Wirtschaftspolitische Prioritätensetzung per Verfassung?
Georg Feigl (BEIGEWUM und AK Wien)
Anlässlich des Rechtsstreits über den Bau der 3. Flughafenpiste kam die Forderung nach einer Verankerung “des Wirtschaftsstandorts“ in der Verfassung auf. Umweltpolitik dürfe rechtlich nicht mehr zählen, so das Argument. Mit ähnlichen Argumenten wurde im Zuge der Krise versucht, budgetpolitische Ziele, durch deren Verankerung in der Verfassung, über alle anderen zu stellen. Ähnlichkeiten zeigen sich auch mit der Debatte über Handelsverträge, wo mittels übergeordneten Schiedsgerichten versucht wurde Interessen von InvestorInnen vorrangig abzusichern.
PolitikwissenschafterInnen sprechen deshalb von einem „neuen Konstitutionalismus“ oder einer „Juristokratie“, also einem Trend, gewisse Themen unantastbar zu machen – oder negativ formuliert durch zusätzliche Hürden politische Änderungen des Status quo zu erschweren. Wirtschaftspolitisch spiegelt sich darin die Kontroverse um regelgebundene oder situationsadäquate Entscheidungen. Erstere gehen meist mit einem neoliberalen Politikverständnis einher, während letztere eher mit einer keynesianischen Wirtschaftspolitik assoziiert ist, die auf eine möglichst breite Einbeziehung aller Wirtschaftsakteure zwecks konsensorientierte Entscheidungen abhängig von der jeweils aktuellen politischen Situation abzielt.
Die Schnittmenge zwischen diesen wirtschaftspolitischen Weltanschauungen ist gering, aber doch vorhanden, bspw. in der abstrakten Orientierung am menschlichen Wohlergehen insbesondere in Form von materiellen Wohlstand. Will man auf höherer Ebene grundsätzliche wirtschaftspolitische Ziele verankern, so sollte Wohlstand und Wohlergehen als Orientierungspunkt gewählt und in Folge konkretisiert werden. Auch gilt es Mechanismen zu entwickeln, wie konkrete Prioritäten regelmäßig demokratisch festgelegt werden können.
Vieles davon gibt es bereits, doch fehlt eine konsequente Anwendung:
- Im Vertrag über die Europäische Union ist „well-being“ als höchstes Ziel (Art. 3) bereits verankert
- Das sogenannte magische Vieleck der Wirtschaftspolitik liefert ein konkreteres Zielsystem
- Mit Wohlstandsindikatoren wie jenen der Statistik Austria kann Erfolg gemessen werden
- Regelmäßige wirtschaftspolitische Steuerungsprozesse (z.B. Europäische Semester, Budgetprozess) können auf Wohlstandsorientierung fokussiert werden
Das magische Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik
Über Jahrzehnte galt das magische Viereck der Wirtschaftspolitik über Parteigrenzen hinweg als allgemein akzeptierter Referenzrahmen für die Wirtschaftspolitik. Es fokussierte vor allem auf Wirtschaftswachstum, aber auch auf Vollbeschäftigung, Preisstabilität und ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Inhärente Widersprüche – beispielsweise zwischen Preisstabilität und Beschäftigung oder hohem Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht – wurden transparenter und besser verhandelbar.
Nimmt man die prominente Kritik am Wirtschaftswachstum als Wohlstandsindikator ernst und berücksichtigt die Finanz- und Wirtschaftskrise, so müsste das historische magische Vieleck umformuliert werden. In einem neuen magischen Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik sollte deshalb Wachstum durch drei Oberziele fair verteilter materieller Wohlstand, Lebensqualität und intakte Umwelt ersetzt werden, auch wenn es oftmals ein zweckdienliches Mittel für mehr Wohlstand darstellen wird. Zudem ist das alte Ziel „Vollbeschäftigung“ aufzuwerten und um den Aspekt gute Arbeit zu ergänzen. In den vier Dimensionen sind Gender-Aspekte jeweils explizit zu berücksichtigen (ähnlich wie das Statistik Austria bereits in ihrem Indikatorenset tut).
Darüber hinaus sollten die für die ökonomische Stabilität notwendigen Ziele „außenwirtschaftliches Gleichgewicht“ und „Preisstabilität“ vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise um die Ziele „stabile Finanzmärkte“ und „stabile Staatstätigkeit“ (die sich aus stabilen Staatsfinanzen und stabilem öffentlichen Vermögen zusammensetzt) ergänzt werden.
Verankerung des neuen magischen Vielecks
Angesichts eines dem marktbasierten Wirtschaftssystem eingeschriebenen Wachstumszwangs bedarf es – in Anlehnung an Karl Polanyi – starker demokratischer Kontroll- und Korrekturmechanismen, um von der Wachstumsfixierung wegzukommen und um ein gesellschaftlich wünschenswertes Ergebnis zu erzielen. Werden die Ziele anhand des neuen magischen Vielecks von relevanten wirtschaftspolitischen Akteuren breit diskutiert und ihre Erreichung adäquat gemessen, könnte dies bereits ein Einstieg in den Umstieg auf eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik sein – in Europa wie in Österreich.
Als Referenzfolie für die Diskussion über eine erfolgreiche Verankerung wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik können die zuletzt beschlossenen Reformen der europäischen wirtschaftspolitischen Governance dienen. Zwar sind sie vor allem unter wirtschaftspolitischen (Fokus auf Haushaltskonsolidierung und Wettbewerbsfähigkeit) und demokratiepolitischen (Stärkung von Exekutive und nicht repräsentativen ExpertInnen, Schwächung der Parlamente und der Zivilgesellschaft) Gesichtspunkten abzulehnen; Trotzdem können diese Wegmarken als richtungsweisend dafür angesehen werden, was für die wirkungsvolle Verankerung wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik wichtig ist:
- ein kohärenter wirtschaftspolitischer Prozess mit jährlich wiederkehrenden wirtschaftspolitischen Debatten und Beschlüssen insbesondere über zukünftige Prioritäten (Dominanz der Exekutive auf Europäischer Ebene müsste in Österreich durch einen breiten parlamentarischen Entscheidungsprozess unter Einbindung von Sozialpartnern und Zivilgesellschaft verhindert werden)
- ein neues Indikatorenset zur Messung wirtschaftspolitischer Ziele (ähnlich dem der Statistik Austria)
- Festlegung von Ober- und Untergrenzen für besonders wichtige Indikatoren und vordefinierte Prozesse zum Umgang mit Überschreitungen (mit Fokus auf flexiblere Orientierungsgrößen mit der Konsequenz eines breiten öffentlichen Diskussionsprozesses statt der einseitigen Fiskalregeln)
- neue beratende Institutionen, die Kursabweichungen analysieren und die Grundlage für eine Debatte über sinnvolle Kursänderungen legen (repräsentativer Wohlstandsrat plus parlamentarische und öffentliche Debatte anstelle der einseitigen Fiskalräte)
- neue Analyseinstrumente (Jahreswohlstandsberichte anstelle von Jahreswachstumsbericht etc.
Fazit: Ort des Wohlstands statt bloßer Wirtschaftsstandort
Wie bereits im Abschlussbericht des groß angelegten WIFO-Projekts „WWWforEurope“ unter Mitwirkung dutzender anderer europäischer Wirtschaftsinstitute festgehalten braucht es eine Perspektive, die über die engen Grenzen „des Wirtschaftsstandorts“ hinausweist. Europa – und damit wohl auch Österreich selbst – sollte eine „region with high social and environmental standards guaranteeing its citizens a high level of wellbeing“ werden. Dafür braucht es mehr als neue Schlagworte in der Verfassung. Ein magisches Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik wäre ein Anfang, wohlstandsorientierte Folgeprojekte (z.B. sozial-ökologisches Investitionsprogramme) die Fortführung.