIn­nen zu gewin­nen. Dar­un­ter – wie sicher­lich nicht über­ra­schend – nicht nur zahl­rei­che AutorIn­nen aus dem uni­ver­si­tä­ren bzw. aka­de­mi­schen Umfeld, son­dern auch aus der Arbeiterkammer.

Wie soll nun das Unter­fan­gen einer Ana­ly­se und Dar­stel­lung der Poli­ti­schen Öko­no­mie Öster­reichs ange­gan­gen wer­den? Sind doch alle Berei­che und Dimen­sio­nen mit­ein­an­der ver­wo­ben. Im Buch wird dazu eine prag­ma­ti­sche Vor­gangs­wei­se gewählt: Auf­bau­end auf eine umfas­sen­de Ein­füh­rung durch das Team der Her­aus­ge­be­rIn­nen (Joa­chim Becker, Vale­rie Bösch, Roma­na Brait, Georg Feigl, Tobi­as Ori­sch­nig, Phil­ipp Poyn­t­ner, Jana Schult­heis) folg­ten den stär­ker Öko­no­mie-zen­trier­ten Ana­ly­sen im ers­ten Teil folgt ein eher poli­tik­wis­sen­schaft­lich-insti­tu­tio­nel­ler zwei­ter Teil.

Zu Beginn des ers­ten Teils steht eine Ana­ly­se des Akku­mu­la­ti­ons- und Ent­wick­lungs­mo­dells (Ste­fan Ede­rer, Engel­bert Stock­ham­mer, Pre­drag Ćet­ko­vić). Im Anschluss erfolgt die Ana­ly­se ein­zel­ner Wirt­schafts­sek­to­ren. Der Bogen spannt sich dabei von der Ent­wick­lung der Real­wirt­schaft und der Rol­le der Indus­trie­po­li­tik (Sil­via Ange­lo, Mar­kus Mar­ter­bau­er), über den Agrar­sek­tor (Irmi Sal­zer),  Öster­reichs Ban­ken (Chris­ti­na Wie­ser, Tho­mas Zot­ter), den Struk­tur­wan­del im kom­mer­zi­el­len Dienst­leis­tungs­sek­tor (San­dra Brei­tene­der) bis zu einem Über­blick zu den sozia­len Dienst­leis­tun­gen in Öster­reich (Karin Heit­zmann, August Öster­le, Astrid Pen­nerstor­fer). Der Abschluss die­ses Haupt­teils erfolgt durch eine sys­te­ma­ti­sche Ver­or­tung Öster­reichs zwi­schen Deutsch­land und Ost­eu­ro­pa (Joa­chim Becker, Fran­zis­ka Diss­l­ba­cher, Rudy Weis­sen­ba­cher), ergänzt um eine Ana­ly­se der Regio­nal­ent­wick­lung in Öster­reich (Chris­ti­an Rei­ner, Hel­mut Gas­s­ler, Sascha Sardadvar).

Der zwei­ten Haupt­teil des Sam­mel­ban­des beginnt mit einer Ana­ly­se der umfas­sen­den Ver­än­de­run­gen aber auch Kon­ti­nui­tä­ten im Aus­tro-Kor­po­ra­tis­mus (Eme­rich Tálos). Damit ver­knüpft erfolgt die Unter­su­chung wei­te­rer für die öster­rei­chi­schen Ent­wick­lun­gen rele­van­ter Poli­tik­fel­der. Auch wenn die Poli­tik und insti­tu­tio­nel­le Aus­ge­stal­tung der EZB von Öster­reich weit­ge­hend unbe­ein­flusst erfolgt, so hat sie doch wich­ti­ge Aus­wir­kun­gen auf das Land und wird ent­spre­chend im Band ana­ly­siert (Eli­sa­beth Blaha). Einen wei­te­ren zen­tra­len Eck­punkt stellt die Ana­ly­se der Ver­än­de­rung der natio­na­len Bud­get­po­li­tik im Kon­text von Euro­päi­sie­rung und Neo­li­be­ra­li­sie­rung dar (Georg Feigl, Chris­ta Schla­ger). In der Fol­ge wer­den die sozi­al­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen (Chris­ti­ne May­r­hu­ber), die Ver­än­de­run­gen in der Beschäf­ti­gungs­po­li­tik (Susan­ne Per­ni­cka, Bet­ti­na Stad­ler), die durch Euro­päi­sie­rung gekenn­zeich­ne­te Migra­ti­ons­po­li­tik (Ilker Ataç, Chrs­tioph Reinprecht), die EU-Gleich­stel­lungs­po­li­tik und die Situa­ti­on der Frau­en (Katha­ri­na Mader, Jana Schult­heiss, Edith Walt­ner) und schließ­lich die Ener­gie­po­li­tik ana­ly­siert (Jür­gen Schnei­der, Han­na Simons, Tobi­as Orischnig).

Im drit­ten und letz­ten Teil­ab­schnitt des Buches wird die Fra­ge nach den Gewin­ne­rIn­nen und Ver­lie­re­rIn­nen gestellt. Der ers­te Bei­trag unter­nimmt dabei den Ver­such einer Sozi­al­struk­tur­ana­ly­se (Ste­fan Angel). Der zwei­te und abschlie­ßen­de Text zeigt deut­lich, wie sich die Ver­tei­lung von Ein­kom­men und Ver­mö­gen hin zuguns­ten der Rei­che­ren, d.h. zu Kapi­tal aber auch zu hohen Arbeits­ein­kom­men (Stich­wort: Mana­ge­rIn­nen­ge­häl­ter) ver­scho­ben hat (Wil­fried Alt­zin­ger, Mathi­as Moser, Mat­thi­as Schnet­zer). Wer die Gewin­ne­rIn­nen und wer die Ver­lie­re­rIn­nen in Öster­reich seit dem EU-Bei­trag waren, wird damit sehr ein­drucks­voll dar­ge­stellt. Wenn es im Band auch gelingt die ent­spre­chen­den Inter­es­sen die­ser Poli­tik ein­deu­tig zu benen­nen, so wäre eine noch detail­lier­te Ana­ly­se der kon­kre­ten inner­ös­ter­rei­chi­schen Herr­schafts- und Durch­set­zungs­stra­te­gien, die zu die­sen Ent­wick­lun­gen geführt haben, sicher­lich auch für die Lese­rIn­nen von Inter­es­se. Die­se Leer­stel­le mag wohl aber auch Aus­druck dafür sein, dass die­se kon­kre­ten Zusam­men­hän­ge und Mecha­nis­men gene­rell weni­ger erforscht wer­den. Den­noch darf nicht ver­ges­sen wer­den, dass – wie im Band auch deut­lich dar­ge­stellt – Öster­reichs Ent­wick­lung wesent­lich von euro­päi­schen Pro­zes­sen abhängt. Die Bilanz der letz­ten 20 Jah­re seit dem EU-Bei­tritt fällt daher durch­wach­sen aus. Die Kri­se in Euro­pa ist und bleibt (für abseh­ba­re Zeit) das bestim­men­de Moment. Eine pro­gres­si­ve Lösung im Sin­ne aller euro­päi­scher Arbeit­neh­me­rIn­nen ist auf EU-Ebe­ne nicht in Sicht. Der Aus­blick – auch für Öster­reich – bleibt daher ent­spre­chend getrübt.

Ins­ge­samt bie­tet der Sam­mel­band eine aus­ge­spro­chen gelun­gen, sehr gut ver­ständ­li­chen und mit aus­sa­ge­kräf­ti­gem empi­ri­schem Mate­ri­al ver­se­he­nen brei­ten und fun­dier­ten Über­blick über die zen­tra­len Ver­än­de­run­gen der öko­no­mi­schen, poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung der letz­ten 20 Jah­re. Er eig­net sich daher nicht nur vor­züg­lich als äußerst kurz­wei­li­ger und auf­schluss­rei­cher Lese­stoff, son­dern soll­te auch in kei­ner (wenn auch noch so beschei­de­nen) Biblio­thek fehlen.

Johan­nes Jäger


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