Der Zweifel an Fakten und die Krise der Volkswirtschaftslehre
Dieser Beitrag zu dem von Till van Treeck und Janina Urban herausgegebenen Buch „Wirtschaft neu denken – Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie“ wurde zuerst auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft veröffentlicht.
Ob Lohnhöhe, Stellung von Gewerkschaften, Freihandelsabkommen oder die Integration von Geflüchteten – ÖkonomInnen haben auf all diese Fragen Antworten, wie sich Politik und Gesellschaft dazu optimalerweise verhalten könnten. Das Vertrauen in die Wirtschaftswissenschaften ist allerdings spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 gründlich erschüttert worden. Denn der Großteil der ÖkonomInnen hatte nicht etwa die tiefste Krise seit der Großen Depression von 1929 vorausgesagt, sondern Jahre der Stabilität und des Wachstums. Die „Krise der Volkswirtschaftslehre (VWL)“ ist damit zum Politikum geworden und fällt aktuell mit der Erosion des Vertrauens in „allgemein anerkannte Wahrheiten“, aber auch faktenbasierte Analysen zusammen.
Ein Ort, an dem einigen Studierenden und ProfessorInnen zufolge viel zu lange „allgemein anerkannte Wahrheiten“ gelehrt worden sind, ist die universitäre Volkswirtschaftslehre. Ganz besonders stechen dabei Standardlehrbücher der Disziplin ins Auge, die weltweit die Inhalte von Lehrveranstaltungen und Prüfungen bestimmen. Sie bilden allerdings nicht etwa pluralistische Perspektiven und den aktuellen Stand der Wissenschaft ab, sondern scheinen ihrer millionenfachen LeserInnenschaft zu einfache Faustregeln an die Hand geben zu wollen.
So schreibt der bekannte Ökonomie-Nobelpreisträger und Lehrbuchautor Paul A. Samuelson drei Jahre nach Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise in der 19. Auflage (!) seines Buches: „Wir haben daher beschlossen, uns auf die Kernthesen der Volkswirtschaftslehre zu konzentrieren – auf jene dauerhaften Wahrheiten, die im neuen Jahrhundert dieselbe Bedeutung haben wie im alten.“ N. Gregory Mankiw, dessen Bücher nach Samuelsons weltweit die Verkaufsliste anführen, weist Studierende zu Anfang seines Werks daraufhin, dass man Konzepte kennenlerne, die zwar dem gesunden Menschenverstand widersprächen, man sich davon aber nicht irritieren lassen solle.
Die Überlegenheit der ÖkonomInnen?
Dass die Einschätzung der beiden US-amerikanischen Ökonomen keine Besonderheit darstellt, sondern vielmehr als Sinnbild für das Selbstverständnis der Disziplin angesehen werden kann, beleuchtet unser neues Buch, in der 20 Nicht-Mainstream-ÖkonomInnen VWL-Standardlehrwerke rezensiert haben. Insgesamt zeigt sich darin eine Hartnäckigkeit der Lehrsätze, die sich gegenüber weitreichender Kritik mit der „Überlegenheit der ÖkonomInnen“ immunisiert: So stellt der viel beachtete Aufsatz „Superiority of Economists“ von Marion Fourcade, Etienne Ollion und Yann Algan heraus, dass sich US-amerikanische ÖkonomInnen im Vergleich zu anderen SozialwissenschaftlerInnen durch ein erhöhtes Selbstbewusstsein auszeichnen, durch eine starke disziplinäre Abgrenzung, stark hierarchisch geprägte Strukturen im Wissenschaftssystem, einen hohen Männeranteil, hohe individuelle Einkommen und privilegierte Kontakte in die Politik und in die Finanzbranche. Sie sind überzeugt, dass ihre Disziplin die wissenschaftlichste unter den Sozialwissenschaften ist und sehen hierin zugleich ihren gesteigerten politischen Gestaltungsanspruch legitimiert. Zudem bedienen sie sich häufig eines „ökonomischem Imperialismus“, der das Denken in Märkten und Effizienz auf alle Lebensbereiche, von Gesundheit über Familie, Umwelt bis zur Bildung anwendet.
Diese Analyse lässt sich ohne Zweifel auch auf Europa übertragen, schaut man sich die aktuellen öffentlichen Debatten zu den zentralen gesellschaftspolitischen Themen an: Ob Freihandelsabkommen oder Brexit, wirtschaftspolitisch beratende Institute und Gremien sowie PolitikerInnen selbst mahnen „mangelnden ökonomischen Sachverstand“ an. Häufig beziehen sie sich, im Sinne der neoklassischen Volkswirtschaftslehre, auf eine Kosten-Nutzen-Analyse der jeweiligen Politikmaßnahme und stellen dabei bspw. grob fest, dass ‚wir durch Freihandel insgesamt gewinnen ‘. Wird dieser Analyse nicht zugestimmt, kritisieren Viele eine mangelnde Anerkennung der „Fakten“. Allerdings gibt es sowohl einen Unterschied zwischen „ökonomischem Sachverstand“ bzw. „allgemein anerkannten Wahrheiten“ und Fakten, als auch Alternativen zur Kosten-Nutzen Analyse.
Allgemein anerkannte Wahrheiten, empirische Analysen und der Nutzenbegriff in der Volkswirtschaftslehre
Mit zwei Beispielen aus dem zuvor genannten Sammelband lässt sich der Unterschied zwischen „ökonomischem Sachverstand“ auf der einen und „Fakten“ auf der anderen Seite erläutern. Im neoklassischen Standardmodell zum Arbeitsmarkt, das in allen VWL-Grundkursen behandelt wird, führt die Einführung eines Mindestlohns zu einem Beschäftigungsrückgang. Die (notwendige) Veränderung der zugrunde liegenden Annahmen trägt schon längst zu einer lebhaften akademischen und öffentlichen Debatte um den Mindestlohn bei. Im Gegensatz dazu, zeigt Camille Logeay im Sammelband, wie der Lehrbuchautor eines internationalen Standardwerks seine Sprache gezielt einsetzt, um Ergebnisse u.a. empirischer Studien infrage zu stellen. Der Lehrbuchautor wertet Studien, die einen neutralen oder leicht positiven Beschäftigungseffekt bei der Einführung eines Mindestlohnes finden, gegenüber denen, die einen negativen Effekt herausstellen, unbegründet ab.
Ein weiteres Beispiel ist die Theorie des komparativen Kostenvorteils von David Ricardo aus dem Jahr 1817, welche die Vorteilhaftigkeit von internationaler Arbeitsteilung und Handel herausstellt. Auch hier gibt es seit 200 Jahren theoretische Erweiterungen, empirische Überprüfungen sowie weitgehende Einschränkungen der Grundaussage der Theorie. Achim Truger zeigt in seinem Beitrag, wie die Lehrbuchautoren Samuelson, Mankiw und Krugman Ricardos Theorie eisern verteidigen. Weder die Existenz von Kapitalmobilität, die Ricardo damals nicht beachtete, noch mögliche Unterbeschäftigung oder wirtschaftliche Pfadabhängigkeiten, die andere WissenschaftlerInnen für landesspezifische Analysen und Politiken plädieren lässt, rüttelt an ihrer Lehrbuchdarstellung.
Zweifel an Fakten, die in der letzten Zeit laut geworden sind, mögen deshalb auch mit der Vermengung von „dauerhaften Wahrheiten“ und empirischen Analysen durch die diskursmächtige Volkswirtschaftslehre zu tun haben. Außerdem scheinen sich immer mehr BürgerInnen gegenüber einem ökonomischen Sachverstand abzugrenzen, der auf eine abstrakte Wohlfahrt verweist. Was aus demokratietheoretischer Sicht als bedenklich erachtet werden kann, weist zumindest daraufhin, dass in der Volkswirtschaftslehre in den letzten Jahrzehnten zu wenig Diskussion über die Verteilung der Wohlstandsgewinne der Globalisierung stattgefunden hat. Zudem wird deutlich, dass sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung nicht allein aus der Nutzenperspektive beleuchten lassen. Grob gesagt, kompensiert der Nutzen, der zum Beispiel aus dem Konsum günstigerer Produkte entsteht, für Viele nicht den Wegfall des eigenen Arbeitsplatzes, die weltweite Umweltverschmutzung, Lohndumping und kriegerische Auseinandersetzungen einmal ganz abgesehen.
Was sind die Alternativen?
Die AutorInnen des Sammelbandes führen in ihren Beiträgen an, in welche Richtung Neues ökonomisches Denken gehen kann. Zum einen müssten die kritischen Grundannahmen der neoklassischen Standardmodelle transparenter dargestellt werden und die bisher als Sonderfälle aufgeführten Weiterentwicklungen (Spieltheorie, Mechanismus-Design, Monopoltheorien, Verhaltensökonomik etc.) ins Zentrum der Bücher rücken. Zum anderen sollten empirische Analysen ernster genommen werden und andere Theorien ausgeführt werden, da eine Sozialwissenschaft wie die Ökonomik mit unterschiedlichen Vorannahmen arbeiten muss und die meisten der neoklassischen Modelle nicht geeignet für die Beschreibung einer finanzgetriebenen, ungleichgewichtigen Wirtschaft sind.
Welche anderen Theorien zu einer pluralen Ökonomik dazugehören und welche Vorannahmen dahinterstehen, beleuchtet zum Beispiel die im letzten Dezember vom Netzwerk Plurale Ökonomik gestartete Online Lernplattform Exploring Economics. Neben Lehrbüchern, die Ökonomie aus unterschiedlichen Paradigmen beleuchten (Jäger/Springler oder van Staveren), versucht aktuell der New School Professor Anwar Shaikh empirisch basierte Erklärungen der Dynamiken des Kapitalismus darzulegen.
Es bleibt abzuwarten, ob die Pluralisierung der Ökonomik, zu einer Überprüfung der alten Wahrheiten beiträgt und die öffentliche Debatten gleichzeitig versachlichen und vielfältiger machen kann.
Janina Urban arbeitet seit 2015 als wissenschaftliche Referentin im Themenbereich Neues ökonomisches Denken im Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) in Düsseldorf. Im Jahr 2015 schloss sie ihren Master in Economics an der Freien Universität Berlin ab und ist seit längerer Zeit unter anderem im Netzwerk Plurale Ökonomik und der International Students Initiative for Pluralism in Economics (ISIPE) aktiv. Ihre Interessensgebiete liegen im Bereich der Makroökonomik und der sozial-ökologischen Transformationsforschung.