Arbeitszeitverkürzung als Beschäftigungsmotor?
Ursprünglich erschienen im Blog A&W, am 11. März 2016
Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 sind in einer Vielzahl von europäischen Staaten die Arbeitslosenzahlen angestiegen. Als ein Instrument gegen dieses Problem wird vor allem von Gewerkschaftsseite immer häufiger eine Arbeitszeitverkürzung gefordert. Aber kann eine Verkürzung der Arbeitszeit Beschäftigung schaffen? Die Erfahrungen mit der Verkürzung von Arbeitszeit in Europa zeigen, dass eine Arbeitsverkürzung zusätzliche Arbeitsplätze bringen kann – zumindest wenn bestimmte Voraussetzungen wie die Möglichkeit zur Reorganisation der Arbeit gegeben sind.
Der Trend zu Verkürzung der Wochenarbeitszeit besteht in Europa seit Beginn des vorigen Jahrhunderts. Während damals eine 60-Stunden-Woche in Europa üblich war, hat sich bis 1980 eine 40-Stunden-Woche in den meisten europäischen Ländern durchgesetzt. Seitdem bleibt die wöchentliche Arbeitszeit im Durchschnitt fast konstant und ist in manchen Ländern wieder im Steigen begriffen.
Quelle: Poyntner (2015), Daten Hubermann und Minns (2007). Normalarbeitszeit, ohne Urlaub etc. Für Österreich ist diese Zeitreihe nicht vorhanden; vergleichbare Daten für Spanien fehlen zwischen 1935 und 1980.
Der Trend zu kürzeren Arbeitszeiten hat sich im Durchschnitt der Vollzeitbeschäftigten in den letzten Jahrzehnten deutlich verlangsamt. Sieht man von dem Kriseninstrument der Kurzarbeit ab gab es wenige Initiativen, die eine allgemeinere Verkürzung der Wochenarbeitszeit zum Ziel hatten. Allerdings waren in einzelnen Sektoren oder Firmen weitere Maßnahmen für eine Verkürzung der Arbeitszeit zu verzeichnen, wie bspw. die Einführung des 6‑Stunden Tages in einem öffentlichen Pflegeheim im schwedischen Göteborg, eine Freizeitoption in Kollektivverträgen in Österreich, oder Freistellungs- und Karenzzeiten (siehe unten). In einigen Ländern wie Deutschland (im öffentlichen Dienst und einigen Branchen, wie z.B. dem WSI-Arbeitszeitkalender 2014 zu entnehmen) und Frankreich (Ausweitung der erlaubten Überstunden) ist aber auch ein Trend zu längeren Arbeitszeiten zu beobachten.
Für europäische Gewerkschaften verlor das Thema Arbeitszeitverkürzung in Kollektivvertragsverhandlungen nach der Einführung der 40-Stunden-Woche gegenüber Lohnforderungen an Bedeutung. Dies hat zum Teil mit veränderten wirtschaftlichen (wie der Entschleunigung des Produktivitätswachstums) und institutionellen (rückläufige Gewerkschaftsabdeckung) Rahmenbedingungen zu tun, die den Verhandlungsspielraum von Gewerkschaften tendenziell verringern. Hinzu kommt, dass angesichts der Belastung bei einer 60-Stunden-Woche eine Verkürzung der Arbeitszeit für die Beschäftigten selbst eine viel höhere Priorität hat als das bei einer 40-Stunden Woche der Fall ist.
Beschäftigungsplus durch Arbeitszeitverkürzung in Frankreich …
Der jüngste Versuch, die Arbeitszeit für umfassende Bevölkerungsgruppen zu reduzieren, wurde vor fünfzehn Jahren in Frankreich unternommen. Per Gesetz wurden in einem ersten Schritt im Jahr 1998 Unternehmen dazu angeregt, die Wochenarbeitszeit von 39 auf 35 Stunden zu verkürzen. Die Voraussetzung für finanzielle Unterstützung war eine Verkürzung der Arbeitszeit um mindestens 10% sowie eine Ausweitung der Beschäftigung um mindestens 6%. Im Jahr 2000 wurde die 35-Stunden-Woche verpflichtend für Unternehmen mit mehr als 20 Angestellten, 2002 auch für kleinere Unternehmen eingeführt. Begleitet wurde die Reform durch eine Lockerung der Tages- und Wochenhöchstarbeitszeit. Nach 2002 wurden durch einen Regierungswechsel die Maßnahmen sukzessive zurückgenommen, Förderungen abgeschafft, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge auf Überstunden gesenkt und Überstundenkontingente ausgeweitet. Die 35-Stunden-Woche wurde also deutlich verwässert und Maßnahmen in die die Gegenrichtung gesetzt.
Die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich hatte das klare politische Ziel, die Arbeitslosigkeit zu verringern, die 1997 mit 12,5% weit über dem EU-Durchschnitt lag. Dieses Ziel, wenn auch nicht in der erwarteten Höhe, wurde auch erreicht, nur über die genaue Größe herrscht Uneinigkeit (ex-post Schätzungen liegen zwischen einem Beschäftigungsanstieg von 3,4% bis 7%). Auch wenn ein Beschäftigungsanstieg nicht notwendigerweise eine Senkung der Arbeitslosenquote bedeuten muss (z.B. wenn alle neue Beschäftigungsverhältnisse von Personen eingegangen werden, die dem Arbeitsmarkt vorher nicht zur Verfügung standen) – in Frankreich hatte die Arbeitszeitverkürzung laut Studien, die neben Beschäftigung auch explizit die Reaktion der Arbeitslosigkeit betrachten, eine Senkung der Arbeitslosigkeit zur Folge (siehe z.B. Schreiber und Logeay 2006 oder Bunel 2004).
… und Unklarheit in Deutschland
Eine weitere große Reform wurde in Deutschland vorgenommen, wo im Metall- und Printsektor von 1984 bis 1994 die Wochenarbeitszeit von 40 auf 36 Stunden gesenkt wurde. Die Einschätzung der Beschäftigungseffekte dieser Reform fallen weitaus weniger klar aus als bei der französischen Reform: Negative Beschäftigungseffekte werden ebenso gefunden wie neutrale oder positive Beschäftigungseffekte.
Das lässt sich teilweise durch die Art der Durchführung der Arbeitszeitverkürzung erklären: Während die Regierung in Frankreich Subventionen an Betriebe zahlte, die Arbeitszeit verkürzten und Beschäftigung erhöhten, gab es in Deutschland keine solche Unterstützung. Hunt vermutet beispielsweise, dass positive Beschäftigungseffekte der Verkürzung der Arbeitszeit durch Anstiege im Stundenlohn zunichte gemacht wurden – allerdings ist diese These umstritten. Auch wenn ein Anstieg des Stundenlohnes den Faktor Arbeit verteuert, sind für Unternehmen nicht die absoluten Lohnkosten, sondern die Lohnstückkosten der entscheidende Faktor. Lohnstückkosten werden ebenso von der Produktivitätsentwicklung beeinflusst, und Arbeitszeitverkürzung führt meist zu höherer Produktivität. Dies hat zum einen den Grund, dass Beschäftigte bei geringerer Arbeitszeit produktiver sind, oder anders ausgedrückt zusätzliche Stunden bei einem hohen Arbeitszeitniveau weniger produktiv sind. Zum anderen sind Verkürzungen der Wochenarbeitszeit oft mit einer Reorganisation der Arbeitsstrukturen in Unternehmen verbunden, die eine eigene Quelle von Produktivitätssteigerungen sein können.
Zahlreiche Wirkungskanäle von Verkürzungen der Wochenarbeitszeit
Prinzipiell gibt es zahlreiche Wirkungskanäle, durch die eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit Auswirkungen auf die Beschäftigung haben kann. Selbst einfachste ökonomische Modelle können daher keine eindeutige Aussage zur Richtung der Beschäftigungseffekte treffen. Positive Beschäftigungsauswirkungen sind beispielsweise wahrscheinlicher, wenn Fixkosten von Neueinstellungen (Kosten für Einarbeitung, Einschulung, Bereitstellung von Infrastruktur etc.) gering sind und wenn genügend Arbeitssuchende mit entsprechender Qualifikation verfügbar sind. Auch Nachfrageeffekte durch steigenden Stundenlohn (die im Zuge von oder nach Arbeitszeitverkürzungen häufig mitverhandelt werden) können Quellen von Arbeitsnachfrage sein – wobei dieser Effekt vor allem bei Unterauslastung der Produktionsfaktoren zum Tragen kommt. Keinen oder sogar einen negativen Beschäftigungseffekt wird eine Arbeitszeitverkürzung dann bewirken, wenn Neueinstellungen mit hohen Fixkosten verbunden sind, dem Arbeitsmarkt keine geeigneten Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen oder Lohnstückkosten stark ansteigen.
Die vielfältigen Wirkweisen einer Arbeitszeitverkürzung auf Beschäftigung machen die empirische Quantifizierung herausfordernd. Folglich gibt es in der Literatur auch keinen Konsens über die Wirkungsrichtung einer Arbeitszeitverkürzung auf die Beschäftigung. Eine Zusammenschau der Literatur findet sich u.a. bei Schwendinger (2015), Bosch und Lehndorff (2001) und Poyntner (2015). Es ist anzumerken, dass neben den unterschiedlichen Umsetzungsarten und institutionellen Rahmenbedingungen auch methodische Schwierigkeiten Grund für unterschiedliche Ergebnisse sein können. So ist z.B. für die Quantifizierung des Beschäftigungseffektes durch die Verkürzung der Wochenarbeitszeit die Schätzung der hypothetischen Beschäftigungsentwicklung ohne Arbeitszeitverkürzung notwendig. Diese Schätzung ist immer mit Unsicherheiten behaftet. Aus diesem und anderen Gründen ist die Herstellung eines eindeutigen Zusammenhangs oft schwierig.
Bedingungen für die Arbeitszeitverkürzung als Beschäftigungsmotor
Die oben genannten Überlegungen können herangezogen werden, Bedingungen für eine erfolgreiche Arbeitszeitverkürzung herauszuarbeiten, wie es z.B. Bosch und Lehndorff (2001) versuchen.
Nachdem bei großen Reformen die vorherrschenden organisatorischen Paradigmen des 8‑Stunden-Tages / der 5‑Tage-Woche in Frage gestellt werden, ist die Frage zentral, ob die Arbeits(zeit)organisation flexibel an neue Arbeitszeit-Systeme angepasst werden kann. In Frankreich war eine solche Flexibilisierung Teil des Paketes zur 35-Stunden-Woche.
Um einer möglichen Knappheit an ausgebildeten Arbeitskräften entgegenzuwirken, empfiehlt sich neben vorausschauender Bildungspolitik ein Ausbau von Weiterbildungsmöglichkeiten. Somit wird der Effekt abgemindert, dass Arbeits-Fixkosten für Unternehmen stark steigen und sich negative Beschäftigungseffekte einstellen. In Österreich dürfte die Weiterbildungsproblematik wohl eine geringere Rolle spielen, da der Anteil der öffentlichen Mittel (inkl. AMS, Europäischer Sozialfonds) an Ausgaben für betriebliche Weiterbildung bereits ca. 50% beträgt.
Eine Arbeitszeitverkürzung kann auch an sich zu einem Anstieg des Arbeitskräfteangebotes führen. Beispiele dafür wären gut ausgebildete Personen, die von Teilzeit auf kürzere Vollzeit (z.B. 35 Stunden) aufstocken oder Personen, die erst durch die Option auf kürzere Vollzeit in den Arbeitsmarkt einsteigen. In Frankreich wechselten beispielsweise mit der Einführung der 35-Stunden-Woche viele Personen (vor allem Frauen) von Teilzeit- auf Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse. Dieses Resultat deutet darauf hin, dass eine nicht unwesentliche Anzahl an Personen mehr als Teilzeitarbeit arbeiten wollen, aber eine 40-Stunden-Woche nicht mit Betreuungspflichten etc. vereinbar ist.
Beim Punkt der Höhe der Kompensation – also der Anhebung des Stundenlohnes, um dem monatlichen Lohnrückgang bei kürzerer Arbeitszeit entgegenzuwirken – ist festzuhalten, dass die Löhne im Ausmaß des Produktivitätszuwachses steigen können. Steigen sie stärker, würden die Lohnstückkosten steigen. Einerseits könnte dadurch die Arbeitsnachfrage zurückgehen, andererseits sind Nachfrageeffekte zu beachten, die sich positiv auf die Beschäftigung auswirken können. Der Nettoeffekt einer Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich hängt also abermals von den konkreten Bedingungen ab.
Es geht nicht nur um Beschäftigung, sondern auch um Verteilungsgerechtigkeit und Gesundheit
Auch wenn die Beschäftigungseffekte in der öffentlichen Debatte zweifelsohne wichtig sind, ist Arbeitszeitverkürzung zudem aus anderen Gründen sinnvoll. So hat die Verteilung der Arbeitszeit Auswirkungen auf die (geschlechterspezifische) Verteilung von Einkommen, Pensionsansprüchen und Nicht-Lohnarbeit. Große Unterschiede existieren diesbezüglich zwischen den Geschlechtern – „Teilzeit ist weiblich und Überstunden sind männlich“.
Es gibt einige Ansätze, um die tatsächliche Arbeitszeit an die gewünschte Arbeitszeit der Beschäftigten anzugleichen. Per Gesetz wurde in den Niederlanden im Jahr 2000 die Möglichkeit geschaffen, dass Beschäftigte in größeren Betrieben von Vollzeit auf Teilzeit und vice versa wechseln können. Um die Vereinbarkeit zwischen Beruf und außerberuflichen Verpflichtungen zu verbessern, führte Belgien befristete Reduktionen der Arbeitszeit im öffentlichen Sektor mit teilweisem Lohnausgleich durch den Staat ein. Auch im privaten Sektor wurden um die Jahrtausendwende einige Möglichkeiten geschaffen, Auszeiten zu nehmen. Sowohl „thematische“ Auszeiten für Kinderbetreuung, Pflege etc. sind möglich, als auch das Recht auf Reduktion der Arbeitszeit bzw. Auszeiten ohne Angabe von Gründen. Hier ist anzuführen, dass es für Betreuungspflichten nicht nur wie eben genannt individuelle Lösungen geben kann und soll, sondern die Vereinbarkeit auch durch Sachleistungen (Kindergärten etc.) der öffentlichen Hand ermöglicht werden kann.
Zu guter Letzt sollte auch der gesundheitliche Aspekt kürzere Arbeitszeiten bei der Debatte nicht vollkommen unerwähnt bleiben: Der Zusammenhang von langen Arbeitszeiten und gesundheitlichen Problemen ist gut dokumentiert, z.B. von Golden et al. (2010) und Caruso et al (2004).
Fazit
Arbeitszeitverkürzung eignet sich zur Schaffung von Beschäftigung, falls bestimmte Voraussetzungen wie die Möglichkeit zur Reorganisation der Arbeitszeitorganisation und eine moderate Lohnstückkostenentwicklung gegeben sind. Das Paket zur Arbeitszeitverkürzung in Frankreich war inklusive Subventionen und Flexibilisierung erfolgreich, um Beschäftigung zu schaffen und die hohe Arbeitslosigkeit zu senken. Neben Beschäftigungsüberlegungen sprechen auch Überlegungen zur Verteilung der Arbeitszeit und zu Gesundheit für eine Arbeitszeitverkürzung.
Philipp Poyntner ist Ökonom am Institut für Höhere Studien, Gruppe Arbeitsmarkt und Sozialpolitik und im BEIGEWUM aktiv.