Diskussion „Alternativen zum BIP“: Veranstaltungsbericht vom 4.5.2011
Wie neutral ist das BIP? Unter anderem diese Frage wurde bei der BEIGEWUM-Podiumsdiskussion „Alternativen zum BIP – welche Indikatoren für welche Gesellschaft?“ am 4.5. durchaus kontroversiell diskutiert. Konrad Pesendorfer (Generaldirektor Statistik Austria) verteidigte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als wertfreie Addition monetärer Aktivitäten, die erst durch ihre Überhöhung als Wohlstandsindikator durch die Politik problematisch, weil irreführend, werde. Demgegenüber betonten Katharina Mader (Wirtschaftsuniversität, BEIGEWUM) und Ulrich Brand (Politikwissenschafts-Professor Uni Wien) die intrinsisch politische Qualität von Indikatoren. „Kennziffernfragen sind Machtfragen“ lautet denn auch der Titel eines Beitrags im aktuellen Kurswechsel 1/2011, der bei der Veranstaltung vorgestellt wurde.
Derzeit gibt es international eine Debatte um neue Wohlstandsindikatoren, die das BIP ergänzen oder ablösen sollen, wie Konrad Pesendorfer erläuterte. Als wichtige Wegmarke gilt der von Frankreichs Präsident Sarkozy beauftragte Stiglitz/Sen/Fitoussi-Bericht, der in drei Gebieten Anpassungen vorschlägt (Ergänzung des Produktions-Blickwinkels des BIP durch eine Betrachtung der Lage von Haushalten; Messung von Lebensqualität; Messung von Nachhaltigkeit). Im Anschluss daran sind auch EU und OECD aktiv bei der Suche nach neuen Indikatoren. In Österreich arbeitet die Statistik Austria daran, auf Basis bestehender Daten solche Indikatoren bereitzustellen. Aus dem Publikum wurde zudem auf das Indikatorenset nachhaltiger Entwicklung in Österreich hingewiesen.
Bei den Indikatoren anzusetzen wertete Mader als Versuch, das Pferd verkehrt herum aufzuzäumen. Zuerst brauche es eine neue Wirtschaftstheorie und Debatte darüber, was gesellschaftlich wichtig, was wirtschaftlich sinnvolle Aktivität und wie der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Lebensqualität sei, erst daraus abgeleitet könne sinnvoll über Indikatoren diskutiert werden. Die Ausblendung der Hausarbeit im BIP und die damit verknüpften geschlechterpolitischen Fragen nannte Mader als zentrales Beispiel. Die Frage, was gemessen werde und ob aus Messungen auch (wirtschafts)politische Konsequenzen gezogen werden, sei eine Frage gesellschaftlicher Macht, und keine technische Frage der Erfindung von Indikatoren. Die BIP-Debatte blende gesellschaftliche Machtverhältnisse und die Grundtatsache eines Wirtschaftssystems aus, das auf Kapitalakkumulation basiert, so Brand.
Dies wurde in der Diskussion aufgegriffen, als die Frage thematisiert wurde, was eine Erfindung neuer Indikatoren dagegen ausrichten könne, dass in der EU-Leitstrategie für die nächsten Jahre, „EU 2020“, bereits zentrale Indikatoren vorgegeben seien.
Reduktion oder Breite?
Brand wies darauf hin, dass es bereits zahlreiche alternative Indikatoren gebe (Gini Koeffizient für Verteilung, Human Development Index, Happy Planet Index, ökologischer Rucksack, Gute Arbeit Indikator etc.), so dass die Arbeit nicht bei Null beginnen müsse. Eine Vielzahl von Indikatoren sei wichtig, um die Breite gesellschaftlicher Probleme im Blick zu behalten, statt wie im BIP zahlreiche Aspekte auszublenden. So führe z.B. die „BIP-Brille“ in der Wirtschaftspolitik dazu, dass etwa nur an marktförmige, wachstumsfreundliche Lösungen der ökologischen Krise gedacht werde. Demgegenüber betonte Pesendorfer, dass es wichtig sei, die Breite auf wenige Leitindikatoren einzuschränken, die dafür eine umso breitere Öffentlichkeit erreichen könnten.
Fotos zur Veranstaltung: Fachbuchhandlung des ÖGB-Verlags
18.5.2011 Workshop EU-Wirtschaftsreformen
Workshop „Aktivitäten der Europäischen Zivilgesellschaft als Reaktion auf EU >Six Pack< zu European Economic Governance“
18.05.2011, 18–20 Uhr im Republikanischen Club (Rockhgasse 1, 1010 Wien)
mit Alexandra Strickner (Attac Österreich) und Lukas Oberndorfer (AK, Abteilung EU& Internationales)
Der „six pack“: so werden die sechs Legislativvorschläge im politischen Jargon genannt, mit denen sich die EU, zumindest wenn es nach dem Willen der EU Kommission und der Regierungschefs geht, eine neue wirtschaftspolitische Steuerung mit Sanktionsmechanismus geben will. Für die einzelnen Mitgliedsstaaten bedeutet dies: Schärfere Kontrollmaßnahmen für das Budget als unter dem Stabilitätspakt und harte Sanktionsmechanismen bei Abweichungen. Für die BürgerInnen wahrscheinlich sehr drastische Sparpakete in den nächsten Jahren.
Doch handelt es sich dabei wirklich um eine stille neoliberale Revolution, wie dies Klatzer/Schlager (2011) in ihrem jüngsten Artikel im Kurswechsel bezeichnen – oder gibt es auch andere Bewegungen?
Der BEIGEWUM veranstaltete bereits am 31.03. unter dem Titel „European Economic Governance – ein verschärfter Neoliberalismus“ einen Workshop im Zusammenhang mit den gesetzlichen Aktivitäten der europäischen Union. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Analyse der offiziellen Prozeduren und Inhalte.
Der Schwerpunkt des Workshops am 18.05.2011 liegt auf den Aktivitäten der europäischen Zivilgesellschaft. Was haben unterschiedliche Gruppierungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten und auf europäischer Ebene diesem Vorgehen der Regierungen entgegenzustellen? Welche Aktivitäten sind bis zum möglichen Beschluss des „Six Pack“ am Ecofin am 15. Juni geplant und welche Inhalte sollen transportiert werden bzw. wurden schon platziert?
Antworten auf diese Fragestellungen werden uns Alexandra Strickner (Attac Österreich) und Lukas Oberndorfer (AK, Abteilung EU & Internationales) geben.
Korruptionsskandal im EU-Parlament nur die Spitze des Eisbergs
Im März ließ die britische Zeitung Sunday Times vier Abgeordnete auffliegen, die für in Aussicht gestellte Bezahlung Gesetzesvorschläge im EU-Parlament eingebracht hatten. In einer Undercover-Recherche hatten sich JournalistInnen der Zeitung als LobbyistInnen ausgegeben und Abgeordneten Beraterjobs in einer erfundenen Lobby-Firma angeboten – für 100.000 Euro jährlich. Auf heimlich gedrehten Videos wurde veröffentlicht, wie der ex-Außenminister Ernst Strasser, der Rumäne Adrian Severin, der Slowake Zoran Thaler und der Spanier Pablo Zalba Bidegain darauf eingingen.
Thaler und Strasser sind nach den Veröffentlichungen zurück getreten. Severin wurde aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen, klebt aber an seinem Parlamentssitz. Ebenso Zalba Bidegain. Die Konservativen verteidigen den Spanier, der gar kein Geld angenommen hätte. Dabei zeigt das Sunday Times Video deutlich, dass Zalba alles andere als abgeneigt war.
Der bisher größte Lobbyskandal der EU-Geschichte hat in Brüssel Schockwellen ausgelöst. Und eine breite Debatte über Korruption und die Rolle von Lobbyisten im EU-System. Diese Woche tagte erstmals eine von Parlamentspräsident Buzek eingesetzte Arbeitsgruppe, um einen strikten Verhaltenskodex für EU-Abgeordnete zu erarbeiten.
Der ist bitter nötig. Allein die Tatsache, dass fast 25% der ParlamentarierInnen, die die Undercover-JournalistInnen der Sunday Times kontaktiert haben (14 von insgesamt 60) ernsthaft an ihrem Angebot interessiert waren, zeigt, dass im EU-Parlament die Grenze zwischen gewählten EntscheidungsträgerInnen und bezahltem Lobbyismus längst verschwommen ist.
Lukrative Nebentätigkeiten
Auch, dass vor dem Sunday Times Skandal kaum jemand ein Problem damit hatte, dass Strasser neben seiner Abgeordnetentätigkeit hunderttausende Euros als Industrie-Lobbyist verdiente, gibt zu denken. Bereits im Februar gab es Gerüchte, dass der Abgeordnete Treffen zwischen der EU-Kommission und Unternehmen einfädelte. Damals stritt er das schlicht ab und die Sache war vom Tisch. Im Sunday Times Video ist er dagegen ganz offen: “Na klar bin ich Lobbyist”. Und ein besonders guter dazu, denn als Abgeordneter könne er eben leicht Türen öffnen.
Tatsächlich gibt es im Europaparlament bisher keine Regeln, die ParlamentarierInnen verbieten, nebenher Lobbyismus zu betreiben. Kürzlich enthüllte ein Reuters-Artikel Nebenjobs einer Reihe prominenter Abgeordneter, bei denen Interessenkonflikte mit ihrer Tätigkeit im Parlament auf der Hand liegen. Der deutsche Christdemokrat Klaus-Heiner Lehne ist z.B. Partner der Anwaltskanzlei Taylor Wessing. Und EU Veteran Elmar Brok steht auf der Gehaltsliste des Medien-Giganten Bertelsmann. Beide Unternehmen lobbyieren die EU-Institutionen.
Nicht selten bekommen Abgeordnete die Federfürhung zu einem Thema, bei dem sie aufgrund ihrer Nebenjobs einen klaren Interessenkonflikt haben. Im letzten EU-Parlament setzte sich der britische Abgeordnete John Purvis als Berichterstatter zu Hedge Funds ein für deren laxe Regulierung. Gleichzeitig war Purvis Vorsitzender des britischen Ablegers eines Schweizer Unternehmens, das in Hedge Funds investierte.
Durch die Drehtür… und zurück
Als er aus dem Parlament ausschied, wechselte Purvis zur Lobby-Firma Cabinet DN, als Experte für Finanzmarktangelegenheiten. Er ist nur einer von vielen ehemaligen Abgeordneten, die durch die Drehtür von der Politik in die Lobby-Industrie gewechselt haben.
Auch Hubert Pirker, Strasser’s Nachfolger im Europaparlament, war schon einmal Abgeordneter bevor er seine Lobbyfirma EU-Triconsult aufmachte – die er als neuer Abgeordneter nun angeblich wieder zugemacht hat.
Bei einer derart gut geölten Drehtür zwischen Europaparlament und der Lobbyindustrie stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob die Brüsseler Abgeordneten im öffentlichen Interesse Politik machen – oder potentiellen zukünftigen Arbeitgebern gerne mal einen Gefallen tun.
Fließende Grenze zwischen Lobbyismus und Korruption
Das deutet bereits an, dass die Grenze zwischen Lobbyismus und Korruption fließend ist. Darauf hat jüngst der schwedische EU-Parlamentarier Carl Schlyter hingewiesen. In einem Interview verurteilte er die Praxis, Gesetzesanträge für Geld einzubringen als “widerlich”. Allerdings sei sie die Ausnahme. Denn: “Die meisten Abgeordneten reichen Änderungsanträge für andere umsonst ein. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Was am Ende beschlossen wird, ist das Gleiche.” Schlyter sieht im Lobbyismus daher eine der Hauptursachen für schlechte EU-Politik.
Auch andere Abgeordnete haben sich in den letzten Wochen dafür ausgesprochen, den Einfluss von Kapitalinteressen auf die EU-Politik zurück zu drängen. Und Abgeordneten die zulassen, dass die Kapitalseite in Brüssel ständig den Politikprozess kapert, die Stirn zu zeigen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob sich für ihre Position eine Mehrheit finden lässt.
4.5.: Alternativen zum BIP: Welche Indikatoren für welche Gesellschaft?
Wachstum als zentrale Messgröße für gesellschaftlichen Wohlstand gerät immer stärker in Kritik. Zu offensichtlich wird das Auseinanderfallen von Wachstum mit einer Verbesserung der Lebens- und Existenzbedingungen breiter Bevölkerungsschichten. Parallel zur Krise des finanzgetriebenen Wirtschaftsmodells, der ungleicheren Verteilung des erwirtschafteten Reichtums und der Arbeit sowie der ökologischen Probleme wächst das Bedürfnis nach Alternativen zur Kennzahl des BIP bzw Wirtschaftswachstums.
Obwohl immer noch wirtschaftspolitische Steuerungs- und Erfolgsmessgröße Nummer Eins, gibt es unterschiedliche Initiativen auf nationaler (Statistik Austria) und internationaler (UNO, OECD, EU) Ebene um ein breiteres Set an gesellschaftlichen Fortschrittsindikatoren wie beispielsweise Vermögens- und Einkommensverteilung, Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit bzw Freizeit, Qualität der Arbeit, Arbeitslosigkeit oder Ressourcenschonung zu entwickeln. Im Kern geht es aber nicht um die Kennziffern, sondern um die Frage, wie und an welchen Interessen Wirtschaftspolitik ausgerichtet und legitimiert wird.
Deshalb – und anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums des Kurswechsels – wollen wir in dieser Veranstaltung mit in der Praxis tätigen ExpertInnen der Frage nachgehen, welchen Beitrag alternative Wohlstandsindikatoren für einen gesellschafts‑, wirtschafts– und umweltpolitischen Kurswechsel leisten können und wie die diesbezüglichen derzeitigen Initiativen einzuschätzen sind.
Podiumsdiskussion & Präsentation des Kurswechsels 1/2011 „Zukunftsaussichten“
Mi, 4. Mai, Beginn: 18.30
Buchhandlung des ÖGB-Verlag, Rathausstr. 21, 1010 Wien
Podiumsdiskussion mit:
* Ulrich Brand (Institut für Politikwissenschaft & Bundestags-Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“)
* Katharina Mader (BEIGEWUM & Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie der WU Wien)
* Konrad Pesendorfer (Generaldirektor der Statistik Austria)
moderiert von Vanessa Redak (Kurswechsel-Redaktion)
Im Anschluss laden ÖGB-Buchhandlung & BEIGEWUM zu einem kleinen Imbiss.
BEIGEWUM-Veranstaltung in Kooperation mit der Buchhandlung des ÖGB-Verlags sowie: StV.Doktorat@WU, StV VW (WU)
Ein Heft mit Zukunftsaussichten – 25 Jahre Kurswechsel
Der Kurswechsel wird 25, und die aktuelle Krise wird 3: Zeit für eine Zwischenbilanz mit Ausblickcharakter. Müssen wir wieder über wirtschaftliche Stagnation reden? In welche Richtung zielt die Forderung nach einem gesellschafts‑, wirtschafts- und umweltpolitischen Kurswechsel heute? Der „Kurswechsel“ startet mit einem Schwerpunkt zu „Zukunftsaussichten“ in den Jahrgang 2011. Diesmal haben wir außergewöhnlich viel Platz eingeräumt, um vielen unterschiedlichen spannenden Perspektiven Platz zu geben, die die aktuelle Lage und ihre Möglichkeiten ausloten.
Hier das Inhaltsverzeichnis mit einigen Leseproben.
Und hier die Abomöglichkeit.
Heinz Steinert ist tot – sein Beitrag bleibt
Am 20. März ist Heinz Steinert gestorben. Auch nach seiner beruflichen Tätigkeit als kritischer Kriminalsoziologe ist Steinert der lebendigen Weiterarbeit an der Kritischen Theorie treu geblieben, und hat immer wieder mit erfrischenden Interventionen, zuletzt vor allem mit seinen Büchern zu Kapitalismus und Max Weber und Beiträgen auf links-netz.de Diskussionen bereichert oder angestoßen.
Die ersten Berührungspunkte mit dem BEIGEWUM gab es in Form einer Kritik, die Steinert an dem seiner Ansicht nach zu wenig weitgehend „alternativen“ Ecofin-Gegengipfel geübt hat, den der BEIGEWUM in Wien 2006 mitveranstaltet hat. Nicht zuletzt aufgrund der darin gegebenen Anstöße luden wir ihn aufs Podium anlässlich der 25 Jahr-Feier des Vereins im Herbst 2010. Dort hielt er ein erfrischendes Plädoyer für eine Zusammenarbeit zwischen kritischen Wirtschaftsfachleuten und anderen SozialwissenschafterInnen und gab den in unseren Zusammenhängen dominanten Krisenanalysen eine neue Wendung. Zwei Wochen vor seinem Tod übermittelte Heinz Steinert der Kurswechsel-Redaktion noch Druckfahnen-Korrekturen für seinen Beitrag in Kurswechsel 1/2011, der sein erster und leider letzter in der Zeitschrift gewesen sein wird, ja sein letzter überhaupt: „Wirtschaftspolitische Alternativen, und warum sie keinen Anklang finden“. Heinz Steinert hat bei uns großen Anklang gefunden und sein Werk wird das auch weiterhin tun. Wir verabschieden ihn in Trauer.
Europäische Union: Bleibt beim Wettlauf zum Klubbeschluss zur Europäischen Wirtschaftsregierung noch Platz für die Ausübung demokratischer Souveränität?
Wirtschaftsregierung und Pakt für den Euro : Ergebnis einer Umdeutung der Finanzmarktkrise zur Staatskrise.
Die unmittelbaren Krisenverursacher (Finanzmärkte und Banken) stehen knapp zweieinhalb Jahre nach deren Ausbruch wieder auf vermeintlich stabileren Beinen. Im letzten Jahr hat sich das Bedrohungsszenario immer mehr von einem Zusammenbruch der Finanzmärkte und einem Einbruch der gesamten Wirtschaftsleistung hin zu einem Staatsversagen und einer Gefährdung des Euro durch die überbordende Staatsverschuldung bewegt. Die Staaten der Union gehen es nun an: Es braucht eine europäische Wirtschaftsregierung. Die Gestaltung der Wirtschaftspolitik soll in einem stärkeren Ausmaß auf europäischer Ebene geregelt werden und den Nationalstaaten soll Handlungsspielraum entzogen werden. Seit Längerem schon liegen sechs Legislativvorschläge auf dem Tisch, die vor allem eine Verstärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und schärfe Sanktionierungsmechanismen bei Nichteinhaltung vorsehen. Anfang Februar ließ nun auch Deutschland mit einem neuen Papier aufhorchen. Hintergrund: Die Legislativvorschläge seien zumindest für die Eurozone nicht genug – es bräuchte einen Pakt für den Euro, der eine noch stärkere Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Euroländer impliziert und diese einer stärkeren Kontrolle unterzieht. Darauf haben sich die Eurostaaten auch in abgeschwächter Form geeinigt.
Ein Neoliberales Wirtschaftsprojekt wird durch Entmachtung der demokratischen Entscheidungsprozesse ermöglicht
Es ist außer Frage zu stellen, dass es sinnvoll wäre sich auf europäischer Ebene wirtschaftspolitisch besser zu koordinieren. Der „Wildwuchs“ an Regelungen von nationalen wirtschaftspolitischen Einzelinteressen hat in der Vergangenheit zu negativen Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung einzelner europäischer Staaten und von ganz Europa geführt. Doch eine schnelle Analyse des aktuellen Prozesses zeigt: Inhaltlich wird hier ein stark neoliberales Projekt vorangetrieben, dessen Hauptschauplatz die Legislativvorschläge sind, die beim Frühjahrestreffen der Staats- und Regierungschefs beschlossen werden sollen. Ein Ablenkungsmanöver davon wurde nun im „Pakt für den Euro“ gefunden. Dieses Vorgehen mutet von einem demokratiepolitischen Standpunkt aus betrachtet, sehr befremdlich an, da sich die Entmachtung demokratiepolitischer Entscheidungsprozesse sehr sehr deutlich zeigt. Wurden beim Abschluss des Vertrags von Lissabon noch große Reden geschwungen, dass nun ein entscheidender Fortschritt zur Demokratisierung der europäischen Union und der Weg zu einer europäischen Unionsbürgerschaft beschritten werden sollte, so ist davon beim Beschlussverfahren für die Wirtschaftsregierung sehr wenig zu bemerken. Die Regierungschefs ziehen sich in ihren „Klubraum“ zurück, halten ihre Vorschläge unter Verschluss und treffen Entscheidungen in einer Geschwindigkeit, die nicht einmal den informierten ExpertInnen Raum für eine differenzierte Analyse und Meinungsbildung gibt. Die allgemeine Öffentlichkeit leidet unter einem Informationsdefizit und es herrscht ein allgemeines Ohnmachtsgefühl angesichts des Beschlussstakkatos der RegierungsvertreterInnen in Brüssel. Doch auch diese Beschlüsse werden nicht in Unabhängigkeit getroffen, da die Regierungen vielmehr Getriebene der Interessen der Wirtschafts- und Finanzmarktlobbyisten sind.
Entwicklung eines demokratiepolitischen Bewusstseins für eine wirtschaftspolitische Ausrichtung im Sinne der Bürger der europäischen Union
Woran krankt dieses System und was ist zu tun? Der Weg zur Europäischen Wirtschaftsregierung zeigt es sehr deutlich: in der Europäischen Union hat sich bisher noch keine demokratische Öffentlichkeit der Unionsbürger gebildet. Es ist an der Zeit, Schritte dahingehend zu unternehmen, dass sich die Menschen Europas als souveräne BürgerInnen wahrnehmen. Wichtige politische Entscheidungen wohin die Europäische Union wirtschafts- und gesellschaftspolitisch steuert, können nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen werden. Eine ausführlichere Debatte durch z.B. verstärkte Medienberichterstattung gestaltet sich aber schwierig, da auch die MedienvertreterInnen – auch wenn sie ExpertInnen der Europapolitk sind — diese der Bevölkerung aufgrund technischer Komplexität und schnelllebiger ad hoc Entscheidungen schwer kommunizieren können. Nachvollziehbare Politikentscheidungen und eine ausführliche Debatte darüber sollte allerdings die Prämisse für eine demokratische Politikgestaltung sein. Daher müssen Europas Regierungen ihrem gesellschaftlichen Auftrag ihre BürgerInnen verstärkt wirtschafts- und demokratiepolitisch aufzuklären, intensiver nachkommen. Kritische Bildungsinstitutionen, Medien und zivilgesellschaftliche Bewegungen können hier einen entscheidenden Beitrag dazu leisten und vielleicht auch als „Entschleuniger“ wirken.
Aber die Verstärkung eines demokratiepolitischen Bewusstseins alleine reicht nicht aus. Es muss auch verdeutlicht werden, dass die aktuellen Vorschläge zur wirtschaftspolitischen Regierung nicht den Kern des Problems treffen. Die geplanten Maßnahmen laufen im Wesentlichen darauf hinaus, eine verstärkte Konstitutionalisierung neoliberaler Wirtschaftspolitik vorzunehmen, mit einer Bestandsgarantie, die weit über nationale Verfassungsgesetze hinausgeht. Es liegen schon differenzierte Analysen zur Wirtschaftsregierung und den Pakt für den Euro vor, auch an alternativen Ansätzen mangelnd es nicht.
Hier eine Auswahl zur Nachlese:
Der neueste Beitrag von Andrew Watt: Parallel universes: A Pact for the Euro and Annual Growth Survey but still no clear path out of crisis.
„Wachstum in der EU stärken, nicht gefährden“ – gemeinsame Pressekonferenz von AK und ÖGB am 21.03.2011 EGB-Resolution zur Economic Governance (http://www.etuc.org/IMG/pdf/Resolution-on-European-Economic-Governance-EN.pdf
Zur online Vorabversion des Beitrags von Elisabeth Klatzer und Christa Schlager. Sie analysieren die geplanten EU Reformen für den Kurswechsel 1/2011 („Zukunftsaussichten“)
http://www.beigewum.at/kurswechsel/jahresprogramm-2011/heft-12011-zukunftsaussichten/
Auch der BEIGEWUM hat bereits im „Mythus Nulldefizit“ im Jahr 2000 im Kapitel „Budgetpolitische Vorgaben der EU“, die Wirtschaftspolitik analysiert.
Die Analyse bestätigt nochmals: Die aktuelle Debatte um die „Economic governance“ der EU enthält wenig neue Gedanken, die sich tatsächlich als „Lehre aus der Krise“ eingestellt hätten. Die Krise schwächt vielmehr die Gegenwehr gegen langgehegte Vorhaben, die nun endlich durchsetzungsfähig scheinen. Hier die Argumentation des BEIGEWUM aus dem Jahr 2000
Die EU-Regelungen zu Budgetpolitik entspringen einer Konzeption, die auf das Zurückdrängen des Sozialstaats abzielt. Diese war auf EU-Ebene leichter durchzusetzen als in den einzelnen Mitgliedstaaten.(…) Sie schlägt sich in einer Verankerung von immer radikaleren Vorgaben für die nationale Budgetpolitik auf EU-Ebene nieder. Stufe1: Maastricht (…); Stufe2: Stabilitätspakt(…); Stufe 3: Qualität der öffentlichen Finanzen: (…).
Anfang der 90er Jahre wurde gesagt, geringe Defizite seien erforderlich, um Handlungsspielraum für konjunkturstabilisierende Maßnahmen in einer Rezession zu gewinnen. Mittlerweile sind ausgeglichene Budgets die Norm. (..) Jetzt werden weitere Überschüsse gefordert (…) Für irgendetwas muss immer Vorsorge getroffen werden. Dazu kommt die Beobachtung, dass der Abbau der Defizite in den letzten Jahren zu einem Gutteil auf Kosten staatlicher Investitionsausgaben erfolgt ist, (….) das schadet aber direkt der Wirtschaft. (…) Diese Erfahrung führte dazu, dass nach der bisherigen Annäherung über Umwege nun direkt die Sozialausgaben ins Visier genommen werden. Das hat die nächste Runde in punkto Verschärfung der Budgetkriterien eingeläutet. Unter dem harmlos klingenden Titel „Qualität der öffentlichen Finanzen“ wird in den EU-Gremien debattiert, die Verwendungszwecke der einzelnen Budgetausgaben zu überprüfen.
(…)Hier geht es offen darum, den nationalen Finanzministerien durch internationale Vereinbarungen den Rücken für die innerstaatliche Durchsetzung der Vision vom schlanken (Sozial-)Staat zu stärken. Um die Quantität und Qualität der öffentlichen Einnahmen macht man sich dagegen nicht so viel Kopfzerbrechen: Seit Jahren werden bei der einheitlichen Mindestbesteuerung von Kapitalerträgen keine wirklichen Fortschritte erzielt.
Wichtig für den Weg hin zu einer alternativen Wirtschaftspolitik im Sinne der Mehrheit der europäischen Bevölkerung ist nun, dass sich die Unionsbürger nicht von Regierungsklubs disziplinieren lassen, sondern ihr demokratiepolitisches Bewusstsein entwickeln und für einen inklusiven Entscheidungsprozess eintreten.
Europäische Wirtschaftsregierung – eine stille neoliberale Revolution?
Während die Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich zutage brachte, dass nicht nur die Deregulierung der Finanzmärkte, sondern auch die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte mit wachsenden Leistungsbilanzungleichgewichten, rapide zunehmenden Ungleichheiten in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, anhaltender Wachstumsschwäche durch eine im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) konzertierte öffentliche Konsolidierungspolitik und schädlichem Steuerwettbewerb, begleitet von Deregulierung und Privatisierung, wirtschaftspolitisch der falsche Weg und kontraproduktiv ist, zeigt sich gegenwärtig eine erstaunliche Dynamik : Die öffentliche Debatte ist dominiert von Geschichten über Staaten die – vornehmlich selbstverschuldet – nahe am Staatsbankrott sind, dramatischen Rettungsaktionen, Refinanzierungsschwierigkeiten, Gefahren des Auseinanderbrechens des Euros und Disziplinierung durch Finanzmärkte (Zinsdruck). In einer derart dramatischen Situation müssen die »unverantwortlichen EU-Mitgliedsstaaten« hart hergenommen werden : »Die EU schlägt zurück« und »the EU gets tough«, so die Presseverlautbarungen der Europäischen Kommission. Und : wer erlaubt sich angesichts einer derartigen Dramatik überhaupt den Luxus, Kritik zu üben ?
Während die Notwendigkeit besserer und verstärkter wirtschaftspolitischer Koordinierung und Steuerung innerhalb der EU weitgehend unbestritten ist, sind sowohl hinsichtlich der Ausgestaltung der vorgeschlagenen Instrumente und Prozesse als auch hinsichtlich des Zustandekommens der neuen Regelungen aus wirtschafts- und demokratiepolitischer Perspektive grundlegende Einwände anzumelden. Diese Maßnahmen haben gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftspolitischen Spielräume der Mitgliedstaaten, sie stellen de facto Eingriffe in die Budgethoheit und eine Umgehung von demokratischen Mechanismen in Mitgliedstaaten und auf EU Ebene dar.
In einer online Vorab-Version ihres Beitrags für Kurswechsel 1/2011 („Zukunftsaussichten“) analysieren Elisabeth Klatzer und Christa Schlager die geplanten EU-Reformen.
Am 31.3.2011 laden wir zu einer Diskussion zum Thema mit der Beitragsautorin Elisabeth Klatzer und dem deutschen Gewerkschaftsökonomen Dierk Hirschel.
Das Weltsozialforum 2011 in Dakar
Weltgeschichte wird in diesen Tagen in Kairo und anderen nordafrikanischen Städten und Ländern geschrieben. Doch das seit 2001 bestehende Weltsozialforum, das Mitte Februar in Dakar stattfand, erweist sich als Raum, der unverzichtbar ist, um sich auf transnationaler Ebene auszutauschen, Strategien zu entwickeln und Kampagnen zu lancieren. Für viele AktivistInnen begann das WSF bereits eine Woche vorher mit einer Karawane zum Thema Migration vom malischen Bamako nach Dakar, um über die komplexen Zusammenhänge von Migration zu informieren, zu lernen und sich politisch zu vernetzen. Es gab weitere Karawanen in die senegalesische Hauptstadt, mit denen die Teilnehmenden „unterwegs“ auf ihre Anliegen aufmerksam machten und andere Verhältnisse kennenlernten.
Der Austragungsort des WSF spielt immer eine Rolle. Für viele Teilnehmenden aus Europa war die Erfahrung eines angenehm offenen und religiös toleranten islamischen Landes wichtig. Inhaltlich waren vor zwei Jahren im brasilianischen Belem die Abholzung des Amazonasgebiets und der Widerstand dagegen allgegenwärtig. Dieses Mal spielten die Landwirtschaft in Afrika, der derzeit großflächige Landkauf (land-grabbing) durch internationale Investoren – oft genug vermittelt mit lokalen Interessengruppen –, die militärische Präsenz Frankreichs und die (neo-)kolonialistische Rolle Europas in der Region eine große Rolle. Häufig ging es um die Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft.
WSF-Dynamiken am Beispiel der Themen Klima bzw Lebens- und Arbeitsbedingungen
Alternativen zur herrschenden und wenig effektiven Klimapolitik müssen zwar konkret in der Energiepolitik, Stadtplanung oder anderen Produktionsformen formuliert werden, aber sie werden durch transnationale Aufmerksamkeit und gegenseitiges Lernen gestärkt. So kamen Gruppen nach Dakar, die gegen die repressive und ökologisch zerstörerische Ausbeutung von Erdöl etwa im Nigerdelta oder gegen den Uranabbau in Niger protestieren. Das Motto der „Klimagerechtigkeit“ wird zum Oberbegriff einer ganz anderen Energiepolitik, die mit einem grundlegenden Umbau der Produktions- und Lebensweise einhergehen muss. Eine Forderung war: „Lasst die fossilen Ressourcen im Boden!“ Diese neuen Formen der Energiekämpfe werden auch auf der nächsten Klimakonferenz im Dezember in Durban und wohl auch in der „Rio plus 20“-Konferenz bzw. dem Parallelkongress in Brasilien im Mai 2012 eine Rolle spielen.
Kämpfe um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen in unterschiedlichen Regionen und Bereichen sind traditionell ein zentrales Thema auf dem WSF. Gewerkschaften spielten bei diesem Forum jedoch eine deutlich geringere Rolle als zuvor. Zum einen hat die Teilnahme internationaler GewerkschafterInnen, insbesondere aus Europa deutlich abgenommen, was die Resonanzen des WSF innerhalb der organisierten ArbeiterInnenbewegung erschweren wird. In Österreich war beispielsweise die erfolgreiche „Stopp GATS!“-Kampagne eine Folge der Teilnahme österreichischer GewerkschafterInnen auf einem der ersten WSF in Porto Alegre. Die Schwache Präsenz der Gewerkschaften hängt wiederum mit dem Austragungsort zusammen. Bei etwa zehn Millionen EinwohnerInnen im Senegal mit einer weitgehend informalisierten Ökonomie gibt es schätzungsweise 250.000 formalisierte Arbeitsverhältnisse. In den Nachbarländern dürfte es nicht viel anders aussehen. Die WSF in Brasilien hingegen wurden ganz zentral von den dortigen Gewerkschaften getragen.
Alternative Entwicklung oder Alternativen zu Entwicklung?
In den Diskussionen entstand der Eindruck, dass in (West-)Afrika noch viel stärker um „Entwicklung“ in einem klassischen und progressiven Sinne gerungen wird – der Begriff von real development tauchte immer wieder auf –, nämlich als Kampf gegen Armut und Korruption, gegen den imperialen Zugriff von außen (vor allem Europas, aber auch Chinas oder Brasiliens) und für die Demokratisierung und Verbesserung sozio-ökonomischer, politischer und kultureller Lebensverhältnisse. Das WSF vor zwei Jahren in Belem brachte neben dieser auch dort präsenten Perspektive einen anderen Ton in die Debatte, was damit zu tun hat, dass „Entwicklung“ in vielen lateinamerikanischen Ländern derzeit im obigen Sinne ja stattfindet – das dynamische Wachstum verbessert die Lebenslage von Millionen, integriert mehr Menschen in die formelle und informelle Lohnarbeit, erhöht staatliche Verteilungsspielräume. Doch dies geschieht um den Preis einer enormen ökologischen Zerstörung und um eine Schwächung von Alternativen zum imperialen und neoliberalen Weltmarkt und zur imperialen Lebensweise in den kapitalistischen Zentren und der Mittel- und Oberschichten in den Ländern des Globalen Südens. Daher war in Belem und ist heute in Lateinamerika eine emanzipatorische Perspektive sichtbar, der es um eine notwendige Umorientierung eben von „Entwicklung“ selbst geht. Der in Belem prominente Begriff der Zivilisationskrise war in Dakar absent.
Allerdings wird diese Debatte auch in Lateinamerika – mit Ausnahme Boliviens und Ecuadors – eher am Rande geführt. Vor zwei Jahren hatte ich nach dem WSF formuliert, dass eine der wichtigsten Auswirkungen des WSF sein könnte, der ökologischen Raserei im Amazonas Einhalt zu gebieten. Doch das ist nicht geschehen. Das Wasserkraftprojekt Belo Monte in einem Seitenfluss des Amazonas, das drei Talsperren und zwei Stauseen von der Größe des Bodensees schaffen soll, über zehn Prozent des brasilianischen Strombedarfs decken soll und enorme sozio-ökologische Implikationen hat, ist im Januar in die letzte Planungsphase gegangen (ursprünglich war eine vier Mal so große Fläche geplant, doch das Projekt wurde nach massiven Protesten verkleinert). Statt eine Politik der Energieeffizienz und des Energiesparens zu fördern, fließen Milliarden-Investitionen in ein Projekt, das zudem sehr stark der weltmarktorientierten Montanindustrie zugutekommt.
Perspektiven des WSF: Raum oder Akteur oder …
Allerdings dürfen die tagesaktuellen Geschehnisse in Nordafrika nicht darüber hinweg täuschen, dass das WSF neben den erfreulichen Entwicklungen in einigen Bereichen derzeit nicht in der Lage ist, umfassende Diskussionen dahingehend zu organisieren, dass wirklich globale Bezugspunkte entstehen. In Belem 2009 deutete sich das mit dem bereits erwähnten Begriff der Zivilisationskrise an, doch es wurde nicht weitergeführt. Das WSF ist auch kein Anziehungspunkt für Intellektuelle, die in spannenden und pluralen Auseinandersetzungen auf solche Bezugspunkte hinarbeiten könnten.
Der Modus der thematisch orientierten und auf Strategieentwicklung und Aktionen orientierten Versammlungen in der zweiten Hälfte des Forums – in diesem Jahr waren es um die vierzig – hat sich zwar als geeignet erwiesen, um in den je spezifischen Konfliktfeldern handlungsfähig zu werden. Und dennoch stellt sich angesichts der multiplen Krise die Frage gemeinsamer Bezugspunkte ganz dringend. Wie könnte beispielsweise eine umfassende Orientierung an Gerechtigkeit und Solidarität die Spezifität der einzelnen emanzipatorischen Kämpfe verdeutlichen und dennoch auf etwas Gemeinsames hin orientieren? Den Neoliberalen ist es ja gelungen, mit den Begriffen Freiheit und Effizienz ihre Interessen im Sinne einer kapitalistischen Rationalität in den meisten gesellschaftlichen Bereichen zu verankern. Die Bewegung für eine andere Globalisierung agiert, meines Erachtens sinnvollerweise, in einzelnen Konfliktfeldern, doch in diesen artikulieren sich ja übergreifende Entwicklungen und es müssen gemeinsame Bezugspunkte hergestellt werden. Der Verzicht darauf, wie bei den ersten WSF zentrale „große“ Debatten zu organisieren, ist zum einen berechtigt, da eben dadurch die Mannigfaltigkeit der Kämpfe anerkannt wird (und diese Debatten waren auf den ersten WSF nicht allzu prickelnd). Sie ist aber in derzeit dynamischen Zeiten wie diesen, in denen es durchaus um Orientierung geht, auch ein Manko.
Es gibt weiterhin eine intensive Diskussion darüber, ob das WSF eher ein politischer Raum bleiben soll, in dem sich unterschiedlichste Bewegungen treffen können, um in den Feldern wie Landwirtschaft, Migration, Klimapolitik, Geschlechtergerechtigkeit, Antirassismus oder Welthandel ihre Erfahrungen auszutauschen und Strategien zu entwickeln.
Eine andere Position argumentiert, dass das WSF zu einem politischen Akteur werden solle, der einheitlicher auf der weltpolitischen Bühne auftritt und damit an Einfluss gewinnt. Bernard Cassen, Mitbegründer von Attac-Frankreich und einer der Protagonisten der Ausrichtung des WSF als Akteur, will mit dieser Position die angeblich durch die Vielfalt des WSF verursachte Schwäche überwinden. Er argumentiert, dass ein „Bruch“ mit dem aktuell vorherrschenden neoliberalen Modell eben nur mit einem WSF möglich wäre, das stärker einen Akteursstatus annimmt. Auf den ersten Blick spricht für diese Position, dass die „Versammlung der Bewegungen“, die sich jeweils gegen Ende des Forums als Zusammenkunft der radikaleren Kräfte trifft, ein eher hilfloses, sich in Allgemeinplätzen verlierendes, strategisch unbrauchbares Dokument als Abschluss-Statement angenommen hat.
Cassen hat Recht: In der Tat fehlen klare Transformationsstrategien und das WSF hat erhebliche Probleme, die Handlungsfähigkeit von Bewegungen zu verbessern. Doch die Semantik des Cassenschen Arguments ist, dass im Raum viel geredet, aber nicht gehandelt wird. Das stimmt, trotz allem nicht genutzten Potenzials, so nicht.
Zwei Argumente sprechen dafür, das WSF als strukturierten und strukturierenden Raum im Lichte der Erfahrungen weiterzuentwickeln. Zum einen wird zuvorderst in den konkreten Konfliktfeldern agiert wie Finanzmarktregulierung, die Stärkung der Frauen-Menschenrechte, Migration und Antirassismus oder für eine andere Energie- und Klimapolitik. Zusammenhänge und Konvergenzen müssen analytisch wie politisch hergestellt werden. Das kann nicht „von oben“, durch den International Council oder eine andere Kraft laufen, denn dann besteht die Gefahr einer vereinheitlichenden Weltsicht und der Suche nach einheitlichen Akteuren. Wenn man sieht, wie die orthodoxen, oft genug eurozentrischen und links-etatistischen Strömungen eben der Vielfältigkeit von Lebenserfahrungen und die Suche nach Alternativen ausblenden, wünscht man sich auch nicht unbedingt, dass diese Strategien von den selbsternannten Vordenkern formuliert werden, die allzu schnell bei der/ihrer radikalen politischen Partei landen.
Zweitens finden Ansatzpunkte oder gar praktische Politiken des Bruchs mit neoliberal-imperialen oder gar kapitalistischen Logiken, das zeigen die letzten Jahre, eben eher auf lokaler und nationalstaatlicher Ebene (siehe Lateinamerika) oder in den spezifischen Konfliktfeldern statt. Ich habe keine Lösung für die relative Schwäche emanzipatorischer Politik auf globaler Ebene. Mir scheint die politische Aufwertung des WSF zu einem Akteur eher als Ausdruck von Hilflosigkeit. Handlungsfähigkeit, und davon war Dakar ja wiederum ein Beleg und Ägypten ließ grüßen, stellt sich komplexer und kontingenter her.
Ausblick
Auf der Ebene transnationaler Strategieentwicklungen könnte in den kommenden Jahren eine zunehmende Süd-Süd-Vernetzung von Intellektuellen und AktivistInnen mit teilweise gutem Zugang zu progressiven Regierungen wichtiger werden. In Dakar gab es dazu ein von Samir Amin initiiertes Treffen und in den kommenden Monaten soll ein Arbeitsprogramm formuliert werden. Interessant wird hier in Zukunft sein, wie bei progressiven Kräften damit umgegangen wird, dass die aktuellen politischen und ökonomischen Süd-Süd-Kooperationen oft genug subimperial imprägniert sind, denn die Regierungen Brasiliens, Chinas, Indiens oder Südafrikas beanspruchen eine Führungsrolle für ihre Region oder „den“ Süden. Die massiv zugenommenen westafrikanischen Lebensmittelimporte aus Brasilien stellen für die Landwirtschaft ebenso eine Gefahr dar wie jene aus Europa.
Das Forum steht für einen langatmigen Prozess. Das geht mit Rückschlägen einher wie etwa die keineswegs progressive Bearbeitung der Wirtschafts- und Finanzkrise, wodurch die globalen Probleme eher vergrößert werden und innerhalb sozialer Bewegungen tendenziell für Frustration sorgen. Immer wieder wurde auch Kritik daran geäußert, dass der Sozialforumsprozess in Europa nicht funktioniert. Doch es gibt keine Alternative dazu, in aufwendigen Such- und Lernprozessen transnationales Momentum zu gewinnen. In einigen Bereichen scheint das zu gelingen, in anderen weniger.
In Europa bestehen dafür nach dem desaströsen Europäischen Sozialforum im letzten Sommer kaum Anknüpfungspunkte. Ganz im Gegenteil offenbar zu dem kurz vor dem ESF stattgefundenen US-amerikanischen Sozialforum. Viele berichteten von dem Treffen in Detroit im letzten Juni fast euphorisch, da es gelungen sei, viele Menschen zu involvieren, eine Kultur des Zuhörens und Austausch zu schaffen und die eine oder andere Perspektive verbindlicher Kooperation zu entwickeln.
Das WSF in Dakar ist mit dem ESF 2010 auf keinen Fall vergleichbar. Und dennoch hatte man bei beiden Treffen teilweise (und wirklich nur teilweise!) den Eindruck, dass es nicht um das geht, wofür die Sozialforumsbewegung geschaffen wurde: Emanzipatorische Politiken auf der Höhe der Zeit und unter gar nicht gemütlichen Bedingungen zu formulieren.
Es gibt aber keine Alternative zum WSF. Es muss sich, um ein immer wieder gebrauchtes Wort zu nutzen, mit der Unterstützung vieler neu erfinden, damit es ein strukturierter wie strukturierender Raum ist und von ihm Impulse ausgehen. Ob es dafür besser zum wiederholten Male an denselben Orten stattfindet, also in gewisser Weise zwischen drei oder vier Orten wandert, um das so dringend benötigte organisatorische Erfahrungswissen zu akkumulieren, ist eine so offene wie wichtige Frage. Auf jeden Fall sollte es dort stattfinden, wo es dynamische Bewegungen gibt, es also in der Erfahrung der Bewegungen vor Ort um etwas geht und das auch praktisch angegangen wird.
Dieser Beitrag erscheint hier in gekürzter Form. Der Autor dankt der Rosa-Luxemburg-Stiftung dafür, dass sie ihm die Teilnahme am WSF ermöglichte. Kurzversionen des Beitrages erschienen zB auch in „Freitag.online“ und „Wiener Zeitung“.
Studiengebühren
Fehler machen bekanntlich bestenfalls dann einen Sinn, wenn man daraus lernt. Die SPÖ scheint den Fehler, die Studiengebühren unter Gusenbauer zunächst weiter toleriert zu haben, demnach völlig umsonst gemacht zu haben. Jedenfalls platzt die Aussage, dass diverse führende SPÖ-Politiker Studiengebühren nicht (mehr) ablehnen (siehe etwa bei Der Standard) mitten in die von Wissenschaftsministerin Karl (ÖVP) losgetretene Debatte um Zulassungsbeschränkungen und Studiengebühren. Häupl und Kräuter bereiten damit einer unsäglichen Debatte über die Frage der Einschränkung des Hochschulzugangs den Weg; einer Debatte, in der die SPÖ nur verlieren kann, da sie gegen die eigene Programmatik gerichtet ist.
Die zentralen Argumente
Die Argumente gegen Studiengebühren sind hinlänglich bekannt. In aller Kürze für die nun einsetzende Debatte noch mal:
- Es gibt keine sozial gerechten Studiengebühren. Studiengebühren verteuern das Studium, was zwangsläufig dazu führt, dass die Zahlungsschwächsten auf der Strecke bleiben. Es ist zudem bekannt, dass sich Kinder aus sogenannten „bildungsfernen“ Elternhäusern schwerer tun mit einer Verschuldung zur Finanzierung von Gebühren. Daher lässt sich das Problem der sozialen Selektivität auch nicht durch die Verschiebung des Zeitpunkts der Fälligkeit der Gebühren lösen. Hier sei auf das Beispiel Australien verwiesen.
- Dieses Problem lässt sich auch nicht dadurch lösen, dass die Zahlung der Gebühren an das Einkommen der Eltern gekoppelt wird. Hier verschiebt sich lediglich das Problem: Studierende werden dann in erster Linie als die Kinder ihrer Eltern und nicht als erwachsene Menschen begriffen. Wenn die Eltern jedoch der Meinung sind, dass Philosophie ein überflüssiges Studium ist und/oder dass bspw. Frauen eigentlich eh eine andere „Bestimmung“ hätten, dann hilft der Verweis auf die Eltern nicht weiter.
- Studiengebühren verändern den Bildungsbegriff. Bisher ist ein erheblicher Teil der Studierenden zumindest auch intrinsisch motiviert. Es geht um Erkenntnisgewinn, das Aneignen von Wissen, das Entwickeln einer Persönlichkeit usw. Klar ist: Auch heute spielen die Berufsaussichten eine Rolle. Mit Studiengebühren wird das Studium jedoch zu einer ›Investition in das eigene Humankapital‹ mit entsprechenden Einkommenserwartungen als ›Return on Investment‹. Das verändert massiv den Bildungsbegriff und wirkt sich auch auf die Fächerwahl aus. Diese erfolgt dann eben nicht (überwiegend) nach Neigungen und Fähigkeiten, sondern nach vermeintlichen Arbeitsmarktperspektiven. Auf einen weiterführenden Beitrag zum Thema Humankapital von Ulf Banscherus sei verwiesen.
- Entgegen aller Behauptungen haben die Studierenden durch Studiengebühren nicht mehr Einfluss auf die Lehre. Zwar ändert sich die Erwartungshaltung der Studierenden, als atomisiertes Individuum ist die Ausübung von Druck jedoch kaum möglich. Zudem ist ein Studienortwechsel mit erheblichen Hürden versehen (Wohnung, Freundeskreis, Job…) und daher nicht möglich, nur weil einem die Vorlesung X nicht passt.
Gerechtigkeitsbegriff…
Die Argumentation der SPÖ ist an Stelle besonders verquer: Es wird suggeriert, der Verzicht auf Studiengebühren sei ungerecht, da auch Kinder reicher Eltern diese Studiengebühren nicht zahlen. Wie verquer diese Logik ist hat Sonja Staack wunderbar dargelegt, auf diesen Text sei daher verwiesen. In aller Kürze stellt sich jedoch die Frage, wer denn unter Studiengebühren leiden würde? Sicher ist: Wer vermögende Eltern hat und sich mit den Eltern nicht zerstritten hat (etwa über die Frage des Studienfaches), der hat mit Studiengebühren keinerlei Probleme. Wer allerdings unsicher ist, keine akademischen „Vorbilder“ in der Familie hat, finanziell nicht begütert ist, der wird dann vermutlich auf ein Studium verzichten. Untersuchungen des Hochschul-Information-Systems (HIS) für Deutschland sagen: Alleine 500 Euro Studiengebühren im Semester in einigen Bundesländern haben bis zu 18.000 junge Menschen vom Studium abgehalten.
Die Debatte über die soziale Ungerechtigkeit öffentlicher Leistungen ist eine Scheindebatte. Wenn die SPÖ Gerechtigkeit einfordert, dann soll sie endlich das Steuersystem reformieren und dafür sorgen, dass insbesondere Vermögende angemessen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben beitragen. Anstatt ÖVP-Debatten zu führen wäre hier eine Möglichkeit sinnvoll über die Frage der Verteilung von Armut, Reichtum und Chancen zu diskutieren – und nicht bei Studiengebühren.