EU-Fiskalpakt: Das programmierte Desaster
Als die 25 StaatenlenkerInnen den EU-Fiskalpakt unterzeichneten, haben sie seine Folgen nicht begriffen. Das Ziel war doch so klar – Schluss mit dem Schuldenmacherei! – und die Regeln doch so einfach:
- Jeder Vertragsstaat darf nur mehr ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Haushaltsdefizit von maximal 0,5% des BIP aufweisen (Defizitkriterium).
- Jedes Jahr muss die Staatsschuld um ein Zwanzigstel der Differenz zwischen der aktuellen Schuldenquote und dem Zielwert von 60% abbauen (Schuldenkriterium).
- Jedes Vertragsland kann ein anderes beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen Regelverletzung anzeigen, dieser prüft und verhängt Strafen.
Die Folgen: Nach dem Defizitkriterium muss etwa Spanien sein Defizit von 8,5% des BIP so rasch wie möglich beseitigen. Vereinbart sind mit der Europäischen Kommission Zielwerte von 5,4% (2012) und 3,0% (2013). Angesichts der schweren Rezession (das BIP schrumpft heuer um 2%) und extrem hoher Arbeitslosigkeit verschlimmert das Sparen die Lage immer mehr.
Annahme: Eine Defizitreduktion um einen BIP-Prozentpunkt reduziert das BIP in gleichem Ausmaß (Multiplikator = 1), gleichzeitig kommt die Inflation zum Stillstand (nicht zuletzt infolge sinkender Löhne). Dann wird das nominelle BIP durch die Sparpolitik 2012 und 2013 um jeweils 5% schrumpfen. Wird das Sparziel (dennoch) erreicht, so müsste Spanien nach dem Defizitkriterium des Fiskalpakts nicht weiter sparen, obwohl das Gesamtdefizit noch immer 3% beträgt.
Grund: Das aktuelle BIP läge 2013 um mehr als 5% unter dem Potentialoutput (wegen des durch die Sparpolitik vertieften Wirtschaftseinbruchs), die Konjunkturkomponente des Gesamtdefizits wäre zumindest 2,5%, das konjunkturbereinigte („strukturelle“) Defizit also kleiner als 0,5% des BIP.
Nun aber entfaltet das Schuldenkriterium seine Wirkung. 2012 und 2013 steigt die spanische Staatsschuldenquote (Relation der Schulden zum BIP) von 70% auf fast 90% (!). Dazu tragen die Budgetdefizite 8,4 BIP-Prozentpunkte bei (5,4 plus 3,0). Noch stärker ins Gewicht fällt die Schrumpfung des BIP (des Nenners) um 10%. Folge: Nach dem Schuldenkriterium muss Spanien jetzt 20 Jahre lang Jahr 1,5% des BIP einsparen (1/20el von 90% minus 60%)…..
Verordneter Weg in die Depression
Fazit: Die „Verzahnung“ von Defizit- und Schuldenregel im Fiskalpakt verordnet (fast) allen EU-Ländern den „griechischen Weg“ in die Depression. Sparmaßnahmen reduzieren zwar das Defizit, aber gleichzeitig das BIP, die Staatsschuldenquote steigt, und das erzwingt ein (nahezu) permanentes Sparen. Der europäische Sozialstaat wird so konsequent stranguliert. Das hat der EZB-Chef Draghi richtig erkannt.
Beispiel Italien: Die Staatsschuldenquote beträgt 120%, Italien müsste also 20 Jahre lang 3% des BIP einsparen, Jahr für Jahr…… Wichtig: Die für das Europäische Sozialmodell verheerende Wirkung des Fiskalpakts liegt nicht in der viel diskutierten Schuldenbremse nach deutschem Vorbild (= Defizitkriterium), sondern im Schuldenkriterium – über dieses ist kaum berichtet, geschweige denn öffentlich diskutiert worden. Danach müssen nämlich alle wichtigen EU-Länder permanent und gleichzeitig konsolidieren. Wer so etwas beschließt, hat das 1 mal 1 der Makroökonomie nicht begriffen.
Ein weiterer Fundamentalfehler: Die Zielgröße einer Schuldenquote von 60%. Dieser Wert hatte 1992 als Teil der Maastricht-Kriterien seine Berechtigung. Damals glaubte man, (nominelle) BIP würde langfristig um 5% pro Jahr steigen. In diesem Fall konvergiert die Staatsschuldenquote gegen den Wert von 60%, wenn das Budgetdefizit permanent bei der Maastricht-Obergrenze von 3% des BIP liegt (3/5=0,6).
Tatsächlich ist aber das nominelle BIP der Euroländer seit 1992 lediglich um 3,5% pro Jahr gestiegen. Daraus ergäbe sich ein höherer Grenzwert der Staatsschuldenquote, nämlich 86% (3/3,5). Soll aber das Gesamtdefizit mittelfristig nur 0,5% des BIP betragen wie im EU-Fiskalpakt vorgesehen, dann dürfte der Zielwert der Staatsschuldenquote nur bei 14% liegen (0,5/3,5). Italien müsste dann 20 Jahre lang seine öffentlichen Schulden um 5,3 BIP-Prozentpunkte pro Jahr abbauen.
Vernaderung als Solidaritätsbekundung
Komplettiert wird der Pakt durch den (Vernaderungs)Artikel 8: Demnach werden Strafverfahren gegen „Zuwenig-Sparer“ (nur) durch (wechselseitiges) Anzeigen der Vertragsländer beim EuGH initiiert. Das Gericht kann dann Strafen bis zu 0,1% des BIP verhängen (etwa 300 Mill. € im Fall von Österreich).
Allerdings müssten die Richter ein mehrjähriges Ökonomiestudium nachholen, um die diffizilen Fragen überhaupt zu verstehen, die beim Versuch einer Quantifizierung von Potentialoutput und strukturellem Defizit auftreten. Die Wirtschaftswissenschafter haben dazu trotz jahrzehntelangem Bemühen keine einheitlichen Antworten finden können.
Endgültig als Farce erkennbar wird der Pakt daran, dass er ja gar nicht Teil des EU-Rechts ist (weil England und Tschechien nicht mitmachen). Daher können die 25 Partner auch keine EU-Institutionen wie EuGH oder Kommission mit Pakt-Aufgaben betrauen. Vielmehr müssten sich die 25 Länder als europäischer Sparverein konstituieren („Die 25-er“), der seine eigenen Organe bildet, etwa auch ein Schiedsgericht.
Totgeburt in spe
Juristen nennen Normen, welche nicht mehr anwendbar sind, „totes Recht“. Beim Fiskalpakt handelt es sich um eine „Totgeburt in spe“. Allerdings: Bis zur Ausstellung des Totenscheins kann dieser Unsinn enormen Schaden anrichten. Seine Ratifizierung in den nationalen Parlamenten zu verhindern, ist der BürgerInnen erste Pflicht.
Dieser Beitrag erschien bereits in der Vorwoche im Falter 12/2012.
18.3.12: Quo Vadis Ungarn? Diskussion
Quo vadis Ungarn?
Diskussion am Sonntag, 18. März 2012, 18.00 Uhr im Republikanischen Club (Rockhgasse 1, 1010 Wien)
Mit Susan Zimmermann (Prof. f. Geschichte Budapest) und István Grajczjár (Ass.Prof. f. Soziologie Budapest); Moderation Julia Hofmann (BEIGEWUM)
Wie konnte aus Ungarn ein Nährboden für rechtsradikale Parteien werden? Wie lässt sich die innen- und wirtschaftspolitische Strategie der Regierung Orbán einschätzen? Was sind die Folgen der politischen Weichenstellungen für Ungarn, Europa und Österreich im Besonderen? Welche Konsequenzen soll die Europäische Union ziehen? Welche Chancen haben emanzipatorische Ideen und Projekte in Ungarn heute?
Neues BEIGEWUM Buch: „Imagine Economy“ ist da!
Jetzt ist es da: Das neue Beigewum-Buch „imagine economy. Neoliberale Metaphern im wirtschaftspolitischen Diskurs“!
Präsentationsveranstaltung:
„Vom >Rettungsschirm< zur >Schuldenbremse<: Metaphern in der Wirtschaftspolitik“
Montag, 23.4. 19:30 im Hörsaal M13a (Akademie der bildenden Künste, Schillerplatz 3, 1010 Wien, nach dem Eingang rechts, im 1.Stock)
Mit Ruth Wodak, Anita Roitner und Maria Maltschnig, Agnieszka Czejkowska und Beat Weber
In den Beiträgen dieses Bandes werden die Bilder und Assoziationen, die mit neoliberalen Metaphern transportiert werden, explizit gemacht und ihre Konnotationen und Ausblendungen kritisch beleuchtet. In der wirtschaftspolitischen Debatte wird mit Metaphern wie »Rettungsschirm«, »Schuldenbremse« (als Leseprobe hier), »schlanker Staat«, »soziale Hängematte«, »Leistungsträger« etc. versucht, gewisse Interpretationen und Wertungen ökonomischer Sachverhalte durchzusetzen, und damit bestimmte Maßnahmen zu legitimieren und andere zu diskreditieren. Dieses Buch bietet ein kleines Glossar der wichtigsten Metaphern im wirtschaftspolitischen Diskurs. Es sind zumeist solche, die ein neoliberales Weltbild und eine ebensolche Agenda transportieren. Das AutorInnenkollektiv liefert aber auch Beispiele für Metaphern und Bilder, die Wunschvorstellungen von einer emanzipativen Veränderung eine Form geben. Den Welterfindungs-Projektionen der Neoliberalen und der Unternehmen werden so alternative Bildproduktionen entgegengesetzt. Imagine Economy… differently!
Mit einem Vorwort von Ruth Wodak, Textbeiträgen von Hans Asenbaum, Klemens Himpele, Louise Horvath, Alban Knecht, Bernhard Leubolt, Susanne Mayer, Katharina Meichenitsch, Katharina Muhr, Michaela Neumayr, Walter Ötsch, Oliver Prausmüller, Armin Puller, Philipp Poyntner, Daniel Siegrist, Anita Roitner, Elisabeth Springler und Beat Weber, sowie Bildbeiträgen von Linda Bilda, elffriede.interdisziplinäre.aufzeichnensysteme, Laas und Eva Vasari.
BEIGEWUM (Hg.): imagine economy. Neoliberale Metaphern im wirtschaftspolitischen Diskurs (Arts & Culture & Education Band 7. Hg. von Agnieszka Czejkowska im Löcker Verlag. Broschur, ca. 180 Seiten, zahlreiche Farbabb., € 14,80, ISBN 978–3‑85409–614‑6)
Hörmanns Zinskritik
In den Medien wird derzeit über die Rolle von Franz Hörmann im Zusammenhang mit einer antisemitischen Wirtschaftskritik, die an die Occupy-Bewegung anzudocken versucht, diskutiert.
In der Debatte wird jedoch selten auf die problematischen ökonomischen Thesen eingegangen, durch die Hörmann populär geworden ist. Dazu ein Auszug aus dem Editorial der nächsten Ausgabe des Kurswechsel:
Der Betriebswirtschafter Franz Hörmann hat in Österreich mit Publikationen öffentliche Aufmerksamkeit erregt, die die „Zinskritik“ wiederbeleben (Hörman/Pregetter 2011: „Das Ende des Geldes“). In dieser Wirtschaftsanalyse wird das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis in den Vordergrund gestellt, und in der Verzinsung von Krediten die Ursache für Systemprobleme gesehen. Hörmann zufolge ist das zentrale Problem, dass Banken Geld als Kredit aus dem Nichts schöpfen, aber dabei die Zinsen nicht mitgeschöpft werden. Deshalb sei für Rückzahlung plus Zinsen zu wenig Geld da und der Zusammenbruch unvermeidlich. Sein Beispiel: Auf einer Insel mit 10 EinwohnerInnen eröffnet eine Bank und verleiht an jede Person 10 Goldstücke für ein Jahr zu einem Zinssatz von 10%. Nach einem Jahr werden in Summe 110 Goldstücke fällig. Die BewohnerInnen würden deshalb im Lauf des Jahres versuchen, sich gegenseitig Goldstücke abzujagen, würden also zur Konkurrenz gezwungen, um die Rückzahlung plus Zinsen aufzubringen. Es gibt aber insgesamt nur 100 Goldstücke, folglich seien letztlich Konkurse und Beschlagnahmung von Sicherheiten durch die Bank die unausweichliche Folge. Die Kreditwirtschaft sei somit ein Betrugs- und Enteignungsmodell. Hörmann sieht die aktuelle Überschuldungskrise in Europa als Ausdruck dieser Mechanismen.
Das ist ein sehr schönes Beispiel, weil sich an ihm zentrale Irrtümer der Zinskritik veranschaulichen lassen.
Erstens beachtet sie nur die Zirkulationssphäre und blendet den Verwendungszweck der Kredite, und damit die Produktion völlig aus. Der Kapitalismus dreht sich aber um Mehrwertproduktion, und Kredite sind das Mittel für Unternehmen, um diese zu starten: Sie sind kein Zwang, der Unternehmen erst in Konkurrenz versetzt, sondern die Konkurrenz bringt Unternehmen dazu, freiwillig Kredite aufzunehmen, um Mehrwert produzieren zu können. Die Geschäfte zwischen den InselbewohnerInnen, sofern es sich um eine kapitalistische Insel handelt, bestehen nicht aus wechselseitiger Übervorteilung im geldvermittelten Tauschhandel, wie das in Hörmanns Beispiel anklingt. Sondern es werden mit Hilfe der Kredite im Erfolgsfall neue Werte geschaffen, die mehr Geld einbringen als die Summe ihrer Bestandteile. Kreditgeld fungiert hier als Kapital, nicht bloß als Zahlungsmittel.
Zweitens ist die Geldmenge als Summe der zirkulierenden Zahlungsmittel keine Beschränkung für die Kreditrückzahlung plus Zinsen: Ein und dasselbe Goldstück aus dem obigen Beispiel kann für eine Vielzahl von Zahlungen durch verschiedene InselbewohnerInnen benutzt werden – Geld zirkuliert (deshalb ist die Umlaufgeschwindigkeit ein großes Thema in der ökonomischen Theoriegeschichte). Die Zinsen, die die Bank von einem Schuldner erhält, fließen wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück (weil damit u.a. Bankangestellte, ‑aktionärInnen und SparkundInnen bezahlt werden, die dieses Geld wiederum ausgeben können), und erlauben den nächsten, ihre Rechnungen zu begleichen etc. Abgesehen davon ist die Annahme abwegig, dass sämtliche Kredite einer Wirtschaft zum selben Zeitpunkt auf einmal fällig werden.
Dass es zu ungleichen Verteilungsprozessen kommt, ist zwar nicht zu bestreiten: Im Kapitalismus gilt die Kapitalakkumulation als Imperativ. Aber Zinsen sind nur ein Aspekt davon. Unternehmensgewinne, Spitzeneinkommen, Erbschaften und Finanzgeschäfte sind die zentralen Quellen für wachsende Ungleichheit: Durch Einstreifen der Zinsen auf braves Sparbuch-Sparen ist hingegen noch niemand reich geworden.
Die Zinskritik schließt an traditionelle Vorbehalte gegen Geldverleih und Zinsen an, die durch die jüngste Finanzkrise in der öffentlichen Meinung wieder Auftrieb erhielten. Mit diesem Fokus verfehlt sie jedoch zentrale Mechanismen des geltenden Wirtschaftssystems und ihr Verständnis der Funktionsweise von Geld beruht auf folgenschweren Missverständnissen. Dass entsprechende Ansätze häufig eine Nähe zu Antisemitismus aufweisen, ist auch kein Zufall.
S&P als Stimme der Vernunft?
Niemand kann oder will die Botschaft der Rating-Agentur Standard & Poors verstehen. Dabei sind die Analysen der Rater wesentlich vernünftiger als das was an Unsinn durch die österreichischen Medien geistert.
Das international renommierte Fachblatt für Wirtschaftfragen „Heute“ hat mittels zehn Fragen Österreichs Kreditwürdigkeit erläutert. Frage 7: „Wie kann Österreich den AAA-Status wiederbekommen“? beantwortet „Heute“ wie folgt: „Durch rasche Sparmaßnahmen. Gerade die hohen Schulden haben zur Herabstufung geführt (…)“ Das ist nur die simpelste Wiedergabe dessen, was fast alle MeinungsmacherInnen dieser Tage mit sorgenvoller Miene verkünden: Wir hätten die AAA-Bonität wegen mangelnder Sparanstrengungen verloren. Niemand hat es überprüft aber alle wissen: Nur harte Reformen und eisernes Sparen können uns aus der Schuldenkrise führen. Doch lassen wir Standard & Poors (S&P) einmal selbst sprechen und schauen wir, was in ihrem aktuellen Report zu lesen ist:
„Wir sind auch der Auffassung, dass die Gipfelvereinbarung (EU-Gipfel vom 9.12.) von einer lediglich einseitigen Interpretation der Ursachen der Staatsschuldenkrise geprägt ist, nämlich dass die derzeitigen finanziellen Unsicherheiten primär von mangelnder budgetärer Disziplin in den Peripheriestaaten der Eurozone herrühren. Nach unserer Meinung sind die finanziellen Probleme in der Eurozone jedoch gleichermaßen ein Ergebnis der steigenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und auseinanderlaufender Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Kernländern der Eurozone und den sogenannten Peripheriestaaten. Daher glauben wir, dass ein Reformprozess, der einseitig auf fiskalischen Sparmaßnahmen beruht, unwirksam sein könnte, indem die Inlandsnachfrage in gleichem Maße sinkt wie die Sorge der Verbraucher um ihre Arbeitsplätze und ihre verfügbaren Einkommen steigt und damit die nationalen Steuereinnahmen erodieren“.
Das hört sich doch ganz anders an als „Sparen, Sparen, Sparen“. Kann es sein, dass „den Gürtel enger schnallen“ und „sich von liebgewordenen Gewohnheiten trennen“ überhaupt nicht den Empfehlung von Standard & Poors entspricht? S&P Chefanalyst Moritz Krämer hatte im Ö1-Mittagsjournal selbst die Gelegenheit Stellung zu nehmen. Weil für Ö1-Journalist Volker Obermayer die Antworten scheinbar ohnedies schon feststanden, gab er sie sich in der Frage auch gleich selbst: „Vermissen Sie den eisernen politischen Willen, die Konsequenzen aus der Lage zu ziehen. Also nachhaltig die Budgets zu sanieren, Strukturreformen durchzuziehen?“ Zur Überraschung aufmerksamer HörerInnen kommt von Krämer keine Bestätigung: „Viel wichtiger für uns – um wieder den Fokus auf die europäische Ebene zurückzuführen – ist, dass es nach unserem Dafürhalten die Krise gar nicht vor allem eine Budgetkrise ist oder eine öffentliche Schuldenkrise, sondern eine Krise die dadurch ausgelöst wurde, dass sich die wirtschaftlichen Entwicklungen und die Wettbewerbsfähigkeiten in der Eurozone in den letzten zehn Jahren diametral in Richtung auseinander bewegt haben. Durch Schuldenbremsen europaweit lässt sich dieses Problem nicht eindämmen.“
keynesianische Krisendiagnose
Unglaublich aber wahr: Die Rating-Agentur Standard & Poors hat im Kern die gleiche Krisendiagnose wie zB etwa das keynesianisch orientierte Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf (IMK). Der Befund ist kurz gesagt der folgende: Nicht nur die öffentlichen, sondern auch die privaten Schulden bedürfen einer politischen Berücksichtigung. Wenn die Guthaben des privaten Sektors die Schulden des Sektors Staat in einer Volkswirtschaft nicht übertreffen, oder die Privaten in Summe unterm Strich sogar selbst verschuldet sind, ist das ein direktes Resultat der negativen Außenhandelsbilanz der entsprechenden Volkwirtschaft. Diese Leistungsbilanzungleichgewichte entstehen auf Grund der unterschiedlichen Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der Staaten im Euroraum, was wiederum damit zu tun hat, dass die südeuropäischen Staaten wegen der gemeinsamen Währung mangels Abwertungsventil keine Möglichkeit haben, die Lohnzurückhaltung im Norden – allen voran in Deutschland – zu kompensieren.
Diese Sichtweise auf die Ursachen der aktuellen Krise ist wesentlich differenzierter als der ausschließliche Fokus auf die öffentlichen Haushalte. Standard & Poors hat offensichtlich Leute, die clever und weitsichtig genug sind, das zu erkennen. Wieso? Ganz einfach, weil diese AktuerInnen Interesse daran haben, dass ihre Veranlagungen nicht wertlos werden und sie pragmatisch jede Politik unterstützen, die in der Lage ist das Vertrauen wiederherzustellen und den Finanzsektor nicht beim Kohle scheffeln stört.
Gleichzeitig müssen wir aber leider feststellen, dass die in Österreich veröffentlichte Meinung die Analysen von S&P ignoriert bzw. vollständig aus einem vorgefertigten und unverrückbaren Korsett heraus uminterpretiert. Beispielhaft hierfür etwa Bernhard Felderer (IHS) in „Im Zentrum“: „(…) Ich glaube entscheidend ist dass wir jetzt alle erkennen, es gibt keinen anderen Weg als Schuldenbremse als Verfassungsgesetz, als weitere Konsolidierungen.“
Natürlich weiß auch die gastgebende Moderatorin und neuerdings Finanzexpertin Ingrid Thurnher, dass der Staatshaushalt der Kern des Problems ist, wie sie eine ganze „Im Zentrum“-Sendung unmissverständlich klar machte.
Das weiß die amtierende Finanzministerin Maria Fekter () zu bestätigen: „Das was wir haben ist nicht ein wirtschaftliches Problem, ist nicht ein Problem der Realwirtschaft. (…) Das was wir haben ist ein Problem der Staaten und da der Schulden und der Defizite und Haushalte.“
Der angeblich sozialdemokratische österreichische Notenbankchef Ewald Nowotny bezeichnet die PragmatikerInnen von Standard & Poors gar als politisch motiviert. Das ist insofern besonders ulkig, weil es die europäische Wirtschaftspolitik ist, die außer den öffentlichen Haushalten kein Thema mehr kennt. Das ist Ideologie pur, eine ausgeglichene Politik würde ja alle Ursachen der aktuellen Krise – Bankenprobleme, Leistungsbilanzungleichgewichte, Verteilungsprobleme, öffentliche Haushalte – unter die Lupe nehmen. Ideologie zeichnet sich genau durch eine absichtliche Einschränkung der Wahrnehmung aus. Insofern ist S&P weiter als die EntscheidungsträgerInnen in der Europäische Union. Noch dümmer argumentieren nur Abgeordnete der CDU im Online-Standard „CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs spricht von „Attacken auf den Euro“ aus den USA. Der CDU-Europa-Politiker Elmar Brok sagt in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, die Abstufung käme in der Konsequenz „fast einem Währungskrieg“ gleich.“ Es ist völlig absurd zu glauben, irgendwer in den USA hätte Interesse an einem Kollaps des Euro. Die Portfolios der AkteurInnen am Finanzmarkt sind international diversifiziert, da besteht mit Sicherheit kein Interesse daran, dass eine der großen Währungen in denen man investiert ist krachen geht.
Sind Rating-Agenturen das Zentrum des Bösen?
Bei aller Kritik an den Ratingagenturen muss man eines sagen: Ratingagenturen sind einfach Teil eines Systems, dessen Entwicklung durch politische Entscheidungen zugelassen und sogar gefördert wurde. Ratingagentur sind nicht unmoralisch, sondern amoralisch, weil sie innerhalb einer Systemlogik ihre Aufgabe erfüllen. S&P will einfach die Krise überleben und wieder ordentlich Geld verdienen. Deshalb sind sie im Zweifelsfall offensichtlich pragmatisch.
Das Zentrum des Bösen sind offenbar weder die Rating-Agenturen, noch das Finanzkapital, sondern es ist die Ideologie. Und zwar die Spar- und Austeritätsideologie, die in Europa von 90% aller Opinion Leader nachgebetet wird. Keine Industrie, weder binnen- noch exportorientierte, ja nicht einmal die aufgeblähte und überflüssige Finanzindustrie haben irgendetwas von dieser Sparpolitik.
Dieser Beitrag ist in einer längeren Version auf misik.at zu finden.
2.2.12: Care Ökonomie Diskussion
„Investitionen in soziale Dienstleistungen zahlen sich aus. Care Ökonomie – unterschätztes Potential!“
Diskussion und Kurswechsel-Heftpräsentation mit Alban Knecht und Katharina Mader, Moderation: Julia Hofmann
Do, 2. Feber 2012, 18:00, im Republikanischen Club, Rockhgasse 1, 1010 Wien
Care-Krisen sind die „Zweitrundeneffekte“ von Wirtschaftskrisen. Fallen staatliche Sozialausgaben weg, sind unbezahlte Care-Tätigkeiten als soziale Airbags gefragt. Doch die Care Ökonomie muss als das begriffen werden, was sie ist – ein wachsender, aufstrebender Bereich, von dem alle profitieren. Alban Knecht und Katharina Mader diskutieren mit Julia Hofmann, warum sich Investitionen in soziale Dienstleistungen auszahlen, und stellen den aktuellen Kurswechsel vor, der auch vor Ort bezogen werden kann. Im Anschluss gemütlicher Ausklang mit Buffet.
The same procedure as every year: Eine Studiengebührendebatte
Die SPÖ scheint ein neues Hobby zu haben: Jedes Jahr vor Weihnachten wird die Debatte um Studiengebühren ausgepackt – eine Debatte, in der die SPÖ nur verlieren kann. Bereits letztes Jahr habe ich hier die Debatte in der Sozialdemokratie kommentiert. Dieses Mal geht es nun verstärkt um sogenannte nachgelagerte Studiengebühren. Die Idee ist, dass die Studierenden während des Studiums die Studiengebühren erlassen bekommen, um sie dann nach dem Studium abzubezahlen. Im Detail unterscheiden sich die Modelle dabei erheblich, wobei die Stellschrauben vor allem die Folgenden sind:
- Die Studiengebühren werden als fester Betrag als Schulden verbucht, also bspw. 1.000 Euro im Jahr. Nach dem Studium sind diese Schulden abzubezahlen.
- Die Studiengebühren werden nicht erhoben, sondern ein bestimmter Anteil des späteren Einkommens wird als Sondersteuer eingezogen. Die Höhe der Studiengebühren hängt also vom eigenen Einkommen ab.
- Die Schulden werden verzinst oder nicht.
- Es gibt eine zeitliche Begrenzung der Rückzahlung (etwa: zehn Jahre nach Studienabschluss) oder man bezahlt, so lange man Einkommen bezieht.
Allgemein wird in der Debatte gerne auf das australische Modell verwiesen, oft jedoch ohne genaue Kenntnisse des Modells. Auch diese Debatte ist keineswegs neu. Alle Modelle haben spezifische Probleme, aus ökonomischer Sicht sind die Fragen der Steuerungswirkung, der Rückzahlungssumme, des Verwaltungsaufwands und der Mitnahmeeffekte bei diesen Fragen zentral. Allerdings gibt es einige grundsätzliche Einwände gegen nachgelagerte Studiengebühren, die im Folgenden in aller Kürze benannt werden sollen. Eine ausführliche Darstellung und Kritik der Modelle findet man in einer Broschüre des deutschen Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ABS) als PDF.
Soziale Selektivität
Die Erhöhung von Preisen sorgt in der Regel für einen Rückgang der Nachfrage. Preise sind eine Selektionsinstrument, um die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zu regulieren, zum Zuge kommt, wer die entsprechende Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit aufweist. Deswegen sind Studiengebühren immer auch mit einer sozialen Selektivität verbunden. Dieses Selektivität soll nun dadurch vermieden werden, dass die Studiengebühren nicht direkt, sondern nachgelagert erhoben werden. Die Argumentation der Beführworter/innen solcher Modelle: Da die Gebühren nur bezahlt würden, wenn ein Einkommen vorhanden ist, sei eine Selektivität nicht gegeben. Diese Argumentation setzt einen Homo Oeconomicus voraus, der rational kalkulierend und vollständig informiert seine Entscheidungen treffen kann – das ist jedoch bekanntlich nicht der Fall. Wir wissen, dass die Frage der Herkunft einen entscheidenden Einfluss auf die Risikoaversion hat; und eine Verschuldung ist in der subjektiven Wahrnehmung immer mit einem Risiko verbunden. Und wir wissen, dass Menschen aus bildungsfernen Schichten die Kosten eines Studiums oft über‑, den Nutzen aber unterschätzen. Kurzum: Es spricht vieles dafür, dass die soziale Selektivität ggf. gemindert, jedoch nicht vermieden wird. Dafür sprechen auch die Erfahrungen aus Australien (siehe die oben verlinkte Broschüre). Die Verschiebung des Zahlungszeitpunktes ändert eben nichts an der Tatsache, dass bezahlt werden muss.
Gerechtigkeit
Zur Frage, ob Studiengebühren sozial Gerecht sind, hat Sonja Staack in diesem Beitrag eigentlich alles gesagt. Die Argumentation der Gebührenbefürworter/innen läuft im Kern darauf hinaus, dass diejenigen, die den Nutzen haben, auch die Kosten tragen sollen (siehe zu diesem Argument ausführlich uns lesenswert auch hier). Dabei wird einerseits die Frage ausgeblendet, wem ein Studium eigentlich nutzt. Sicher, der Studierende selbst hat hiervon etwas. Aber die Begründung öffentlicher Bildungseinrichtungen liegt gerade auch darin, dass es eben nicht um den persönlichen Nutzen geht, sondern um den gesellschaftlichen. Es ist im Zweifel so, dass der Patient mehr von einem gut ausgebildeten Arzt hat als der Arzt selbst. Dieses sehr plakative Beispiel lässt sich auf andere Bereiche übertragen. Zum zweiten wird die Frage ausgeblendet, wer den eigentlich einen Nutzengewinn hätte, wenn Studiengebühren eingeführt würden. Darunter leiden sicher nicht die Kinder aus gut verdienenden Elternhäusern. Im Gegenteil: Sollte die Studierneigung auf Grund der Gebühren sinken, dann würde das Angebot an AkademikerInnen auf dem Arbeitsmarkt sinken und diese somit höhere Löhne verhandeln können.
Richtig ist, dass das derzeitige System in Österreich nicht in ausreichendem Ausmaß die Verteilung des Sozialprodukts regelt. In der Tendenz werden die Reichen reicher und die Armen ärmer. Zudem müssen öffentliche Ausgaben auch refinanziert werden. Hierfür bedarf es eines gerechten Steuersystems. Warum dieses aber am Bildungsabschluss statt an der Leistungsfähigkeit anknüpfen soll bleibt das Geheimnis der Akademikersteuerfans.
Bildungsbegriff
Ein entscheidende Frage, was eigentlich der Sinn eines Studiums ist, fällt bei der Debatte um die Studiengebühren völlig hinten runter. Denn Studiengebühren – egal ob nachgelagert oder direkt bezahlt – verändern den Bildungsbegriff. Das Studium wird so zu einer Investition in das eigene Humankapital, der Return on Investment ist das später zu erzielende Einkommen. Das Ziel des Studiums ist also nicht Erkenntnisgewinn, Wahrheitssuche, Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen oder ähnliches, sondern das Ziel des Studiums ist das spätere Einkommen. Darauf soll fokussiert werden (schon bei der Wahl des Studiengangs), das ist der zentrale Steuerungsansatz über Studiengebühren. Auch hier lohnt ein Blick nach Australien, wenn schon das dortiger Higher Education Contribution Scheme (HECS) gerne als Vorbild genannt wird: Hier sind die Studiengebühren in verschiedene Preiskategorien unterteilt. Besonders hoch sind die Gebühren aber nicht in den Fächern, die besonders teuer sind, sondern in den Fächern, in denen das erwartete Einkommen hoch ist. „Viel offensichtlicher ist, dass für diese Preisbildung die Antizipation künftiger Einkommenschancen nach Berufsgruppen Pate gestanden hat. Der Staat will hier offensichtlich potentielle ökonomische Verwertungsmöglichkeiten abbilden und auf Seiten der StudienplatzbewerberInnen eine indirekte sozialdarwinistische Vorselektion über die Risikowahrnehmung und ‑bereitschaft erzeugen. Damit wird hier die Studienentscheidung zu einer Investitionsentscheidung, sie wird nur noch unter ökonomischen Nützlichkeitskriterien betrachtet, die dann auch das individuelle Verhältnis zur Wissenschaft prägt“, heißt es dazu auf den NachDenkSeiten.
Einnahmen des Staates?
Die Debatte um nachgelagerte Studiengebühren wird extrem unehrlich geführt. Denn die Debatte ist in Österreich vor allem Folge der massiven Unterfinanzierung der Hochschulen. Dieses Problem soll partiell durch die Einnahmen aus den Studiengebühren gelöst werden. Wenn nun aber nachgelagerte Studiengebühren eingehoben werden sollen, die zudem erst ab einem bestimmte Einkommen greifen, dann hat der Staat zunächst einmal keine Einnahmen. Im Gegenteil: er müsste die Studiengebühren, die er in einigen Jahren vielleicht bei den Studierenden eintreibt heute den Hochschulen vorstrecken, er müsste also erhebliche Vorleistungen tätigen. Hinzu kommen die Zinsverluste bis zum nachgelagerten Bezahlen der Gebühren, die erheblichen Verwaltungskosten (man Denke nur an das Eintreiben bei säumigen Zahler/innen, die ggf. auch noch im Ausland leben) und die Implementierungskosten. Kurzum: Ob der Staat am Ende tatsächlich ein Plus macht hängt von der Höhe der Gebühren und den Rückzahlungsgrenzen ab. Je brutaler hier vorgegangen wird, desto eher gibt es auch Einnahmen. Das aber beißt sich mit den proklamierten Zielen der angeblichen sozialen Verträglichkeit. Auch hier lohnt der schonungslose Blick nach Australien.
Die Österreichische HochschülerInnenschaften hat die Debatte in einer Presseaussendung kommentiert. Darin wird deutlich, dass die ÖH nachgelagerte Studiengebühren ablehnt. Es gilt die Studierenden bei Ihren politischen Auseinandersetzungen zu unterstützen. Soziale Verträglichkeit auf die Frage der Kreditaufnahmemöglichkeit zu reduzieren jedenfalls ist fatal – und der Sozialdemokratie unwürdig.
Divided we stand – Why inequality keeps rising
Die Welt steht nicht mehr lange. Der Komet wird kommen. Wenn bereits die OECD, der neoliberale Fels in der Brandung, die steigende Ungleichheit beklagt, dann sind unsere Tage gezählt …
386 Seiten zur Ungleichheit im OECD-Raum: Heute stellt die OECD einen umfassenden Bericht zur Ungleichheit, zu ihren Ursachen und Handlungsmöglichkeiten vor. Im Pressetext heißt es dazu: „´Divided we stand´ geht den Ursachen steigender Ungleichheit auf den Grund. Die Studie widerlegt die Annahme, dass Wirtschaftswachstum automatisch allen Bevölkerungsgruppen zugutekommt und dass Ungleichheit soziale Mobilität fördert. ´Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität – aber sie ist nicht unausweichlich´, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurria [hat er am Vorabend getrunken?]. ´Wir brauchen eine umfassende Strategie für sozialverträgliches Wachstum, um diesem Trend Einhalt zu gebieten´.“
Wie gesagt, die Welt steht nicht mehr lange …
Der Bericht ist zu finden unter: http://dx.doi.org/10.1787/9789264119536-en
Weiteres Material zum Thema: www.oecd.org/els/social/inequality
Österreich ist ein Einwanderungs-, kein Gastarbeiterland. Zum ambivalenten Verhältnis von so genannten InländerInnen und so genannten AusländerInnen
Österreich ist ein Einwanderungsland! Daher sollte von ZuwanderInnen, nicht von GastarbeiterInnen gesprochen werden. Dennoch wird an der Fiktion des „Gastarbeiters“ – im Neusprech umschrieben mit „circular migration“ – festgehalten. Die seit längerem bestehenden, gegenwärtig wieder stärker thematisierten Probleme mit der Integration von MigrantInnen in Österreich hängen nicht zuletzt mit diesem „Missverständnis“, das ein wechselseitiges war und ist, zusammen; dieses nahm ihren Anfang mit den Anwerbe-kampagnen Ende der 1960er Jahre. Ein durch das Ausländerbeschäftigungsgesetz unnötig lange aufrecht erhaltener, prekärer Arbeitsmarktstatuts von ImmigrantInnen auf der einen Seite und Parallelgesellschaften auf der anderen sind die Folge. Hinzu kommen vielfältige Formen der Diskriminierung von MigrantInnen, die ihre Triebfeder nicht selten aus rassistischen Impulsen beziehen und eine politisch weithin ignorierte Realität darstellen.
Das natürliche Bevölkerungswachstum ist in Österreich mit Mitte der 1990er Jahre zum Stillstand gekommen. Seitdem wächst die Wohnbevölkerung im Lande nur mehr, weil mehr Menschen zuwandern (2010 waren das ca. 114.400 Personen) als abwandern (ca. 86.700 Personen), die Nettomigration belief sich daher auf +27.700 im Jahr 2010. Große Zuwanderungswellen gab es im Zeitraum 1989–1993 und (sic!) unter der Schwarz-Blauen-Regierung 2001–2005. Der Anstieg der Wohnbevölkerung seit 1960 von ca. 7 Mio. auf 8,4 Mio. ist zu 2/3 auf Zuwanderung, zu 1/3 auf den Überhang von Geburten gegenüber Sterbefällen zurückzuführen. 2010 lebten ca. 895.000 Personen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft in Österreich („Ausländer“), ca. 1,5 Mio. Personen, das sind 18,6% der Gesamtbevölkerung, mit Migrationshintergrund, d. h. beide Elternteile wurden im Ausland geboren. 642.000 Personen dieser Gruppe lebten in Wien, das entspricht 41,6% von allen. Dementsprechend liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in der Bundeshauptstadt auch bei 38,2% – Zuwanderung und Integration sind also primär ein Wiener Problem!
Aus Sicht der so genannten AusländerInnen
Wie ein aktueller Bericht der OECD „The Labour Market Integration of Immigrants and their Children“(Krause, K. und Liebig, Th., siehe http://dx.doi.org/10.1787/5kg264fz6p8w-en) im Detail darlegt, sind MigrantInnen, insbesondere aus so genannten „lower income countries“, d. h. hierzulande primär aus Ex-Jugoslawien und der Türkei stammend, am österreichischen Arbeitsmarkt auf vielfältige Art und Weise benachteiligt. Das wird im besonderen Maße an den „labour market outcomes“ ersichtlich: So lag etwa die Beschäftigungsquote von türkischen Frauen bei 40% (2010), die Quote der im Inland geboren Frauen dagegen bei 68%; bei der Arbeitslosenquote derselben Personengruppen lag die Relation bei ca. 4% zu 12%. Bei im Land geborenen Kindern von Zuwanderern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich am Rande des Arbeitsmarktes befinden (definiert als „Not in Education, Employment or Training, NEET“, gering Qualifizierte, 20–29 Jährige) mit 12% viermal höher als bei Kindern von im Land geborenen Eltern. Besondere Probleme haben Menschen mit im Ausland erworbenen formalen Qualifikationen („der iranische Diplomingenieur als Taxifahrer“): So haben hoch-qualifizierte Personen eine um 50% niedrigere Wahrscheinlichkeit, in einem ausbildungsadäquaten Job zu arbeiten als „nativ-born“-Personen, wenn sie aus ärmeren Ländern kommen und ihre Ausbildungen nicht anerkennen ließen. Oder anders formuliert: Hochschulabsolventen aus Rumänien sind in Österreich beispielsweise zu 82,2% in Tätigkeiten zu finden, für die sie überqualifiziert sind – im Vergleich dazu ist dies bei ÖsterreicherInnen nur in 33,4% der Fall (siehe IHS/WIFO 2008, Die ökonomischen Wirkungen der Immigration in Österreich 1989–2007, http://www.wifo.ac.at/wwa/jsp/index.jsp?fid=23923&id=34980&ty peid=8& diplay_mode=2). Neben dem Fehlen eines Gesamtkonzeptes zur Integration von MigrantInnen weisen die OECD-AutorInnen auch darauf hin, dass Diskriminerung offensichtlich ein reales Problem für viele ZuwanderInnen in Österreich ist, zu dem aber bisher wenig konkrete Forschungsergebnisse vorliegen (etwa so genannte „correspondence testing studies“, die in anderen Ländern zeigen, dass Personen mit „ausländisch klingenden“ Namen wesentlich seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, obwohl ihre Lebensläufe mit der inländischen Vergleichsgruppe nahezu ident sind) und das öffentliche Problembewusstsein auch weitgehend fehlt.
Zu dieser faktischen Schlechterstellung von MigrantInnen am Arbeitsmarkt kommt natürlich in manchen Fällen eine Art von Integrationsverweigerung hinzu, die sich etwa in mangelnden Deutschkenntnissen auch nach Jahrzehnten des Aufenthaltes in Österreich manifestiert. Eine Mentalreservation, die genährt wird von der, mit den Jahren verblassenden Hoffnung auf Rückkehr ins vermeintliche Heimatland und die den Betroffenen teuer zu stehen kommt: Sie sind weder hier noch dort zu Hause!
Aus Sicht der so genannten InländerInnen
Vereinfacht formuliert, erschweren das Multi-Kulti-Getue der Grünen, die politische Korrektheit der Linken und die Hetze der FPÖ bis dato die offenen Diskussion von negativen Auswirkungen der Zuwanderung – insbesondere auf Niedrigqualifizierte. Die ökonomische Zunft, in der Mainstream-Variante im Besonderen, ist ja gerade dabei, die letzte Reputation zu verlieren, aber, wenn etwas klar ist, dann: Zusätzliches (Arbeits-)Angebot drückt, sonst alles gleich, den (Lohn)Preis. Nur im unrealistischen Fall, dass Zuwanderung ausschließlich komplementär wirkt, gibt es nur positive Effekte. Daher sind die Gewerkschaften auch gegenüber Zuwanderung traditionell skeptisch (aber leider nicht nur deshalb …). Immigration erhöht, vor allem wenn in kurzer Zeit mehr als 2–3% der Beschäftigten am Arbeitsmarkt zusätzlich auftreten (wie 1990–1991), die Arbeitslosigkeit derer, die sich zusätzlicher Konkurrenz gegenübersehen: Dies gilt für Niedrig‑, aber auch für Hochqualifizierte, für letztere sind nur die Auswirkungen in sozialpolitischer Hinsicht weniger problematisch. Lt. der oben bereits zitierten IHS/WIFO-Unterschung von 2008 erhöht zwar ein zusätzliches ausländisches Arbeitsangebot von 1% (ca. 30.000 Personen) BIP und Beschäftigung eindeutig, aber auch die Arbeitslosigkeit erhöht sich, die Löhne werden tendenziell gesenkt (steigen weniger) und auch das BIP pro Kopf sinkt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Durschnittswerte sind: in einzelnen Sektoren und einzelnen Regionen fallen die Effekte für einzelne Gruppen weit höher aus! Dies gilt im übrigen auch für die aktuelle Arbeitsmarktöffnung 2011, mit der ca. 20.000 Personen bisher zusätzlich am österreichischen Arbeitsmarkt aus den EU8-Staaten aufgetreten sind. Es kann also, ohne allzu spekulativ zu sein zu wollen, davon ausgegangen werden, dass die Verluste in den realen Einkommen der untern 3 Dezile seit Anfang der 1990er Jahre auch (!) auf die Zuwanderungswellen in diesem Zeitraum zurückgeführt werden können. Wenn aber diese negativen Auswirkungen der Zuwanderung auf einzelne Gruppen von der Politik nicht wahrgenommen werden – dann, ja dann, haben die Rattenfänger vom Schlage eines Herren Strache oder Sarrazin vermehrt Zulauf!
Wenn wir nicht heute die Probleme bei der Integration von MigrantInnen ernsthaft in Angriff nehmen, dann werden sich uns in Zukunft mehr noch als gegenwärtig auf den Kopf fallen: Die Erwerbsbevölkerung 15–64 Jahre wird ohne Migration bis 2050 aller Voraussicht nach um 1,4 Mio. Personen zusätzlich schrumpfen. Wenn auch kein Grund zu panischem Alarmismus auf Grund der Tatsache einer alternden Bevölkerung besteht (wir werden aller Vorraussicht reicher werden bis 2050, die Beschäftigungsquoten können erhöht werden, etc.), so ist doch klar: Der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund wird jedenfalls noch ansteigen in den nächsten Jahrzehnten!
Conclusio: Es ist dieses Unentschiedene in diesem Lande – da holen wir, im internationalen Vergleich relative viele MigrantInnen ins Land, nennen sie „GastarbeiterInnen, halten sie in prekären Arbeitsmarkt- und Lebensverhältnissen, wollen sie nicht integrieren – und wundern uns dann, wenn die Betroffenen auch nicht wollen! Warum können wir nicht ehrlicher sein: Wir lassen nur so viele EinwanderInnen zu, wie wir politisch auch verkraften können, behandeln diese jedoch dann auch anständig und ermöglichen ihnen die Integration!
Imagine Economy: „Schuldenbremse“ – Vorschau aufs neue BEIGEWUM-Buch
Im Frühjahr 2012 erscheint das neue BEIGEWUM-Buch „Imagine Economy. Neoliberale Metaphern in der Wirtschaftspolitik“, das sich mit der Rolle von Metaphern im wirtschaftspolitischen Diskurs und ihren Einfluss auf das Denken und Handeln auseinandersetzt. Aus aktuellem Anlass machen wir hier (PDF) einen Beitrag zum Thema „Schuldenbremse“ aus diesem Buch vorab verfügbar.
Mehr über den Band, der im Rahmen der Reihe Arts, Culture and Education im Löcker Verlag erscheinen wird, gibt es in den abschließenden Bemerkungen dieses Artikels: (link)