The European Union: The Threat of Disintegration – ein Bericht von der 22. Euromemo-Konferenz
Theurl Simon
Vom 15. bis 17. September trafen sich in Coimbra in Portugal ÖkonomInnen aus ganz Europa um im Rahmen der 22. EUROMEMO-Konferenz die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union zu diskutieren. Die Konferenz wird jährlich von der Euromemogruppe organisiert – einem Netzwerk von ÖkonomInnen die sich für Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und internationale Solidarität einsetzen. Dem Titel der Konferenz entsprechend – „The European Union: the Threat of Disintegration“ – standen bei dieser Konferenz insbesondere die sich zuspitzenden Desintegrationstendenzen, im Zentrum der Debatten. Die EU, so der Ausgangspunkt der Debatte, wird zunehmend von neoliberaler Wirtschaftspolitik dominiert, welche nicht in der Lage ist die ökonomische Krise zu überwinden, adäquate Hilfe für die transkontinental Flüchtenden zu leisten und rechtspopulistischen bis ‑extremistischen antidemokratischen Bewegungen ihre Grundlage zu entziehen. Unfähig Wachstum, Konvergenz, Menschenrechte und Demokratie zu garantieren, scheitert die EU an ihren eigenen Maßstäben. Steigende Frustration in der Bevölkerung und der zunehmende Legitimitätsverlust sind die bitteren Konsequenzen des politischen Scheiterns.
Anhaltende Krise in der Peripherie befeuert Desintegration
Neun Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 befindet sich vor allem die Peripherie der Europäischen Union nach wie vor in der Krise. Das macht sich nicht zuletzt in stagnierenden Arbeitseinkommen und steigender Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, bemerkbar. Als eine der Konsequenzen der Exportüberschusspolitik, vor allem von Deutschland, driften die BIP-Wachstumsraten, die industrielle Produktion und die Beschäftigungsraten der europäischen Mitgliedsländer weiter auseinander. Dass die Marktliberalisierung der letzten Dekaden zur erhofften „Europäischen Konvergenz“ führt entspricht somit kaum der Realität – so die Botschaft der Eröffnungsrede „The State of the Union“ von Luis Lopez von der Universität von Coimbra.
Junckers Investitionsplan wird nicht ausreichen
In ihren Bemühungen, die Konjunktur mithilfe expansiver Geldpolitik anzuregen, stößt die Europäische Zentralbank an ihre monetären Grenzen, während die sparpolitische Ausrichtung der Kommission diese Maßnahmen ohnehin konterkariert. Dabei nimmt die Gefahr zu, in eine Deflation zu schlittern. Während der Spielraum für öffentliche Investitionen, vor allem in den Ländern die am stärksten von der Krise betroffen sind, durch eine falsche Wirtschaftspolitik eingeschränkt wird, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Junckers im Frühling 2015 vorgelegter Investitionsplan die notwendigen Investitionen stimulieren kann. Es zeichnet sich bereits ab, dass durch die freigesetzten Mittel keine neuen Investitionen angeregt werden können, sondern, dass jene Investitionen, welche unabhängig von Junkers Investitionsplan so wie so getätigt werden, nun mit öffentlichen Mitteln subventioniert werden. Während die dadurch erzielten Gewinne in die Taschen der Investoren fließen, werden Teile der Investitionskosten sozialisiert. Es ist nicht zu erwarten, dass sich dadurch die Nachfrage in dem Ausmaß erhöhen lässt, dass es zu neuen Wachstumsdynamiken und sinkender Arbeitslosigkeit kommt. Fortschreitende Divergenz zwischen den einzelnen Mitgliedsländern, aber auch zwischen den Einkommen der Menschen in den Mitgliedsstaaten, wird den Druck auf das Europäische Projekt zunehmend erhöhen.
Politische Bruchlinien treten immer klarer hervor
Parallel zu den ökonomischen Krisenerscheinungen wurden die politischen Bruchstellen der Europäischen Union verstärkt diskutiert. Das Scheitern im Umgang mit der Flüchtlingssituation führt vor Augen, dass die aktuelle Union nicht in der Lage ist die notwendige Koordinierung zur gemeinsamen Versorgung und Verteilung der migrierenden zustande zu bringen. Anstelle koordinierten Handelns wird aus einer humanitären Krise ein nationalistisches „Schwarzer Peter“ Spiel. Der dabei stattfindende Rückgriff auf nationalistische Denk- und Argumentationsmuster, welche Ausdruck im Aufheben des Schengen-Abkommens findet, stellt erneut das Europäische Projekt in Frage.
Davon vermögen vor allem die erstarkenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien und Bewegungen zu profitieren. Im Anschluss an die Zuspitzung der „Verhandlungen“ mit der griechischen Regierung im letzten Jahr, welche sich in der Drohung eines Ausschlusses Griechenlandes zuspitzte, liefert Großbritannien nun den ersten tatsächlichen Präzedenzfall für einen Austritt aus der Europäischen Union. Sowohl die politischen als auch die ökonomischen Auswirkungen im Kontext der skizzierten Entwicklungen und Situationen innerhalb der EU lassen sich nur schwer vorwegnehmen. Die politische Krise der Europäischen Union lässt sich auf drei Dimensionen zurückführen: die politische Ökonomie, die Migrationskrise und der Aufstieg der rechts-nationalistischen Parteien – fasst Hans-Jürgen Bieling von der Universität Tübingen die aktuelle Situation zusammen. Während also die Europäische Kommission in der Bewältigung der ökonomischen und humanitären Krise versagt und ihre Existenzlegitimität an rechtspopulistische bis rechtsextreme Bewegungen verliert, versucht Junker einen Konsens für die EU durch eine verstärkte „Sicherheitspolitik“ zu bewahren.
Gibt es linke Handlungsspielräume?
Die zu diskutierende Frage nach politischen Handlungsspielräumen zwischen „Desintegration und Erneuerung der Europäischen Union“ wurde von Cédric Durand, von der Paris XIII Universität, beim Abschlussplenum aufgegriffen. Durand analysiert den Prozess der europäischen Integration aus regulationstheoretischer Perspektive, als Verschiebung der dominanten strukturellen Formen: vom Einkommensnexus über das Wettbewerbsverhältnis hin zu Geld und Finanzen. Diese Betrachtungsweise hilft zu verstehen, wieso sich keine Legislative für einen sozialen Ausgleich der Gewinne materialisieren konnte, die zunehmend erst durch Wettbewerb und dann durch Finanzaktivitäten erzielt wurden. Denn Durand analysiert den Prozess der Europäischen Integration seit der Mitte der 80er Jahre als eine räumliche Rekonfiguration von Staatlichkeit, welche transnationale Finanzinteressen gegenüber Arbeitsinteressen strukturell bevorzugte. Die Europäische Integration und dabei vor allem der Euro, in Abwesenheit einer sinnvollen europäischen Fiskalpolitik, erzeugte nicht nur die strukturellen ökonomischen Ungleichgewichte, sondern führte auch zu einer Desynchronisierung von Klasseninteressen und somit von Klassenkämpfen. Diese räumliche und zeitliche Ungleichzeitigkeit mache linke Erfolge auf der kontinentalen Ebene zurzeit unmöglich. Auf Grundlage dieser Analyse plädiert Durand schließlich für eine selektive Desintegration aus den geldpolitischen Arrangements und Handelsvereinbarungen, welche durch das gleichzeitige Engagement der Stärkung vorhandener sozial- und umweltpolitischer Kooperationen auf internationalem Level gestützt wird. Eine These, die sicher noch breiter zu diskutieren ist!
Ausblick: Euromemo 2017
Die (offiziellen) Ergebnisse der Diskussionen werden Ende des Jahres im EUROMEMORANDUM 2017 veröffentlicht und können dann auf der Homepage heruntergeladen werden. Des Weiteren startet ab 2017 eine Diskussionsreihe, bei der in kurzen Papers Stellung zu aktuellen Entwicklungen (unter anderem in Hinblick auf den Brexit oder Perspektiven in den europäischen Peripherien) genommen wird.