Budgetkonsolidierung: Eine Bestandsaufnahme
Angesichts der nun eingeschlagenen, konkretisierten Wege der Budgetkonsolidierung verhärten sich die Anzeichen für einen „Neoliberalismus reloaded“ in Europa. Dies äußert sich gerade auch in der Kontinuität einer Politik, die soziale Ungleichheiten verschärft und wohlfahrtsstaatliche Handlungsspielräume systematisch einschränkt. Es zeigt sich immer klarer, dass sich das Spar-Mantra von OECD, EZB, EU-Kommission sowie Wirtschaftslobbys und ihren Parteien weitgehend durchgesetzt hat, wenn auch nicht in dem zu befürchtenden Ausmaß. Dafür wird der Europäische Stabilitätspakt deutlich verschärft, sodass noch lange nach der Krise die Europäische Austeritätspolitik spürbar sein wird. Auch die verschärfte Durchsetzung der bereits vor der Krise ins Stocken geratenen neoliberalen Reformpolitik kommt in Gang, wie die Arbeitsmarktflexibilisierung in Spanien, die Rentenreformen, die schwerpunktmäßigen Kürzungen im öffentlichen Sektor und der weitgehend aufrecht erhaltene Zustand deregulierter Finanzmärkte zeigen. Selbst sozialliberale Nuancen wie das Flexicurity-Modell in Dänemark geraten unter Druck. Einnahmenseitig werden tatsächlich in erster Linie Massensteuern erhöht, mit denen nun vor allem ärmeren Haushalten Laster finanziell ausgetrieben werden sollen (Tabak, Alkohol, Energieverbrauch).
Die kritischen Stimmen, die vor einer neuerlichen Rezession oder zumindest Stagnation in der Eurozone warnen, werden wieder lauter und kommen selbst aus dem IWF. Gerade für die besonders stark getroffenen Länder Irland, Spanien, Portugal und Griechenland überwiegt weiterhin die Skepsis bezüglich einer raschen Überwindung der Krise. Die Arbeitslosigkeit verharrt auf hohem Niveau mit unvermeidlichen negativen Folgen nicht nur für die Betroffenen.
AT: Ein Kompromiss zu Gunsten der wenigen, die die Krisenkosten hätten tragen können und sollen
Die Regierung hat sich Ende Oktober auf ihre konkreten Konsolidierungsmaßnahmen geeinigt. Gemessen an ihren eigenen Ankündigungen im Frühjahr dieses Jahres (mehr dazu hier) ist der nun getroffene Kompromiss insgesamt weit glimpflicher ausgefallen, als damals zu befürchten war. Die bis zu 4,2 Mrd Euro an Einsparungen und Steuererhöhungen wurden fast halbiert, nicht zuletzt durch Offensivmaßnahmen, dh zusätzliche Mittelim Umfang von 400 Mio Euro für den Ausbau der Ganztagesschulplätze, Universitäten, Forschung und thermische Gebäudesanierung. Mit der Bankenabgabe, der Besteuerung von Wertpapierzuwächsen, Einschränkungen von Stiftungs- und Unternehmenssteuervorteilen und einer verschärften Betrugsbekämpfung wurden erstmals seit langem der Abwärtstrend bei vermögens- und kapitalertragsbezogenen Steuern umgekehrt. Lediglich im Familienbereich fielen die Kürzungen härter aus und treffen einzelne Gruppen – insbesondere Studierende – überraschend stark.
Der springende Punkt ist allerdings, dass ein glimpfliches noch kein gutes Ergebnis ist. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass das Budgetdefizit die Folge der stärksten Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit 80 Jahren ist. Das aktuelle Konsolidierungspaket ist darauf eine mehr als unbefriedigende Reaktion. Wenn Finanzwirtschaft und Reiche über Jahre ständig steigende Einkommen und Vermögen durch ein – letztlich von der Allgemeinheit zu sanierendes – krisenanfälliges Wachstumsmodell bei sinkenden Abgabenanteilen verzeichnen konnten, ist ein kleiner Beitrag zur Folgenbewältigung der Krise nun deutlich zu wenig. Vor allem, wenn sie – etwa im Gegensatz zu den nun besonders belasteten Studierenden – gerade durch die staatlichen Krisenmaßnahmen bereits wieder kräftige Vermögenszuwächse verzeichnen konnten: Gemäß Arbeiterkammer erreichte das private Nettogeldvermögen 2009 bereits wieder neue Rekordwerte. Allein der Wert der Aktien der Erste Bank stieg in den ersten sechs Monaten nach der staatlichen Stützungsaktion um 7 Mrd Euro – fast zur Gänze steuerfrei.
Es ist kein Trost, dass dieser sehr kleine Schritt hin zu stärkeren Besteuerung Vermögender dem europäischen Muster von Budgetkonsolidierungen folgt: symbolische Beiträge jener, die es sich leisten könnten, und harte Einschnitte – zT jenseits der Schmerzgrenze – für einzelne Gruppen mit schwächerem Einkommen: Hartz-IV-EmpfängerInnen in Deutschland, arbeitslose oder studierende Jugendliche in Österreich, öffentlich Bedienstete und PensionistInnen fast überall. Das Verursacherprinzip wurde weitgehend ebenso ausgeblendet wie die in der Krise nochmals reduzierte Steuer- und Abgabenquote. Stattdessen wurde so getan als ob plötzlich überbordende Sozialleistungen maßgeblich zu den hohen Defiziten geführt hätten – obwohl das natürlich nicht der Fall war, wie zumindest für Österreich nachgerechnet wurde.
Ausgabenseitige Konsolidierung mit wenig Licht und viel Schatten
Der größte Fehler neben der zu geringen Anhebung der vermögensbezogenen Steuern betrifft die Art und Weise, wie die Ausgaben gekürzt wurden: Statt gezielt bei diskussionswürdigen bzw nicht mehr zeitgemäßen Ausgaben einzusparen, mittelfristige Strukturreformen zumindest zu beginnen und im Zweifelsfall auch teure Steuervorteile im Privatpensions- oder Familienbereich als zu kürzende Kosten in Betracht zu ziehen, hielt man sich weitgehend an die im April im Zuge des Bundesfinanzrahmengesetz festgelegte „Rasenmähermethode“. Hierbei wurde einfach in allen Bereichen derselbe Prozentsatz abgeschnitten – lediglich sensible Bereiche wie Bildung und Arbeitsmarkt wurden mit „höheren Schnittstufen“ etwas geschont. Damit war bereits im April besiegelt, dass es etwa bei der Familienförderung zu empfindlichen Einschnitten kommen wird. Ausgabenkürzungen oder –umschichtungen der Bundesländer waren zudem nur rhetorisch ein Thema.
Wenn man sich die konkreten Maßnahmen ansieht, so fällt zunächst das eigentlich offensichtliche auf: milliardenschwere Ausgabenkürzungen sind kurzfristig nur durch unbeliebte Leistungskürzungen möglich. Auf den zweiten Blick ist eine differenzierte Betrachtung angebracht. Während es in den Budgetuntergliederungen wie beispielsweise Pensionen und Gesundheit relativ gut gelungen ist, die negativen Effekte zu beschränken, sticht der Familienbereich negativ hervor. Statt wenig effektive und eher BesserverdienerInnen zu Gute kommende teure Steuervorteile wie insbesondere den Kinderfreibetrag abzuschaffen, werden Studierende und arbeitslose Jugendliche bzw. deren Eltern besonders hart getroffen. Wegen relativ geringen Summen wurde zunächst eine Einschränkung des freien Zugangs zum Justizsystem riskiert, ehe noch vor der Budgetrede ein Abschleifen erfolgte. Im Bildungs- und Wissenschaftsbereich gibt es zwar jeweils 80 Mio Euro zusätzlich im Jahr, doch gleichzeitig werden sinnvolle Ausgaben – etwa für das Nachholen von Bildungsabschlüssen, anwendungsorientiertere außeruniversitäre Forschungseinrichtungen oder Bau- und Fördermaßnahmen für Menschen mit Behinderung – gekürzt oder verschoben. Im Bereich der Entwicklungsfinanzierung, wo Österreich bereits bisher am untersten Ende innerhalb der EU zu finden und weit entfernt von den eigenen Zielen bzw. jenen in internationalen Abkommen war, werden die Ausgaben nochmals deutlich reduziert. All das hätte nicht nur symbolisch abgeschliffen, sondern tatsächlich geändert werden müssen.
In vielerlei Hinsicht ist das Szenario eines „Abbaus der Krisenschulden auf Kosten von Zukunftsinvestitionen“ eingetreten. Dafür ist insbesondere verantwortlich, dass die Abgabenquote von Vermögen im internationalen Vergleich weiterhin rekordverdächtig niedrig bleibt. Statt überwiegend auf höhere vermögensbezogene Steuern zum Abbau der Krisenschulden zu setzen, wurde entgegen der Pröll’schen Rhetorik auf die „Zukunft unserer Kinder“ gerade nicht geachtet. Große Bildungsreformen fehlen, ihren Eltern wurden Beihilfen gekürzt und auch zu Lasten notwendiger Zukunftsinvestitionen wurde gespart: zu wenig für qualitativ hochwertige Bildung, keine nachhaltige Lösung der Pflegeproblematik, keine neuen Mittel für die Kinderbetreuung oder Integrationsförderung und nur zaghafte Schritte Richtung Energiewende. So blieb von der „Herzensangelegenheit“ des Finanzministers weitgehend nicht mehr als Frust in der Bevölkerung übrig, die sich mehr als den kleinsten gemeinsamen großkoalitionären Nenner erwartet hätte.
25 Jahre BEIGEWUM
In den vergangenen 25 Jahren haben sich die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Zustände gravierend verändert – und mit ihnen auch das Selbstverständnis und die Aufgaben des BEIGEWUM. Anlässlich seines 25-jährigen Geburtstages diskutierten Brigitte Unger (Department of Public Sector Economics, Utrecht University School of Economics), Karin Fischer (Abteilung für Politik- und Entwicklungsforschung am Institut für Soziologie, Universität Linz), Jörg Flecker (FORBA – Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt), Gundula Ludwig (Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Universität Marburg) und Heinz Steinert (em. Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse, Universität Frankfurt) gemeinsam mit Beat Weber (BEIGEWUM) diese Veränderungen unter der Frage: „Welches Wissen gegen die Krise?“.
„Nie war der Krieg zwischen Mainstream-ÖkonomInnen und Kritischen ÖkonomInnen größer als jetzt“
In der Key Note Speak stellte Brigitte Unger überblicksartig die Änderungen seit den 1980er Jahren dar: vom stärker werdenden Neoliberalismus und dem „abheben“ der Finanzmärkte bis zur heutigen Situation, in der die ökonomischen Variablen (wie Einkommensverteilung, Arbeitslosigkeit und Leistungsbilanzen) soweit auseinanderklaffen wie nie zuvor. Im Bereich der Wissenschaften weisen zwar auch führende Ökonomen, wie Krugman oder Stiglitz, auf die starken Ungleichheiten hin, dennoch ist der Kampf zwischen Mainstream-ÖkonomInnen und Kritischen ÖkonomInnen noch stärker als vor der Krise. Aufgabe des BEIGEWUM muss es sein Fachinformationen für die Öffentlichkeit zu „übersetzen“. Heute gilt es insbesondere finanztechnische Fragen zu „entzaubern“ und in politische Fragen zu „übersetzen“.
„Die Selbstverständlichkeiten des Kapitalismus relativieren“
Heinz Steinert machte deutlich, dass es unsere Aufgabe ist und bleibt zu zeigen, dass man „die Dinge“ auch ganz anders denken kann und dass es ein „anderes Wissen“ als die Mainstream-Ökonomie gibt. Während der Krise gab es eine kurze Zeit, in der sich Neoliberale – auch in der Öffentlichkeit – blamiert haben – in diese Lücken gilt es hineinzustoßen. Allerdings machte Steinert auch die zentrale Bedeutung der Medien bei der schnellen Wiederherstellung der neoliberalen Hegemonie deutlich. Krisenzeiten bieten meist keine Chancen, radikale Forderungen umzusetzen, die Menschen und Öffentlichkeit werden eher konservativ und wünschen sich die Zustände aus Vorkrisenzeiten zurück. Aufgabe des BEIGEWUM muss es sein, die Probleme des Kapitalismus aufzuzeigen und dabei alle möglichen Mittel und Formen zu nutzen. Ein wichtiger Ansatzpunkt sind die Lebensverhältnisse der Menschen, denn Gesellschaft ändert sich, wenn die Leute anders leben.
„Auf die Universitäten kann als Ort Kritischer Wissenschaften nicht verzichtet werden“
Auch wenn Gundula Ludwig darauf hinwies, dass die Universitäten nie „der“ linke Ort waren, hat sich ihre Situation seit Mitte der 1990er Jahre deutlich verschärft. Dies lässt sich in verschiedenen Dimensionen feststellen: der Ökonomisierung des Sozialen (verstärkte Effizienzgedanken, mehr Forschung statt Lehre), den Bedingungen des Arbeitens (hoher Druck für alle Hochschulmitglieder, nicht nur die Hochschulen, auch die Subjekte sollten zum „Unternehmer ihrer selbst“ werden), parallel zur Ökonomisierung der Universitäten findet eine Entdemokratisierung statt. Daraus abgeleitet muss die Kritik zentral an der Entdemokratisierung und den Arbeitsverhältnissen in Zusammenhang mit den Lebensweisen ansetzen. Es sollte über Praxen der Verweigerung nachgedacht werden und zudem eine kritische Selbstreflexion stattfinden, denn auch für viele WissenschaftlerInnen ist das Konzept des/der „UnternehmerIn seiner/ihrer selbst“ verführerisch. Wichtig bleibt es, die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten aufzubrechen und immer wieder auch „außerhalb des Kapitalismus“ zu denken. Der Ansatz, Informationen zu „übersetzen“, ist zwar richtig, aber es braucht auch noch mehr „anderes“ Wissen.
„Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Sparpakete so von der Gesellschaft hingenommen werden“
Jörg Flecker berichtete über den Wandel der Ziele der (außeruniversitären) Forschung. So sind heute viel weniger Regierungen oder die EU-Kommission direkte Adressaten von Forschungsergebnissen. Vielmehr wird zu spannenden Fragestellungen gearbeitet und gehofft, dass unbekannte NutzerInnen die Ergebnisse aufgreifen und verwenden können. Jedoch ermöglichen Förderungen insb. im Bereich der EU immer wieder die Schaffung von Freiräumen, in denen Wissen gegen den Mainstream generiert werden kann. Die aktuell geplante Streichung der Basisförderung für unabhängige Institute wird es allerdings sehr schwer machen, nachhaltig kritische Wissenschaft zu betreiben. Die gegenwärtige Situation hält Jörg Flecker für sehr irritierend: sah es anfangs kurz so aus, als seien die Marktradikalen schwer von der Krise getroffen worden, war bald klar, dass drastische Sparpakete kommen werden. Dies trifft nun ein und einerseits entsteht das Gefühl, diesen vollkommen machtlos gegenüber zu stehen, anderseits glaubt Flecker nicht, dass die Gesellschaft diese Einschnitte ohne weiteres hinnehmen wird.
„Wir sollten uns nicht die kleinen Schritte aufzwingen lassen“
Für einen globalhistorisch erweiterten Blick auf die Krise plädierte Karin Fischer. Es ist notwendig, in die Krisenanalysen größere Zeiträume als auch die Südperspektive einzubeziehen. Auch in den Südländern ist die enorme Krisenhaftigkeit des Kapitalismus schon seit den 80er Jahren zu spüren. Allerdings gibt es auch Länder, deren Ökonomien gerade wachsen können und solche, die mit antizyklischer Politik und Bankenregulierung positive Beispiele setzen können. Jedoch müssen die Hoffnung auf Lateinamerika und die derzeitigen Verschiebungen von Zentrum- Peripheriegrenzen, durch die Regionalmächte aufgewertet werden, auch immer kritisch reflektiert werden, da noch nicht klar ist, wie emanzipatorisch diese Veränderungen sind. Von entscheidender Bedeutung wird es sein, wie wichtig demokratische Fragen in dieser Entwicklung sind.
Die Rückeroberung der Demokratie ist aber auch ein zentraler Ansatzpunkt für kritische Menschen in Europa. Gegen den bewussten Ausschluss von Entscheidungen helfen Denkkollektive, gegenseitiger Austausch über Publikationsorgane und das gemeinsame Arbeiten an politischen Perspektiven.
Der Abend endete mit Dank und Glückwünschen für 25 Jahre BEIGEWUM-Arbeit und der Ermunterung, die kritische Arbeit fortzusetzen.
Krise: Zwischenstop in Irland
Derzeit hält die Krise in Irland. Mit Sicherheit wird es nicht die letzte Station sein. EU und IWF schnüren an einem Hilfspaket von bis zu 100 Milliarden Euro, um die Bewältigung der hohen Schulden der irischen Banken zu meistern.
Ähnlich wie Island war Irland lange Zeit ein neoliberaler Musterstaat: Unternehmenssteuer-Dumping, hohe wirtschaftliche Anpassungsbereitschaft, Budgetüberschüsse, tolles Wachstum. 2008 stellte sich heraus, dass der Wohlstand nicht Ergebnis einer erfolgreichen wirtschaftspolitischen Linie, sondern einer kreditfinanzierten Immobilienblase war, deren Platzen zu einem Schuldenberg führte. Dieser Schuldenberg überstieg anfangs die Kräfte der Banken, die daraufhin staatlich unterstützt bzw. ganz verstaatlicht wurden. Durch das Eintreffen laufender Korrekturen der Verlustschätzungen der Banken nach oben übersteigt er nun auch die Kräfte des Landes (das mit einer Garantieerklärung für sämtliche Einlagen über das zweieinhalbfache der jährlichen Wirtschaftsleistung schon 2008 eine gigantische Ansage getroffen hatte). Wenn nach Irland auch Portugal, dann Spanien und vielleicht Italien die Kräfte ausgehen, ist wohl auch die nächsthöhere Sicherheitsnetz-Ebene, EU und IWF, in der Bredouille. Das Schulden-Weiterreichen und damit Zeit kaufen ist dann zu Ende, und die Stunde der Forderungsverzichte schlägt. Die ersten Verzichte hat ein geringer Teil der unbesicherten Anleihehalter der Anglo Irish Bank (und zwar Spezialistenfonds, die diese Forderungen mit Abschlägen von ausländischen Banken erworben hatten, in der Hoffnung, dass sie bei den Verhandlungen mit Anglo Irish ein bisschen mehr rauskriegen als sie bezahlt haben) letzte Woche bereits hingenommen, weitere werden wohl folgen müssen.
In einem offenen Brief in der Financial Times hat der irische Finanzminister angekündigt, trotz immensen Budgetdrucks keinesfalls an den niedrigen Unternehmenssteuersätzen in Irland rütteln zu wollen. Irland müsse wachsen, um die Schuldenlast abzutragen. Er zitiert eine OECD Studie, wonach eine Erhöhung der Unternehmensteuern mit größter Wahrscheinlichkeit das Wachstum behindere. Irlands Regierung scheint den neoliberalen Ratschlägen also ungebrochen zu folgen. Multinationale Konzerne drohen Irland in der Tat mit Abwanderung im Fall einer Steuererhöhung. Dass bei einer auch nur geringfügigen Anhebung der Steuern sofortiger Massen-Exodus stattfindet ist jedoch nicht zu erwarten, schließlich hat Irland auch andere „Standortvorteile“ (Lage, Ausbildungsniveau, Sprache etc.). Mit dem klassisch keynesianischen Argument, eine einseitige Aufbürdung der Anpassungslasten auf die Schultern der Lohnabhängigen würde die Massenkaufkraft in Irland und somit auch den Unternehmen schaden, werden die Konzerne jedoch nicht zu beeindrucken sein: Irland hat Züge einer verlängerten Werkbank, wo Multis für den Export statt für den Binnenkonsum produzieren. Schätzungen, wonach das Bruttosozialprodukt (Einkünfte der Staatsangehörigen) um rund ein Fünftel unter dem Bruttoinlandsprodukt (Einkünfte der Ortsansässigen) liege, sind ein Indiz, dass massive Zuflüsse von Auslandskapital rein der Verlockung niedriger Steuern zu verdanken sind. Diese Gelder werden in Irland versteuert, in weiterer Folge aber über verzerrte Transferpreise innerhalb multinationaler Unternehmen wieder ins Ausland transferiert. In diesem Modell abhängigen Wachstums bleibt Irland durch die wirtschaftspolitische Weichenstellung der Regierung gefangen. Aus der darüber gelegten Finanzialisierung, die eine Zeitlang die Illusion von Wohlstand über das Land brachte, ist für absehbare Zeit die Luft raus – außer von irgendwoher kommen massive Zuströme von wohlhabenden Menschen, die irische Häuser kaufen, und den Immobilienboom wieder in Gang bringen. Die politischen Eliten, die in korrupter Weise mit dem Finanzboom verknüpft waren, sind delegitimiert. Ob es zu einem systeminternen Umsturz wie in Island kommen wird, wird sich bei den Wahlen spätestens im Frühjahr zeigen.
Irland und die Länder der Südperipherie (Portugal, Italien, Spanien), die im Fokus der aktuellen Finanzbesorgnis stehen haben eine auffällige Gemeinsamkeit: Sie bilden die Gruppe mit der höchsten Einkommensungleichheit innerhalb des Euroraums (und gemeinsam mit anderen Haupt-Krisenbetroffenen Lettland und UK auch innerhalb der EU) (Gini Koeffizient lt. UN Definition, Werte von 2008). Die viel beschworenen Ungleichgewichte zwischen Zentrum und Peripherie in Handel und Finanzierung werden ergänzt durch interne Ungleichheiten in den Peripherie-Ländern. Der neoliberale Glaube, Ungleichheit sei eine notwendige Begleiterscheinung von ökonomischer Prosperität wird dadurch einmal mehr in Frage gestellt. Eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur steht nicht an. Ihre Eignung als kurzfristige Krisenhilfe in der jetzigen verfahrenen Situation wäre auch ungewiss. Überhaupt ist die Fantasie betreffend kurzfristige Lösungen derzeit allerorts ziemlich verpufft.
Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, wie es ohne eine Schuldenrestrukturierung, also teilweisen Forderungsverzicht, für sämtliche in Diskussion stehende Staaten der Euro-Peripherie (Griechenland, Irland, Spanien, Portugal, Italien) weitergehen kann. Einzelfalllösungen halten nicht, denn die Restrukturierung in Einzelfällen erhöht sofort den Druck auf vergleichbare Fälle (Anstieg der Finanzierungskosten für Staaten bzw. Banken aus diesen Ländern). Die anderen Staaten zögern mit dieser Lösung, denn die Schuldenreduktionen treffen die Forderungen der eigenen Banken und Fonds: In Deutschland, Frankreich, Großbritannien etc würden massive Verluste aus Forderungen an Irland und Co. weitere staatliche Bankenhilfspakete auf die Tagesordnung setzen. Die Furcht vor Dominoeffekten und anschließendem Chaos ist groß.
Der neoliberale Weg aus der Stagnation ist gescheitert und hat die gesamte nördliche Hemisphäre in eine verfahrene Situation manövriert, in der guter Rat teuer ist.
Kurt W. Rothschild 1914-2010
Kurt W. Rothschild ist am 15. November 2010 von uns gegangen. Mit Rothschild verlieren wir nicht nur den bedeutendsten österreichischen Ökonomen, sondern mit ihm verlieren wir auch eine Persönlichkeit, deren Vorbildwirkung kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Lebensweg von Kurt Rothschild und seiner Frau Vally, welche gemeinsam über knapp 75 Jahre (!) eine äußerst liebenswürdige und würdevolle Beziehung pflegten, war alles andere als mühelos. Aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Roten Wien der 30er Jahre erlebte Rothschild äußerst authentisch die fatalen ökonomischen und sozialen Konsequenzen der 1. Weltwirtschaftskrise 1929/30. Zweifelsohne waren diese Zeiten prägend für Rothschilds gesamtes zukünftiges Forschungsrepertoire: Fragen der Arbeitslosigkeit, des Außenhandels sowie Fragen der Einkommensverteilung und der Macht in der Ökonomie spielten immer die zentrale Rolle in Rothschilds Werk. Die Grundphilosophie Rothschilds über die Rolle der Ökonomie als Wissenschaft hat sich sicherlich bereits in dieser politisch äußerst tragischen Zeit gebildet. Rothschild schreibt über seinen Grundanspruch an die Wissenschaft 1966 in der Einleitung zu seinem Buch „Marktform, Lohn und Außenhandel“ folgendes:
Der grundlegende Standpunkt „… besteht letzten Endes darin, dass der Nationalökonom sich stets bewusst sein soll, daß die Theorie nie Selbstzweck werden darf. Sie sollte stets der gründlichen Durchleuchtung unserer Umwelt dienen, damit diese besser und menschenwürdiger gestaltet werden kann.“
Diesem anspruchsvollen Grundsatz folgte Rothschild in all seinen Arbeiten!
1938 mussten er und seine Frau als jüdische BürgerInnen gemeinsam von Österreich in die Schweiz flüchten und dann weiter nach Glasgow (Schottland) emigrieren. Dort war Rothschild bis 1947 tätig und machte in dieser Zeit auch engste Bekanntschaft mit der jungen keynesianischen Diskussion.
1942, im Alter von 28 Jahren (!), schickte er einen Artikel an das Economic Journal, das damalige „Core Journal“ der Ökonomie, dessen Herausgeber kein Geringerer als John Maynard Keynes (JMK) selbst gewesen ist. Dazu Rothschild im O‑Ton: „Meinen ersten theoretischen Aufsatz, den ich gemacht habe an der Uni, habe ich im jugendlichen Übermut gleich an die führende Zeitschrift geschickt, an das Economic Journal. Er (JMK, W.A.) war der Herausgeber. Nach ein paar Tagen habe ich einen Brief bekommen, wo er schrieb, das gefällt mir, das werde ich bringen.“
Als Rothschild 1947 wieder zurück nach Österreich kam, wurde er nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Seit 1947 arbeitete Rothschild am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und erst 1966 bekam Rothschild den längst überfälligen Lehrstuhl an der neu gegründeten Universität Linz, wo er bis zu seiner Emeritierung 1984 arbeitete und dabei auch die Position des Rektors inne hatte. Seit damals lebte Rothschild mit seiner Frau in Wien, in jener bescheidenen Wohnung, welche das Ehepaar bereits 1947 – in einem Tauschgeschäft in Schottland (!) – erstanden hatte.
Rothschild unterstützte die Arbeiten des BEIGEWUM von Beginn an, sowohl moralisch als auch in Form von zahlreichen Vorträgen und Buchbeiträgen. Rothschild hielt bereits 1989, bei der ersten großen Konferenz des BEIGEWUM („Steuerungsprobleme der Wirtschaftspolitik – Auf dem Weg in eine andere Moderne“, BEIGEWUM 1989) das Hauptreferat und unterstützte den Verein bis zuletzt. Nur die letzte Einladung für den 9.Juni 2010 musste er aus gesundheitlichen Gründen ausschlagen.
Das, was Rothschild so außerordentlich macht, ist seine wissenschaftliche Offenheit, verbunden mit einer stets konstruktiven Diskussion zu den unterschiedlichsten Theorien, Methoden und Themen. Er ist kaum jemals einer neuen Idee abgeneigt. Aber er diskutiert diese stets mit unnachgiebiger Strenge, verbunden mit konstruktiven Anmerkungen.
Auch wenn uns der geniale Diskussionspartner Kurt Rothschild abhanden gekommen ist, so hinterlässt er uns einen Schatz an Literatur, welchen es zu studieren und zu nutzen gilt. Aber ich würde mir auch wünschen, dass sich über die ökonomische Wissenschaft hinaus möglichst viele Menschen der Rothschild’schen Grundprinzipien annehmen würden: Offenheit, Toleranz, Güte und Freundlichkeit – nahezu die gesamten humanistischen Grundwerte. Es gibt selten eine Person, bei welcher Werk und Leben so eins waren – das ist das Bewundernswerteste bei Rothschild!
Rothschild war uns stets eine große Hilfe und er wird uns fehlen. Sein großartiges Werk wird jedoch für immer bei uns sein. Und es wird uns noch oft helfen für eine gerechtere und sozialere Welt einzutreten.
In tiefer Trauer und Anteilnahme!
Ein langes Interview mit Kurt W. Rothschild ist nachzulesen in Kurswechsel 4/2006: „Die Gefahr der Gewöhnung“
Sein ausgezeichnetes (und witziges!) Kurz-Interview mit Renate Graber im Standard (vom 24.10.2009) ist ein „Muss“ für Jede/n!“Da hab ich mir gedacht: Habt’s mich gern“ – Kurt Rothschild im „Anders gefragt“-Interview
Loiperdsorfer Kompromiss
Nein, eine Vermögensteuer wird es wieder mal nicht geben. Und auch die Erbschaftssteuern werden nicht angehoben, der Spitzensteuersatz bleibt unangetastet und es wird sich wenig an der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung ändern. Aber man soll ja nicht immer nur raunzen. So ist doch erwähnenswert, dass es Steuererhöhungen geben wird und damit zumindest ein Teil der Krisenkosten einnahmeseitig erbracht werden soll. Das ist erst einmal erfreulich, da etwa Bernhard Felderer ja noch vor nicht allzulanger Zeit deutlich gemacht hat, dass es vor allem um Ausgabenkürzungen gehen müsse. Und Josef Pröll hatte im ORF-Sommergespräch schon die Debatte über neue Steuern als schädlich bezeichnet. In diesem Blog hatte ich damals geschrieben:
Man muss sich dies auf der Zunge zergehen lassen: Josef Pröll fordert, dass in einer Situation der Wirtschaftskrise, in der massiv Staatsgeld zur Rettung von Vermögen eingesetzt wurde, nicht über Steuern gesprochen werden darf. Es ist ein merkwürdiges Demokratieverständnis, wenn eine der zentralen Aufgaben des Parlaments […] entpolitisiert und einem vermeintlichen Sachzwang unterworfen werden soll.
Es ist also erfreulich, dass die Spekulationsfrist bei Aktienverkäufen abgeschafft werden soll und hier die Kapitalertragssteuer greift. Es ist auch schön, dass die Stiftungsbesteuerung geändert wird. Man kann insofern von einem Paradigmenwechsel sprechen, da das Dogma, dass das Kapital keinesfalls höher besteuert werden können (weil es „scheu wie ein Reh“ sei) endlich überwunden ist. Pröll hat Wort gebrochen – und das ist gut so. Endlich eine umfassende Steuerreform anzugehen – dazu reicht der Mut aber offensichtlich nicht und es bleibt dabei, dass Vermögende, Unternehmen und Besserverdienende deutlich stärker besteuert werden müssen als derzeit.
Schade nur, dass die Krisenkosten auch durch eine Kürzung von sozialen Leistungen refinanziert werden soll. Weder Pensionisten noch Eltern mit erwachsenen Kindern (Kürzung des Familienbeihilfebezugs) haben die Krise verursacht. Und dennoch sollen sie jetzt dafür bezahlen. Es war zu erwarten (siehe hier und hier), dass nicht (nur) die Verursacher der Krise die Folgen tragen müssen, ist aber dennoch falsch.
12.11.: Diskussion „Welches Wissen gegen die Krise?“
25 Jahre Kritik, Gegenexpertise und Alternativendiskussion im BEIGEWUM – Anlass genug für eine Bilanzdiskussion mit Perspektive: Wo kann kritisches Wissen heute entstehen und ansetzen, angesichts des schwersten Systemschocks seit Jahrzehnten? Zudem wird nach der Diskussion das 25-jährige Bestehen des BEIGEWUM mit einem Fest gefeiert.
Beginn: 18 Uhr
Ort: Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstraße 13, 1090 Wien
mit
- Brigitte Unger (Department of Public Sector Economics, Utrecht University School of Economics)
- Karin Fischer (Abteilung für Politik- und Entwicklungsforschung am Institut für Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz)
- Jörg Flecker (FORBA – Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt)
- Gundula Ludwig (Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Universität Marburg)
- Heinz Steinert (em. Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse,
Universität Frankfurt)
Moderation: Beat Weber (BEIGEWUM)
16.10.: Wirtschaftsdemokratie
Tagung: „Wirtschaftsdemokratie – ein Ausweg (nicht nur) aus der Krise?“
Zeit: 16. Oktober 9h30-17h
Ort: Renner Institut, Gartenhotel Altmannsdorf (Hoffingergasse 33, 1120 Wien)
In den letzen zwei Jahrzehnten hat sich auf politischer Ebene die Entdemokratisierung verschärft, wodurch sich die Demokratielosigkeit der Wirtschaft noch gravierender auswirkt. Haben diese Entwicklungen die aktuelle Wirtschaftskrise ausgelöst bzw. wie stark haben sie dazu beigetragen? Öffnet sich durch die Wirtschaftskrise ein Zeitfenster, um die Demokratisierung der Wirtschaft neu zu diskutieren und sie anzugehen?
Es diskutieren Paul Singer, Eva Angerler, Andreas Exner, Wolfgang G. Weber, Heidi Ambrosch u.v.m.
14.10.: Diskussion „Klima und Verteilungsgerechtigkeit“
Einladung zur Diskussion und Kurswechselpräsentation
Zeit: Donnerstag 14. Oktober 18.30
Ort: Großer Sitzungssaal der WU, Augasse 2–6, 1090 Wien, 2. Stock – Kern D
mit
Sigrid Stagl (WU-Wien)
Christoph Streissler (AK-Wien)
Josepha Molitor (KOO)
Bernhard Obermayr (Greenpeace)
Moderation: Christa Schlager (Kurswechsel-Redaktion)
Klimawandel und seine Verursachung stellen heute eine der größten politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts dar. Nach dem Scheitern der Weltklimakonferenz in Kopenhagen herrscht vielerorts Katerstimmung und Ratlosigkeit bezüglich des globalen Umgangs mit dem Thema. Obwohl auf politischer Ebene weitgehender Stillstand herrscht hat längst ein klimainduzierter Strukturwandel eingesetzt, der das globale Energiesystem verändert und in seiner Tragweite noch schwer abzuschätzen ist. Klar ist jedoch, dass Klimawandel und die damit einhergehende Transformationsprozesse eine der großen verteilungspolitischen Themenstellung der nächsten Jahre ist.
Sowohl im globalen Rahmen als auch auf europäischer bzw. nationaler Ebene ist die Verteilung des Zugangs zu fossilen Brennstoffen, die Last bei der Transformation zu einer „low-carbon“ Ökonomie sowie die Betroffenheit bezüglich der Auswirkungen des Klimawandels extrem ungleich verteilt. Zur Veranstaltung wird die neue Kurswechsel-Ausgabe „Im Klimawandel – globale Erwärmung und Verteilungsgerechtigkeit“ präsentiert.
Die Bildungslücken des Herrn Sarrazin und Co.
Die Aussagen von Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) sorgen für öffentliche Aufregung. An ihrem Originalitätswert kann es nicht liegen: Offener Rassismus ist in der politischen Debatte im deutschsprachigen Raum eine fixe Größe, wobei Muslime in den letzten Jahren zum Hauptobjekt entsprechender Diskurse geworden sind.
Ein wichtiger Grund für die öffentliche Aufmerksamkeit ist wohl die Tatsache, dass es diesmal ein Bildungsbürger ist, der noch dazu ein hohes Amt besetzt, der zur Verteidigung des Abendlandes aufruft. Ein anderer ist die Magie der Zahl: Sarrazin argumentiert mit viel Zahlenmaterial, beruft sich auf wissenschaftliche Argumente und die derzeit als Universalerklärung äußerst populäre Genetik, um seiner Polemik den Anstrich sachlicher Fundierung zu geben. Doch was ist dran an dem Argument, dass Dumme eben auch dumme Kinder kriegen und Kluge eben Kluge?
Behauptet wird damit die Vererbung von Intelligenz. Zunächst: Was ist Intelligenz in unserer von den Naturwissenschaften dominierten Welt? Intelligenz ist das Ergebnis eines Intelligenztest. Dessen Ergebnisse liegen Antworten auf Fragen zugrunde, die von ExpertInnen gestellt werden, die sich damit auskennen, welche Antworten auf welche Fragen zu hohen Ergebnissen führen und welche zu niedrigen. Intelligenz ist das was die ExpertInnenschicht einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als solche festlegt. Fragen zur Vererbung werden allein schon dadurch relativiert, weil heute unklar ist, was in Zukunft als intelligent gilt und was nicht.
Sarrazin verlegt sich bei der Messung von Intelligenz auf den Bildungserfolg. Das Substrat der oftmals transportierten These: Es liegt nicht am Umfeld, nicht an Diskriminierung und auch nicht an fehlender Förderung, dass bestimmte Gruppen keine oder weniger Bildung haben, sondern schlichtweg an deren durch Vererbung weitergegebener Intelligenz.
Doch da braucht sich noch niemand in wissenschaftliche Literatur vertiefen um festzustellen: Komisch, Bildungsniveaus verschiedener Gruppen verändern sich über die Zeit laufend, und das selbst, wenn sie auf den Bildungsdurchschnitt der Gesellschaft normalisiert werden. Wäre die These von der Vererbung zutreffend, würde das bedeuten, dass sich wohl der genetische Prozess ziemlich rasch – und für verschiedene Gruppen unterschiedlich – verändert über die Zeit: Mal gibt es ein, zwei Dekaden, wo besonders wenig gebildete Eltern dann offenbar besonders gute Gene weitergeben, die dann zu einem Aufholen unterer Bildungsschichten führen.
Aber nicht nur die Variation über die Zeit ist es, die uns da zu denken geben sollte. Von Land zu Land ist die Bildungsmobilität sehr unterschiedlich. Wir müssen noch gar nicht wissen, woran das liegt, um festzustellen, dass die Genetik dafür wohl kaum in Frage kommen kann.
Die Frage nach der „Vererbung“ von Bildung ist sowohl in der Soziologie, der Psychologie als auch der Volkswirtschaftslehre allgemein in der Literatur zur intergenerationellen Weitergabe von Einkommen, sozialem Status, Charakteristika der Persönlichkeit, Werten, Berufen und vielem mehr verortet.
Während sich die Psychologie vor allem auf die Weitergabe von Werten und Charakteristika der Persönlichkeit konzentriert (siehe beispielsweise Heckman and Carneiro 2003 und Loehlin 2005), stehen in der Soziologie vor allem sozialer Status und Berufe, aber auch Werte im Mittelpunkt (siehe beispielsweise Bourdieu 1984 und D’Addio 2007).
In der Volkswirtschaftslehre, angeblich Sarrazins Fachgebiet, existiert ebenso bereits seit Jahrzehnten Literatur zu diesem Thema. Gelesen dürfte er sie nicht haben. Sie beschäftigt sich vor allem mit Einkommen und Bildung (bei der es deutlich weniger Messprobleme gibt als beim Einkommen). Die meisten Mainstream-Publikationen berufen sich auf die theoretischen Modelle von Becker und Tomes (1979,1986) für Einkommen, und auf jene von Solon (1999, 2002, 2004) für Bildung. Der dominierende Ansatz ist die Messung von sogenannten intergenerationellen Elastizitäten, oder einfacher gesagt simplen Korrelationen zwischen den Generationen. In etwa „Ein Jahr mehr an Elternbildung geht mit wie viel mehr an Kinderbildung einher?“. Allein in diesem Ansatz zeigt sich schon die besprochene starke Variation über die Zeit und zwischen den Ländern. Hertz et al. 2008 liefern entsprechende Zahlen zu sehr vielen Ländern. Einen breiten Literaturüberblick liefert etwa Mulligan (1999). Der zweite Ansatz versucht die kausalen Effekte der Bildung der Eltern auf die Bildung der Kinder zu berechnen, also für alle anderen Möglichkeiten, die sowohl das eine als auch das andere latent beeinflussen könnten zu kontrollieren und steckt noch recht in den Kinderschuhen. Das geschieht entweder recht „naturwissenschaftlich“ inspiriert anhand von Zwillingsforschung oder Forschung mit adoptierten Kindern (siehe Behrman and Rosenzweig 2002 und Plug 2004) oder aber anhand der Instrumentierung mit Schulreformen (siehe Black et al., 2005).
Zusammenfassend wird etwa in einem OECD Report zum Thema (OECD 2008) festgehalten, dass intergenerationelle soziale Persistenz (Bildung wird auch speziell behandelt) stark mit Ungleichheit und Armut korreliert ist. Das weiters vor allem Vermögen und Einkommen, das über die Generationen weitergegeben wird für die Unterschiede (auch in Bezug auf Bildung) in der nächsten Generation verantwortlich sind. Belzil und Hannsen 2008 zeigen, dass rund 68% der Variation der Bildung auf Unterschiede der Elternhaushalte zurückzuführen sind (die in den Daten beobachtbar sind). Die Bildung der Eltern, die stark mit Einkommen und Vermögen korreliert, spielt dabei die größte Rolle. Zum selben Schluss kommt auch die OECD (2008).
Der IQ scheint, abgesehen davon, dass ohnehin unklar ist wie es in einem bestimmten Alter zu einem bestimmten IQ-Squore in einem bestimmten IQ-Test kommt (könnte ja etwa auch mit der Bildung wachsen ;-)), relativ wenig beizutragen (siehe Bowles und Gintis 2001).
Wen die ganze Thematik interessiert, dem ist jedenfalls was den volkswirtschaftlichen Mainstream angeht folgendes zu empfehlen:
Black und Devreux (2010): Recent developments in Intergenerational Mobility.
ftp://repec.iza.org/RePEc/Discussionpaper/dp4866.pdf
Summa summarum: Mit der volkswirtschaftlichen Kenntnissen von Thilo Sarrazin dürfte es nicht weit her sein. Wie kommt er dann auf seine Meinungen? Vielleicht liefert der Forschungszweig zur intergenerationellen Transmission rassistischer Vorurteile eine Antwort, doch das ist eine andere Geschichte.
Literatur:
Belzil, C./Hansen, J. (2003): Structural estimates of the intergenerational educational correlation in: Journal of Applied Econometrics Vol. 18 No 5
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1979):An Equilibrium Theory of the Distribution of Income and Intergenerational Mobility, The Journal of Political Economy, Vol. 87, No. 6,p.1153–1189
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1986):Human Capital and the Rise and Fall of Families, Journal of Labor Economics, Vol. 4, No. 3, Part 2: The Family and the Distribution of Economic Rewards (Jul., 1986), p. S1-S39
Behrman, J. R./Rosenzweig, M. R. (2002): Does Increasing Women’s Schooling Raise the Schooling of the Next Generation? , American Economic Review 92, pp. 323–334
Bowles, Samuel/Gintis, Herbert (2001):The Inheritance of Economic Status: Education, Class, and Genetics, TWorking Papers 01–01-005, Santa Fe Institute
Black, S. E./Devereux, P. J./Salvanes, K. G. (2005): Why the Apple Doesn’t Fall Far: Understanding Intergenerational Transmission of Human Capital, American Economic Review 95, pp. 437–449
Bourdieu, P. (1984): Die feinen Unterschiede STW Frankfurt
Heckman, J./Carneiro, P. (2003): Human capital policy NBER Working Paper 9495
D’Addio (2007):Intergenerational Transmission of disadvantage. mobility or immobility across generations? OECD Social Employment and Migration WP No. 52
Hertz, T./Jayasundera, T./Piraino, P./Selcuk, S./Smith, N./Verashchagina, A. (2008): The Inheritance of Educational Inequality: International Comparisons and Fifty-Year Trends, Advances in Economic Analysis & Policy, Berkeley Electronic Press, vol. 7(2), pages 1775–1775.
Loehlin, J.C. (2005): Resemblance in Personality and Attitudes Between Parents and Their Children: Genetic and Environmental Contributions in: S. Bowles, et al Princeton University Press.
Mulligan, Casey B.(1999):Galton versus the Human Capital Approach to Inheritance, The Journal of Political Economy, Vol. 107, No. 6, Part 2: Symposium on the Economic Analysis of Social Behavior in Honor of Gary S. Becker (Dec., 1999), pp. S184-S224
Plug, E. (2004):Estimating the Effect of Mother’s Schooling Using a Sample of Adoptees, The American Economic Review 94, pp. 358–368
Solon, G. (1999): Intergenerational mobility in the labor market, in Handbook of Labor Economics, ed. by O. Ashenfelter, and D. Card, vol. 3 of Handbook of Labor Economics, chap. 29, pp. 1761–1800. Elsevier
Solon, G. (2002): Cross-country differences in intergenerational income mobility in: Journal of Economic Perspectives Vol. 16
Solon, G. (2004): A model of intergenerational mobility variation over time and place in: M. Corak (ed.) Generational Income mobility in North America and Europe. Cambridge University Press
BEIGEWUM-Stellungnahme zur Budgetkonsolidierung
Alternativen zur neoliberalen Budgetkonsolidierung
Die Auswirkungen der stärksten Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit 80 Jahren konnten mit massiver Staatsintervention diesmal vergleichsweise rasch eingedämmt werden. Banken wurden gerettet, der Wirtschaftseinbruch begrenzt, die Masseneinkommen stabilisiert, zumindest in Österreich der Anstieg der Arbeitslosigkeit überschaubar gehalten – aber vor allem wurden auch die Vermögenswerte gesichert. All das gab es nicht zum Nulltarif – im Gegenteil: Alleine in der Eurozone sammelten sich Krisenschulden in Höhe von einem Fünftel der Wirtschaftsleistung an, rund 1,5 Billionen Euro (AT: rund 10 % des BIP bzw. knapp 30 Mrd Euro).
Vor diesem Hintergrund mehren sich die Versuche, das Verursacherprinzip aus den gegenwärtigen budgetpolitischen Debatten auszublenden. Umso mehr bedarf es der Klarstellung, dass die höhere Staatsverschuldung tatsächlich aufgrund der Krise – und nicht aufgrund plötzlich überbordender Sozialleistungen – so rasch steigt: Die Krisenschuld drückt sich eben nicht nur in Banken- und Konjunkturpaketen, sondern eben auch in höheren Sozialausgaben für Arbeitslosigkeit, sinkendes Abgabenaufkommen und steigende Abgangsdeckungen der Beitragsausfälle in den Sozialversicherungstöpfen aus. Gleichzeitig ist hervorzustreichen, dass gerade im Hauptkrisenjahr 2009 die Vermögen bzw. die Zahl der Millionäre gemäß diversen Wealth Reports 2009 wieder deutlich gestiegen ist – vor allem aufgrund steigender Börsenkurse. Diese hängen eng damit zusammen, dass Unternehmen bei Personal sowie Investitionen sparten, während sie zumeist die Dividendenausschüttungsquoten steigerten und ManagerInnenbezüge üppig beließen.
Krise als Chance neoliberaler Reformpolitik?
Folgt man der Logik von OECD, EZB, EU-Kommission sowie Wirtschaftslobbys und ihren Parteien, müssen die Krisenschulden nun möglichst radikal abgebaut werden. Am besten durch eine verschärfte Durchsetzung der bereits vor der Krise ins Stocken geratenen neoliberalen Reformpolitik (kaum weitere Liberalisierung von Dienstleistungen, öffentlicher Daseinsvorsorge oder Arbeitsbeziehungen). Am Programm stehen insbesondere Kürzungen der Staatshaushalte mit dem Ziel einer erneuerten Intensität der wettbewerbsstaatlichen Restrukturierung, Abbau der sozialen Sicherheit und erhöhter Druck auf Beschäftigte länger und zu schlechteren Bedingungen zu arbeiten. Wo das nicht ausreicht, sollen Massensteuern die Kassen füllen und vor allem ärmeren Haushalten so manche Laster finanziell ausgetrieben werden (Tabak, Alkohol, Energieverbrauch).
Diskursiv werden die Krisenschulden zunehmend in ein „Leben über den Verhältnissen“ der gesamten Bevölkerung bzw des Staatsapparates umgedeutet, welches nun nicht mehr leistbar sei. So wird die Verteilungsfrage bewusst ausgeblendet, die sich sowohl vor, in und nach der Krise stellt. Folglich werden höhere Steuern für besonders wohlhabende Schichten bestenfalls in Fußnoten in Betracht gezogen. Im Mittelpunkt steht aber nur eines, nämlich Sparen – bevorzugt bei möglichst weiten Teilen der Bevölkerung: PensionistInnen, Arbeitslosen, SchülerInnen, öffentlich Bediensteten, sozial Schwächeren, usw. Ganz im Sinne des Thatcher’schen Leitspruchs heißt es wieder „There is no alternative“. Dass dies unvermeidliche negative Folgen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch gesamtgesellschaftlich in Form von höherer Arbeitslosigkeit und niedrigerem Wohlstand für alle hat, wird zwar immer wieder wissenschaftlich bestätigt, aber politisch ignoriert oder mit der zweifelhaften Prognose von positiven Effekten in 30 Jahren verschleiert. Ebenso, dass es genau deshalb eine breite gesellschaftliche Debatte und mehr Mitbestimmung statt Sachzwang- und Blut-Schweiß-Tränen-Logik bedürfte.
Dieses war bereits das dominierende Muster der Krisenpolitiken der 1980er und 1990er. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre wurde hingegen – spätestens nach der Überwindung der sie begleitenden Faschismen – noch zu einem fundamentalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik genutzt, der in den Industriestaaten zumindest bis Ende der 60er noch nie dagewesene Wohlstandszuwächse brachte.
Alternativen zu Sparen UND Schulden gefragt
Budgetdefizite sind in spezifischen Situationen – wie insbesondere der aktuellen – zwecks Stabilisierung der Wirtschaft im Sinne einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, teuren Großprojekte oder zwecks Investitionen mit einem über den Zinskosten liegendem Ertragswert zweifelsohne sinnvoll. Langfristig sollte eine wachsende Staatsverschuldungsquote aber vermieden werden: Erstens würde sie zu einem wachsenden Anteil der Zinskosten an den Gesamtausgaben führen, sprich es bleibt ein geringerer Teil für andere Ausgaben. Zweitens steigt die potenzielle Abhängigkeit von den KapitalgeberInnen (auch wenn diese nur in den seltensten Fällen so konkret manifest wird wie zuletzt etwa in Griechenland). Drittens verteilen sie zu Wohlhabenden um, denn Staatsschulden sind immer auch – im Allgemeinen sehr ungleich verteilte – Finanzvermögen anderer: insbesondere von Banken, weiters von Investmentfonds und Versicherungen, eher seltener direkt von reichen Privatpersonen. Es ist eine besondere Ironie der Krise, wenn nun die staatlich geretteten Banken – deren Entscheidungsgremien zumeist nicht angetastet wurden – nun ihre Macht als wichtigste Kapitalgeberinnen der Staaten gegen diese ausspielen und via höhere Zinsen durch Risikoaufschläge maßgeblich daran verdienen.
Eine höhere Verschuldung ist daher bis zu einem gewissen Grad nur ein schlechtes Substitut für höhere vermögensbezogene Steuern: Im einen Fall muss das Geld plus Zinsen wieder zurückgezahlt werden, im anderen steht es per Gesetz der öffentlichen Hand zu. Im einen Fall wird die politische Macht des Finanzkapitals gestärkt, im anderen die Entscheidungsmacht der Finanziers eingeschränkt. So schlug bereits Joseph Schumpeter zu Beginn der 1. Republik vor, die damaligen Kriegsschulden mit einer einmaligen, großen Vermögensabgabe zu tilgen. In der aktuellen Krise forderte lediglich die IG-Metall in Deutschland eine Zwangsanleihe für Reiche, die realpolitisch jedoch noch weniger Erfolgsaussicht haben dürfte als zumindest moderate vermögensbezogene Abgaben.
Herausforderungen Arbeitslosigkeit und Krisenvermeidung nicht minder dringlich
Zur Konsolidierung der Staatsfinanzen gibt es mittelfristig folglich tatsächlich keine Alternative, sehr wohl aber bezüglich „wer“, „wann“ und des „wie“. Wichtig ist, dass sie nicht losgelöst von der Wirtschaftskrise erfolgt. Sie soll deshalb Teil einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik sein, die neben dem Abbau der Defizite auch einen Abbau der deutlich über 20 Mio Arbeitslosen in Europa, höhere und gleicher verteilte Wohlstandsgewinne, einen ökologischen Umbau der Wirtschaft usw. zum Ziel hat. Sie muss aber auch auf eine Vermeidung zukünftiger Krisen abzielen, denn angesichts der Dimension der Krisenschulden wäre ihre Vermeidung die mit Abstand beste Konsolidierungsstrategie gewesen. Ausgangspunkt müssen deshalb auch Lösungen der strukturellen Krisenursachen sein – im Wesentlichen die in Deutschland vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung geprägten „3 U“: Ungleichheit, Ungleichgewichte im Außenhandel und Unvernunft auf den Finanzmärkten.
Die aktuellen Konsolidierungsprozesse auf europäischer wie nationaler Ebene sind Versuche eine unsoziale Politik der leeren Kassen durchzusetzen: Fahrlässig produzierte Defizite werden genutzt um staatliche Leistungen einzuschränken oder zu privatisieren. Auch diesmal wird hauptsächlich auf Ausgabenkürzungen gesetzt werden, während Vermögen bzw der Finanzsektor kaum belastet werden. Diese Kürzungen dämpfen jedoch die wirtschaftliche Erholung, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt, denn Staatsausgaben sind verantwortlich für einen wesentlichen Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Gerade in Ländern wie Spanien wäre es fatal, wie angekündigt bereits 2013 die Maastricht-Kriterien wieder einzuhalten, zumindest solange die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung nicht kräftig anziehen. Gefragt ist außerdem eine differenzierte Strategie: Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen und unterdurchschnittlichen Defiziten sollten eine weniger restriktive Fiskalpolitik fahren um den Spielraum von Spanien & Co zu erhöhen.
In Österreich sieht der Plan der Bundesregierung für 2011 eine Defizitreduktion von bis zu 4 Mrd Euro mit ausgabenseitigem Schwerpunkt vor – gerade vor dem Hintergrund einer im europäischen Vergleich guten Ausgangslage eine absurd hohe Vorgabe (insbesondere wenn – wie von der Regierung vorgesehen – im Bildungsbereich mehr Millionen als beim Heer eingespart werden sollen). Es ist zu befürchten, dass Unterfinanzierung im Bildungsbereich, fehlende Förderung von Kleinkindern, Arbeitslosigkeit und fehlende soziale Absicherung die Chancen zukünftiger Generationen beschränken. Gemäß WIFO-Studien müsste ein Konsolidierungsvolumen von einer Milliarde Euro – je nach Maßnahme – bis zu 0,7 % des BIP bzw 25.000 Arbeitsplätze kosten. Das wird wiederum dazu führen, dass die Konsolidierung selbst gefährdet ist, weil der Nachfrageausfall zB die Staatseinnahmen weiter senkt oder die Ausgaben durch Arbeitslosigkeit erhöht. Es wird geschätzt, dass ein um 1 %-Punkt niedrigeres Wirtschaftswachstum das Budgetdefizit um knapp 0,5 % des BIP verschlechtert. Sparen alle Europäischen Staaten gleichzeitig, verstärken sich die negativen Effekte sogar noch wechselseitig.
Vermögende und Finanzsektor besteuern
Die Konsolidierung muss folglich zuallererst auf der Einnahmenseite ansetzen und zwar dort, wo sie eine adäquate Krisenantwort sind und von den Betroffenen geschultert werden können: bei Vermögenden. Das würde bedeuten, Vermögenszuwächse, Erbschaften und Schenkungen sowie Vermögen an sich zu belasten sowie höhere Spitzensteuersätze auf sehr hohe Einkommen einzuheben (zB ab etwa 250.000 Euro/Jahr). Zusätzlich müssten im Finanzsektor destabilisierende Aktivitäten reduziert werden, auch – aber nicht nur – mit Steuern: Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe und höhere Besteuerung von Bonifikationen können hier positive Lenkungseffekte bringen. Diese Steuern können zudem als Abgeltung für die Rettung der Vermögen der BankaktionärInnen auf Staatskosten gesehen werden, die ohne Intervention deutlich verringert oder vernichtet worden wären.
Sie sind aber auch aus anderen Gründen anderen Maßnahmen wie höheren Ausgabenkürzungen vorzuziehen: Sie wirken sich positiv auf die Einkommensverteilung aus, sie stehen in engem Zusammenhang mit der Krise, sie finden eine relativ breite Zustimmung in der Bevölkerung und sie haben kaum negative Folgen für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, da Reiche eher mit Spar- als mit Konsumverzicht reagieren. Speziell in Österreich kommt hinzu, dass die Abgabenquote von Vermögen auch im internationalen Vergleich rekordverdächtig niedrig ist.
Das Defizit-Dilemma ist nur langfristig und mit höheren vermögensbezogenen Steuern sinnvoll zu lösen, die nicht nur wenig wachstumshemmend, sondern vor allem auch sozial gerecht sind. Höhere Steuern sind auch deshalb angebracht, weil andernfalls ein Abbau der Krisenschulden wohl zu Lasten notwendiger Zukunftsinvestitionen geht: qualitativ hochwertige Bildung, Pflege, Kinderbetreuung sowie Integration und eine Energiewende erfordern höhere Ausgaben, die es für eine Zukunft ohne neoliberalen Backlash zu finanzieren gilt.