2016 März – BEIGEWUM

Archiv für März 2016


Adressing Europe’s Multiple Crises: An Agenda for economic transformation, solidarity and democracy

25. März 2016 – 13:52 Uhr

Addres­sing Europe’s Mul­ti­ple Cri­ses: An agen­da for eco­no­mic trans­for­ma­ti­on, soli­da­ri­ty and democracy 

Pre­sen­ta­ti­on of the Euro­Me­mo­ran­dum 2016

 

Orga­ni­zers: ÖFSE, BEIGEWUM, in coope­ra­ti­on with Wirt­schafts­po­li­ti­schen Akademie

20 April 2016, 18.00 Uhr, C3-Cen­trum für Inter­na­tio­na­le Ent­wick­lung, Sen­sen­gas­se 3

 

  1. Con­text and Motivation

The con­ti­nuing low growth rate envi­ron­ment in many EU coun­tries, sta­gna­ti­on in others and even reces­si­on in some, have led not only to a gene­ral slow-down, but also to deepe­ning divi­si­ons wit­hin the EU, both bet­ween mem­ber sta­tes and bet­ween regi­ons. Such diver­gen­ces are reflec­ted in the basic eco­no­mic and social indi­ca­tors of the area, as well as in the demo­cra­tic pro­cess on the poli­ti­cal level, as cer­tain coun­tries acqui­re a hege­mo­nic role in the shaping of EU poli­cy, while par­ti­cu­lar group inte­rests, nota­b­ly tho­se of finan­cial capi­tal, beco­me domi­nant across the EU as a who­le. The expe­ri­en­ces in coun­tries like Greece or Por­tu­gal amply reve­a­led the con­nec­ting links bet­ween poli­tics and eco­no­mics in the EU, i.e. the power imba­lan­ce bet­ween the ruling eli­tes and socie­ty at large.

Fur­ther­mo­re, it rai­ses serious issu­es of con­sti­tu­tio­na­lism: name­ly, the ten­den­cy of the EU insti­tu­ti­ons to restrict the area of demo­cra­tic decisi­on making by demo­cra­ti­cal­ly elec­ted governments, focu­sing ins­tead on tech­no­cra­tic rules impo­sed by unde­mo­cra­tic decisi­on bodies. In our deba­te we will address this anti-demo­cra­tic bias by dis­cus­sing the case of Por­tu­gal and high­light some poli­cy are­as like tra­de, gen­de­rand fis­cal policies.

In this sen­se, a dis­cus­sion of alter­na­ti­ve pro­po­sals to the cur­rent EU eco­no­mic and social poli­cy needs to take into account the under­ly­ing poli­ti­cal pro­cess and the squee­zing out of demo­cra­cy. The Euro­Me­mo­ran­dum 2016 cri­ti­cal­ly ana­ly­ses recent eco­no­mic deve­lo­p­ments in Euro­pe and empha­si­ses the strong need for an alter­na­ti­ve eco­no­mic poli­cy that is based on the princi­ples of demo­cra­tic par­ti­ci­pa­ti­on, social jus­ti­ce and envi­ron­men­tal sustainability.

 

  1. Programme

Mode­ra­ti­on: Roma­na Brait (BEIGEWUM)

18.00 – 18.10:   Wel­co­me Address

18.10 – 18.20:   Pre­sen­ta­ti­on of the Euro­Me­mo­ran­dum 2016 (John Grahl, Euro­Me­mo Group)

18.20 – 19.15:   Round­ta­ble Dis­cus­sion “The cri­sis of demo­cra­cy in the EU: impli­ca­ti­ons and pos­si­ble reme­di­es”, with:

  • Luís Lopes, Uni­ver­si­ty of Coim­bra, Portugal
  • Wer­ner Raza, ÖFSE and Euro­Me­mo Group
  • Ste­fa­nie Wöhl (FH des bfi Wien)

19.15 – 20.00:   Gene­ral discussion

Wine recep­ti­on

 

The Euro­Me­mo­ran­dum 2016 can be down­loa­ded here

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Die Reichen liegen uns auf der Tasche

21. März 2016 – 10:48 Uhr

Erschie­nen im Mosa­ik-Blog am 09 März 2016

Ob in der Flücht­lings­de­bat­te, bei der Höhe der Min­dest­si­che­rung oder jüngst bei den Pen­sio­nen, ein Argu­ment klebt an aktu­el­len poli­ti­schen Debat­ten wie Kau­gum­mi: „Wir kön­nen uns den Sozi­al­staat nicht mehr leis­ten!“ Hin­ter dem alle Jah­re wie­der­keh­ren­den, neo­li­be­ra­len Angriff auf die sozia­len Siche­rungs­sys­te­me ver­steckt sich „Klas­sen­kampf von oben“. Niko­laus Dim­mel hat das kürz­lich anhand der Debat­te um die Min­dest­si­che­rung bereits auf mosa­ik ange­merkt. Wir sol­len glau­ben, dass wir uns „die Armen“ nicht mehr leis­ten kön­nen. In Wirk­lich­keit ist es aber genau umge­kehrt: Nicht die Armen, son­dern die Rei­chen lie­gen uns sprich­wört­lich auf der Tasche.

Öster­reich gilt euro­pa­weit als eines der Län­der mit der höchs­ten Ver­mö­gensun­gleich­heit (Gini-Koef­fi­zi­ent von 0,76 für Net­to-Ver­mö­gen). Die reichs­ten 5 Pro­zent besit­zen hier­zu­lan­de rund 45 Pro­zent des Gesamt­ver­mö­gen; die unters­ten 50 Pro­zent nur knapp 4 Pro­zent. Die Ver­mö­gens­ver­tei­lung in Öster­reich hat damit die Form eines „Klo­be­sens“. Ganz Weni­ge ste­hen an der Spit­ze und haben ganz viel Ver­mö­gen zu Ver­fü­gung, wäh­rend ganz vie­le ganz unten stehen.

Damit gibt es bei der Ver­tei­lung der Ver­mö­gen in Öster­reich auch kei­ne brei­te Mit­tel­schicht, wie wir sie etwa bei der Ein­kom­mens­ver­tei­lung sehen. Hil­de Weiss und ich haben in einer Stu­die her­aus­ge­ar­bei­tet, dass sich gera­de anhand der Ver­mö­gens­ver­tei­lung die Klas­sen­struk­tur der öster­rei­chi­schen Gesell­schaft beson­ders gut zei­gen lässt.

Sieht man sich genau­er an, wer zu den obers­ten 5 Pro­zent gehört und wie sie dort hin­ge­kom­men sind, so offen­ba­ren sich eini­ge inter­es­san­te Muster:

1.Wer oben ist, bleibt oben – wer unten ist, bleibt unten

Ent­ge­gen dem Mythos vom „ame­ri­ka­ni­schen Traum“ (von der Tel­ler­wä­sche­rin zur Mil­lio­nä­rin) ist es den meis­ten Arbeit­neh­me­rIn­nen kaum mög­lich, wirk­lich reich zu wer­den. Das hat zwei­er­lei Grün­de: Ers­tens bezie­hen nur die obers­ten 5 Pro­zent in rele­van­tem Aus­maß Kapi­tal­ein­kom­men (also Ein­künf­te aus Mie­ten, Zin­sen oder Betei­li­gun­gen). Dem­ge­gen­über haben die unters­ten 40 Pro­zent kaum rele­van­te Kapi­tal­ein­künf­te – sie bezie­hen nur Ein­künf­te aus Arbeit. Aber: durch Arbeit allein wird man sel­ten reich.

Zwei­tens spielt Erben in Öster­reich eine zen­tra­le Rol­le bei der Ver­mö­gens­ak­ku­mu­la­ti­on. Es erhal­ten nur etwa 10 Pro­zent der ärme­ren Haus­hal­te, aber 75 Pro­zent der reichs­ten Haus­hal­te in Öster­reich ein Erbe – und auch die durch­schnitt­li­chen Sum­men sind hier höchst unter­schied­lich: Von 14.000 Euro am unte­ren Ende zu über 240.000 Euro bei den obers­ten 20 Pro­zent. In einer kürz­lich erschie­ne­nen Stu­die des WU-Insti­tu­tes INEQ wird genau­er gezeigt, wie wich­tig das Erbe für die Posi­ti­on auf der Ver­mö­gens­ver­tei­lung ist: Ein/​e Lohn­ab­hän­gi­geR muss etwa die Hälf­te der Ein­kom­mens­ver­tei­lung über­sprin­gen, um den Ein­fluss einer Erb­schaft auf seine/​ihre rela­ti­ve Ver­mö­gens­po­si­ti­on aus­zu­glei­chen. Die Start­chan­cen der ver­schie­de­nen Haus­hal­te sind also höchst ungleich.

  1. Reich­tum ist männlich

Nicht nur bei der Einkommens‑, son­dern auch bei der Ver­mö­gens­ver­tei­lung gibt es star­ke Anzei­chen für einen gen­der gap. Lei­der gibt es der­zeit für Öster­reich nur Daten auf Haus­halts­ebe­ne, nicht auf Indi­vi­du­al­ebe­ne. Die­se zei­gen aber, dass das durch­schnitt­li­che Ver­mö­gen von weib­li­chen Sin­gle-Haus­hal­ten in Öster­reich um gut 40 Pro­zent nied­ri­ger ist, als das der männ­li­chen Sin­gle-Haus­hal­te. Mit stei­gen­der Bil­dung neh­men die Unter­schie­de im Net­to-Ver­mö­gen zwi­schen Män­nern und Frau­en wei­ter zu. Frau­en erben auch anders bzw. weni­ger. Frau­en kön­nen damit nie so hohe Ver­mö­gen anhäu­fen wie Männer.

  1. Die sozia­len Unter­schie­de wer­den vertuscht

Der offen­sicht­li­chen Ver­mö­gensun­gleich­heit zum Trotz ord­nen sich die meis­ten Men­schen eher der „Mit­te“ zu. Damit über­schät­zen sich ärme­re Haus­hal­te, wäh­rend rei­che Haus­hal­te sich unter­schät­zen. Mar­tin Schenk argu­men­tiert, dass die­ser fal­schen Selbst­ein­schät­zung ein ideo­lo­gi­sches Momen­tum zugrun­de liegt, wel­ches der Ver­schleie­rung sozia­ler Ungleich­hei­ten dient: Alle sol­len glau­ben, dass sie ihr gerech­tes Stück vom Kuchen bekom­men. Dadurch wer­den sozia­le Miss­stän­de nicht ange­pran­gert, die sozia­le Ord­nung wird als „natür­lich“ ange­se­hen und poli­ti­sche Maß­nah­men, die nur den Obe­ren der Gesell­schaft die­nen, wer­den mit­ge­tra­gen. Durch die­sen „Mit­te-Mythos“ sto­ßen auch neo­li­be­ra­le Über­zeu­gun­gen – wie eben jene, dass „wir“ uns die Armen nicht mehr leis­ten kön­nen – in brei­ten Tei­len der Gesell­schaft auf Unterstützung.

  1. Zu viel pri­va­ter Reich­tum zer­stört die Gesellschaft

Die For­schung zeigt, dass zu viel Ungleich­heit und pri­va­ter Reich­tum eine Gesell­schaft zer­stö­ren. Rei­che zie­hen sich ger­ne aus ihrer gesell­schaft­li­chen Ver­ant­wor­tung zurück und schot­ten sich räum­lich wie sozi­al ab. Ver­mö­gen wird dadurch wei­ter pri­va­ti­siert. Gleich­zei­tig wer­den Ver­lus­te kol­lek­ti­viert und in gesell­schaft­lich wich­ti­gen Berei­chen, wie Bil­dung oder Sozia­lem, Aus­ga­ben gekürzt. Das führt dazu, dass sich die Gesell­schaft wei­ter spal­tet. Die Armut Vie­ler hängt also mit dem Reich­tum Weni­ger zusam­men. Das wuss­te schon Bert­hold Brecht:

Rei­cher Mann und armer Mann
stan­den da und sahn sich an. 
Und der Arme sag­te bleich: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“.“

Die hier skiz­zier­ten Ent­wick­lun­gen müs­sen gestoppt wer­den. Auf­ga­be der gesell­schaft­li­chen Lin­ken ist es, uner­müd­lich auf die oben erwähn­ten Zah­len, Daten, Fak­ten hin­zu­wei­sen, aber auch wei­ter für die Ein­füh­rung einer Ver­mö­gens- und einer umfas­sen­de­ren Erb­schafts­steu­er zu kämp­fen. Wir müs­sen gemein­sam Visio­nen für eine gerech­te Gesell­schaft jen­seits des finanz­do­mi­nier­ten Kapi­ta­lis­mus erarbeiten.

Julia Hof­mann ist aktiv beim BEIGEWUM und dem Jaho­da-Bau­er-Insti­tut, die 2014 gemein­sam mit ATTAC und der Armuts­kon­fe­renz das Pro­jekt „Mythen des Reich­tums“ ins Leben geru­fen haben.

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Arbeitszeitverkürzung als Beschäftigungsmotor?

11. März 2016 – 16:36 Uhr

Ursprüng­lich erschie­nen im Blog A&W, am 11. März 2016


Seit der Finanz- und Wirt­schafts­kri­se 2008 sind in einer Viel­zahl von euro­päi­schen Staa­ten die Arbeits­lo­sen­zah­len ange­stie­gen. Als ein Instru­ment gegen die­ses Pro­blem wird vor allem von Gewerk­schafts­sei­te immer häu­fi­ger eine Arbeits­zeit­ver­kür­zung gefor­dert. Aber kann eine Ver­kür­zung der Arbeits­zeit Beschäf­ti­gung schaf­fen? Die Erfah­run­gen mit der Ver­kür­zung von Arbeits­zeit in Euro­pa zei­gen, dass eine Arbeits­ver­kür­zung zusätz­li­che Arbeits­plät­ze brin­gen kann – zumin­dest wenn bestimm­te Vor­aus­set­zun­gen wie die Mög­lich­keit zur Reor­ga­ni­sa­ti­on der Arbeit gege­ben sind.

Der Trend zu Ver­kür­zung der Wochen­ar­beits­zeit besteht in Euro­pa seit Beginn des vori­gen Jahr­hun­derts. Wäh­rend damals eine 60-Stun­den-Woche in Euro­pa üblich war, hat sich bis 1980 eine 40-Stun­den-Woche in den meis­ten euro­päi­schen Län­dern durch­ge­setzt. Seit­dem bleibt die wöchent­li­che Arbeits­zeit im Durch­schnitt fast kon­stant und ist in man­chen Län­dern wie­der im Stei­gen begriffen.

Quel­le: Poyn­t­ner (2015), Daten Huber­mann und Minns (2007). Nor­mal­ar­beits­zeit, ohne Urlaub etc. Für Öster­reich ist die­se Zeit­rei­he nicht vor­han­den; ver­gleich­ba­re Daten für Spa­ni­en feh­len zwi­schen 1935 und 1980.

Der Trend zu kür­ze­ren Arbeits­zei­ten hat sich im Durch­schnitt der Voll­zeit­be­schäf­tig­ten in den letz­ten Jahr­zehn­ten deut­lich ver­lang­samt. Sieht man von dem Kri­sen­in­stru­ment der Kurz­ar­beit ab gab es weni­ge Initia­ti­ven, die eine all­ge­mei­ne­re Ver­kür­zung der Wochen­ar­beits­zeit zum Ziel hat­ten. Aller­dings waren in ein­zel­nen Sek­to­ren oder Fir­men wei­te­re Maß­nah­men für eine Ver­kür­zung der Arbeits­zeit zu ver­zeich­nen, wie bspw. die Ein­füh­rung des 6‑Stunden Tages in einem öffent­li­chen Pfle­ge­heim im schwe­di­schen Göte­borg, eine Frei­zeit­op­ti­on in Kol­lek­tiv­ver­trä­gen in Öster­reich, oder Frei­stel­lungs- und Karenz­zei­ten (sie­he unten). In eini­gen Län­dern wie Deutsch­land (im öffent­li­chen Dienst und eini­gen Bran­chen, wie z.B. dem WSI-Arbeits­zeit­ka­len­der 2014 zu ent­neh­men) und Frank­reich (Aus­wei­tung der erlaub­ten Über­stun­den) ist aber auch ein Trend zu län­ge­ren Arbeits­zei­ten zu beobachten.

Für euro­päi­sche Gewerk­schaf­ten ver­lor das The­ma Arbeits­zeit­ver­kür­zung in Kol­lek­tiv­ver­trags­ver­hand­lun­gen nach der Ein­füh­rung der 40-Stun­den-Woche gegen­über Lohn­for­de­run­gen an Bedeu­tung. Dies hat zum Teil mit ver­än­der­ten wirt­schaft­li­chen (wie der Ent­schleu­ni­gung des Pro­duk­ti­vi­täts­wachs­tums) und insti­tu­tio­nel­len (rück­läu­fi­ge Gewerk­schafts­ab­de­ckung) Rah­men­be­din­gun­gen zu tun, die den Ver­hand­lungs­spiel­raum von Gewerk­schaf­ten ten­den­zi­ell ver­rin­gern. Hin­zu kommt, dass ange­sichts der Belas­tung bei einer 60-Stun­den-Woche eine Ver­kür­zung der Arbeits­zeit für die Beschäf­tig­ten selbst eine viel höhe­re Prio­ri­tät hat als das bei einer 40-Stun­den Woche der Fall ist.

Beschäf­ti­gungs­plus durch Arbeits­zeit­ver­kür­zung in Frankreich …

Der jüngs­te Ver­such, die Arbeits­zeit für umfas­sen­de Bevöl­ke­rungs­grup­pen zu redu­zie­ren, wur­de vor fünf­zehn Jah­ren in Frank­reich unter­nom­men. Per Gesetz wur­den in einem ers­ten Schritt im Jahr 1998 Unter­neh­men dazu ange­regt, die Wochen­ar­beits­zeit von 39 auf 35 Stun­den zu ver­kür­zen. Die Vor­aus­set­zung für finan­zi­el­le Unter­stüt­zung war eine Ver­kür­zung der Arbeits­zeit um min­des­tens 10% sowie eine Aus­wei­tung der Beschäf­ti­gung um min­des­tens 6%. Im Jahr 2000 wur­de die 35-Stun­den-Woche ver­pflich­tend für Unter­neh­men mit mehr als 20 Ange­stell­ten, 2002 auch für klei­ne­re Unter­neh­men ein­ge­führt. Beglei­tet wur­de die Reform durch eine Locke­rung der Tages- und Wochen­höchst­ar­beits­zeit. Nach 2002 wur­den durch einen Regie­rungs­wech­sel die Maß­nah­men suk­zes­si­ve zurück­ge­nom­men, För­de­run­gen abge­schafft, Steu­ern und Sozi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge auf Über­stun­den gesenkt und Über­stun­den­kon­tin­gen­te aus­ge­wei­tet. Die 35-Stun­den-Woche wur­de also deut­lich ver­wäs­sert und Maß­nah­men in die die Gegen­rich­tung gesetzt.

Die Ein­füh­rung der 35-Stun­den-Woche in Frank­reich hat­te das kla­re poli­ti­sche Ziel, die Arbeits­lo­sig­keit zu ver­rin­gern, die 1997 mit 12,5% weit über dem EU-Durch­schnitt lag. Die­ses Ziel, wenn auch nicht in der erwar­te­ten Höhe, wur­de auch erreicht, nur über die genaue Grö­ße herrscht Unei­nig­keit (ex-post Schät­zun­gen lie­gen zwi­schen einem Beschäf­ti­gungs­an­stieg von 3,4% bis 7%). Auch wenn ein Beschäf­ti­gungs­an­stieg nicht not­wen­di­ger­wei­se eine Sen­kung der Arbeits­lo­sen­quo­te bedeu­ten muss (z.B. wenn alle neue Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se von Per­so­nen ein­ge­gan­gen wer­den, die dem Arbeits­markt vor­her nicht zur Ver­fü­gung stan­den) – in Frank­reich hat­te die Arbeits­zeit­ver­kür­zung laut Stu­di­en, die neben Beschäf­ti­gung auch expli­zit die Reak­ti­on der Arbeits­lo­sig­keit betrach­ten, eine Sen­kung der Arbeits­lo­sig­keit zur Fol­ge (sie­he z.B. Schrei­ber und Loge­ay 2006 oder Bun­el 2004).

… und Unklar­heit in Deutschland

Eine wei­te­re gro­ße Reform wur­de in Deutsch­land vor­ge­nom­men, wo im Metall- und Print­sek­tor von 1984 bis 1994 die Wochen­ar­beits­zeit von 40 auf 36 Stun­den gesenkt wur­de. Die Ein­schät­zung der Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te die­ser Reform fal­len weit­aus weni­ger klar aus als bei der fran­zö­si­schen Reform: Nega­ti­ve Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te wer­den eben­so gefun­den wie neu­tra­le oder posi­ti­ve Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te.

Das lässt sich teil­wei­se durch die Art der Durch­füh­rung der Arbeits­zeit­ver­kür­zung erklä­ren: Wäh­rend die Regie­rung in Frank­reich Sub­ven­tio­nen an Betrie­be zahl­te, die Arbeits­zeit ver­kürz­ten und Beschäf­ti­gung erhöh­ten, gab es in Deutsch­land kei­ne sol­che Unter­stüt­zung. Hunt ver­mu­tet bei­spiels­wei­se, dass posi­ti­ve Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te der Ver­kür­zung der Arbeits­zeit durch Anstie­ge im Stun­den­lohn zunich­te gemacht wur­den – aller­dings ist die­se The­se umstrit­ten. Auch wenn ein Anstieg des Stun­den­loh­nes den Fak­tor Arbeit ver­teu­ert, sind für Unter­neh­men nicht die abso­lu­ten Lohn­kos­ten, son­dern die Lohn­stück­kos­ten der ent­schei­den­de Fak­tor. Lohn­stück­kos­ten wer­den eben­so von der Pro­duk­ti­vi­täts­ent­wick­lung beein­flusst, und Arbeits­zeit­ver­kür­zung führt meist zu höhe­rer Pro­duk­ti­vi­tät. Dies hat zum einen den Grund, dass Beschäf­tig­te bei gerin­ge­rer Arbeits­zeit pro­duk­ti­ver sind, oder anders aus­ge­drückt zusätz­li­che Stun­den bei einem hohen Arbeits­zeit­ni­veau weni­ger pro­duk­tiv sind. Zum ande­ren sind Ver­kür­zun­gen der Wochen­ar­beits­zeit oft mit einer Reor­ga­ni­sa­ti­on der Arbeits­struk­tu­ren in Unter­neh­men ver­bun­den, die eine eige­ne Quel­le von Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­run­gen sein können.

Zahl­rei­che Wir­kungs­ka­nä­le von Ver­kür­zun­gen der Wochenarbeitszeit

Prin­zi­pi­ell gibt es zahl­rei­che Wir­kungs­ka­nä­le, durch die eine Ver­kür­zung der Wochen­ar­beits­zeit Aus­wir­kun­gen auf die Beschäf­ti­gung haben kann. Selbst ein­fachs­te öko­no­mi­sche Model­le kön­nen daher kei­ne ein­deu­ti­ge Aus­sa­ge zur Rich­tung der Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te tref­fen. Posi­ti­ve Beschäf­ti­gungs­aus­wir­kun­gen sind bei­spiels­wei­se wahr­schein­li­cher, wenn Fix­kos­ten von Neu­ein­stel­lun­gen (Kos­ten für Ein­ar­bei­tung, Ein­schu­lung, Bereit­stel­lung von Infra­struk­tur etc.) gering sind und wenn genü­gend Arbeits­su­chen­de mit ent­spre­chen­der Qua­li­fi­ka­ti­on ver­füg­bar sind. Auch Nach­fra­ge­ef­fek­te durch stei­gen­den Stun­den­lohn (die im Zuge von oder nach Arbeits­zeit­ver­kür­zun­gen häu­fig mit­ver­han­delt wer­den) kön­nen Quel­len von Arbeits­nach­fra­ge sein – wobei die­ser Effekt vor allem bei Unter­aus­las­tung der Pro­duk­ti­ons­fak­to­ren zum Tra­gen kommt. Kei­nen oder sogar einen nega­ti­ven Beschäf­ti­gungs­ef­fekt wird eine Arbeits­zeit­ver­kür­zung dann bewir­ken, wenn Neu­ein­stel­lun­gen mit hohen Fix­kos­ten ver­bun­den sind, dem Arbeits­markt kei­ne geeig­ne­ten Arbeits­su­chen­den zur Ver­fü­gung ste­hen oder Lohn­stück­kos­ten stark ansteigen.

Die viel­fäl­ti­gen Wirk­wei­sen einer Arbeits­zeit­ver­kür­zung auf Beschäf­ti­gung machen die empi­ri­sche Quan­ti­fi­zie­rung her­aus­for­dernd. Folg­lich gibt es in der Lite­ra­tur auch kei­nen Kon­sens über die Wir­kungs­rich­tung einer Arbeits­zeit­ver­kür­zung auf die Beschäf­ti­gung. Eine Zusam­men­schau der Lite­ra­tur fin­det sich u.a. bei Schwen­din­ger (2015), Bosch und Lehn­dorff (2001) und Poyn­t­ner (2015). Es ist anzu­mer­ken, dass neben den unter­schied­li­chen Umset­zungs­ar­ten und insti­tu­tio­nel­len Rah­men­be­din­gun­gen auch metho­di­sche Schwie­rig­kei­ten Grund für unter­schied­li­che Ergeb­nis­se sein kön­nen. So ist z.B. für die Quan­ti­fi­zie­rung des Beschäf­ti­gungs­ef­fek­tes durch die Ver­kür­zung der Wochen­ar­beits­zeit die Schät­zung der hypo­the­ti­schen Beschäf­ti­gungs­ent­wick­lung ohne Arbeits­zeit­ver­kür­zung not­wen­dig. Die­se Schät­zung ist immer mit Unsi­cher­hei­ten behaf­tet. Aus die­sem und ande­ren Grün­den ist die Her­stel­lung eines ein­deu­ti­gen Zusam­men­hangs oft schwierig.

Bedin­gun­gen für die Arbeits­zeit­ver­kür­zung als Beschäftigungsmotor

Die oben genann­ten Über­le­gun­gen kön­nen her­an­ge­zo­gen wer­den, Bedin­gun­gen für eine erfolg­rei­che Arbeits­zeit­ver­kür­zung her­aus­zu­ar­bei­ten, wie es z.B. Bosch und Lehn­dorff (2001) versuchen.

Nach­dem bei gro­ßen Refor­men die vor­herr­schen­den orga­ni­sa­to­ri­schen Para­dig­men des 8‑Stun­den-Tages /​ der 5‑Ta­ge-Woche in Fra­ge gestellt wer­den, ist die Fra­ge zen­tral, ob die Arbeits(zeit)organisation fle­xi­bel an neue Arbeits­zeit-Sys­te­me ange­passt wer­den kann. In Frank­reich war eine sol­che Fle­xi­bi­li­sie­rung Teil des Pake­tes zur 35-Stunden-Woche.

Um einer mög­li­chen Knapp­heit an aus­ge­bil­de­ten Arbeits­kräf­ten ent­ge­gen­zu­wir­ken, emp­fiehlt sich neben vor­aus­schau­en­der Bil­dungs­po­li­tik ein Aus­bau von Wei­ter­bil­dungs­mög­lich­kei­ten. Somit wird der Effekt abge­min­dert, dass Arbeits-Fix­kos­ten für Unter­neh­men stark stei­gen und sich nega­ti­ve Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te ein­stel­len. In Öster­reich dürf­te die Wei­ter­bil­dungs­pro­ble­ma­tik wohl eine gerin­ge­re Rol­le spie­len, da der Anteil der öffent­li­chen Mit­tel (inkl. AMS, Euro­päi­scher Sozi­al­fonds) an Aus­ga­ben für betrieb­li­che Wei­ter­bil­dung bereits ca. 50% beträgt.

Eine Arbeits­zeit­ver­kür­zung kann auch an sich zu einem Anstieg des Arbeits­kräf­te­an­ge­bo­tes füh­ren. Bei­spie­le dafür wären gut aus­ge­bil­de­te Per­so­nen, die von Teil­zeit auf kür­ze­re Voll­zeit (z.B. 35 Stun­den) auf­sto­cken oder Per­so­nen, die erst durch die Opti­on auf kür­ze­re Voll­zeit in den Arbeits­markt ein­stei­gen. In Frank­reich wech­sel­ten bei­spiels­wei­se mit der Ein­füh­rung der 35-Stun­den-Woche vie­le Per­so­nen (vor allem Frau­en) von Teil­zeit- auf Voll­zeit­be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se. Die­ses Resul­tat deu­tet dar­auf hin, dass eine nicht unwe­sent­li­che Anzahl an Per­so­nen mehr als Teil­zeit­ar­beit arbei­ten wol­len, aber eine 40-Stun­den-Woche nicht mit Betreu­ungs­pflich­ten etc. ver­ein­bar ist.

Beim Punkt der Höhe der Kom­pen­sa­ti­on – also der Anhe­bung des Stun­den­loh­nes, um dem monat­li­chen Lohn­rück­gang bei kür­ze­rer Arbeits­zeit ent­ge­gen­zu­wir­ken – ist fest­zu­hal­ten, dass die Löh­ne im Aus­maß des Pro­duk­ti­vi­täts­zu­wach­ses stei­gen kön­nen. Stei­gen sie stär­ker, wür­den die Lohn­stück­kos­ten stei­gen. Einer­seits könn­te dadurch die Arbeits­nach­fra­ge zurück­ge­hen, ande­rer­seits sind Nach­fra­ge­ef­fek­te zu beach­ten, die sich posi­tiv auf die Beschäf­ti­gung aus­wir­ken kön­nen. Der Net­to­ef­fekt einer Arbeits­zeit­ver­kür­zung mit Lohn­aus­gleich hängt also aber­mals von den kon­kre­ten Bedin­gun­gen ab.

Es geht nicht nur um Beschäf­ti­gung, son­dern auch um Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit und Gesundheit

Auch wenn die Beschäf­ti­gungs­ef­fek­te in der öffent­li­chen Debat­te zwei­fels­oh­ne wich­tig sind, ist Arbeits­zeit­ver­kür­zung zudem aus ande­ren Grün­den sinn­voll. So hat die Ver­tei­lung der Arbeits­zeit Aus­wir­kun­gen auf die (geschlech­ter­spe­zi­fi­sche) Ver­tei­lung von Ein­kom­men, Pen­si­ons­an­sprü­chen und Nicht-Lohn­ar­beit. Gro­ße Unter­schie­de exis­tie­ren dies­be­züg­lich zwi­schen den Geschlech­tern – „Teil­zeit ist weib­lich und Über­stun­den sind männ­lich“.

Es gibt eini­ge Ansät­ze, um die tat­säch­li­che Arbeits­zeit an die gewünsch­te Arbeits­zeit der Beschäf­tig­ten anzu­glei­chen. Per Gesetz wur­de in den Nie­der­lan­den im Jahr 2000 die Mög­lich­keit geschaf­fen, dass Beschäf­tig­te in grö­ße­ren Betrie­ben von Voll­zeit auf Teil­zeit und vice ver­sa wech­seln kön­nen. Um die Ver­ein­bar­keit zwi­schen Beruf und außer­be­ruf­li­chen Ver­pflich­tun­gen zu ver­bes­sern, führ­te Bel­gi­en befris­te­te Reduk­tio­nen der Arbeits­zeit im öffent­li­chen Sek­tor mit teil­wei­sem Lohn­aus­gleich durch den Staat ein. Auch im pri­va­ten Sek­tor wur­den um die Jahr­tau­send­wen­de eini­ge Mög­lich­kei­ten geschaf­fen, Aus­zei­ten zu neh­men. Sowohl „the­ma­ti­sche“ Aus­zei­ten für Kin­der­be­treu­ung, Pfle­ge etc. sind mög­lich, als auch das Recht auf Reduk­ti­on der Arbeits­zeit bzw. Aus­zei­ten ohne Anga­be von Grün­den. Hier ist anzu­füh­ren, dass es für Betreu­ungs­pflich­ten nicht nur wie eben genannt indi­vi­du­el­le Lösun­gen geben kann und soll, son­dern die Ver­ein­bar­keit auch durch Sach­leis­tun­gen (Kin­der­gär­ten etc.) der öffent­li­chen Hand ermög­licht wer­den kann.

Zu guter Letzt soll­te auch der gesund­heit­li­che Aspekt kür­ze­re Arbeits­zei­ten bei der Debat­te nicht voll­kom­men uner­wähnt blei­ben: Der Zusam­men­hang von lan­gen Arbeits­zei­ten und gesund­heit­li­chen Pro­ble­men ist gut doku­men­tiert, z.B. von Gol­den et al. (2010) und Caru­so et al (2004).

Fazit

Arbeits­zeit­ver­kür­zung eig­net sich zur Schaf­fung von Beschäf­ti­gung, falls bestimm­te Vor­aus­set­zun­gen wie die Mög­lich­keit zur Reor­ga­ni­sa­ti­on der Arbeits­zeit­or­ga­ni­sa­ti­on und eine mode­ra­te Lohn­stück­kos­ten­ent­wick­lung gege­ben sind. Das Paket zur Arbeits­zeit­ver­kür­zung in Frank­reich war inklu­si­ve Sub­ven­tio­nen und Fle­xi­bi­li­sie­rung erfolg­reich, um Beschäf­ti­gung zu schaf­fen und die hohe Arbeits­lo­sig­keit zu sen­ken. Neben Beschäf­ti­gungs­über­le­gun­gen spre­chen auch Über­le­gun­gen zur Ver­tei­lung der Arbeits­zeit und zu Gesund­heit für eine Arbeitszeitverkürzung.


Phil­ipp Poyn­t­ner ist Öko­nom am Insti­tut für Höhe­re Stu­di­en, Grup­pe Arbeits­markt und Sozi­al­po­li­tik und im BEIGEWUM aktiv.

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