14.10.: Diskussion „Klima und Verteilungsgerechtigkeit“
Einladung zur Diskussion und Kurswechselpräsentation
Zeit: Donnerstag 14. Oktober 18.30
Ort: Großer Sitzungssaal der WU, Augasse 2–6, 1090 Wien, 2. Stock – Kern D
mit
Sigrid Stagl (WU-Wien)
Christoph Streissler (AK-Wien)
Josepha Molitor (KOO)
Bernhard Obermayr (Greenpeace)
Moderation: Christa Schlager (Kurswechsel-Redaktion)
Klimawandel und seine Verursachung stellen heute eine der größten politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts dar. Nach dem Scheitern der Weltklimakonferenz in Kopenhagen herrscht vielerorts Katerstimmung und Ratlosigkeit bezüglich des globalen Umgangs mit dem Thema. Obwohl auf politischer Ebene weitgehender Stillstand herrscht hat längst ein klimainduzierter Strukturwandel eingesetzt, der das globale Energiesystem verändert und in seiner Tragweite noch schwer abzuschätzen ist. Klar ist jedoch, dass Klimawandel und die damit einhergehende Transformationsprozesse eine der großen verteilungspolitischen Themenstellung der nächsten Jahre ist.
Sowohl im globalen Rahmen als auch auf europäischer bzw. nationaler Ebene ist die Verteilung des Zugangs zu fossilen Brennstoffen, die Last bei der Transformation zu einer „low-carbon“ Ökonomie sowie die Betroffenheit bezüglich der Auswirkungen des Klimawandels extrem ungleich verteilt. Zur Veranstaltung wird die neue Kurswechsel-Ausgabe „Im Klimawandel – globale Erwärmung und Verteilungsgerechtigkeit“ präsentiert.
Die Bildungslücken des Herrn Sarrazin und Co.
Die Aussagen von Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) sorgen für öffentliche Aufregung. An ihrem Originalitätswert kann es nicht liegen: Offener Rassismus ist in der politischen Debatte im deutschsprachigen Raum eine fixe Größe, wobei Muslime in den letzten Jahren zum Hauptobjekt entsprechender Diskurse geworden sind.
Ein wichtiger Grund für die öffentliche Aufmerksamkeit ist wohl die Tatsache, dass es diesmal ein Bildungsbürger ist, der noch dazu ein hohes Amt besetzt, der zur Verteidigung des Abendlandes aufruft. Ein anderer ist die Magie der Zahl: Sarrazin argumentiert mit viel Zahlenmaterial, beruft sich auf wissenschaftliche Argumente und die derzeit als Universalerklärung äußerst populäre Genetik, um seiner Polemik den Anstrich sachlicher Fundierung zu geben. Doch was ist dran an dem Argument, dass Dumme eben auch dumme Kinder kriegen und Kluge eben Kluge?
Behauptet wird damit die Vererbung von Intelligenz. Zunächst: Was ist Intelligenz in unserer von den Naturwissenschaften dominierten Welt? Intelligenz ist das Ergebnis eines Intelligenztest. Dessen Ergebnisse liegen Antworten auf Fragen zugrunde, die von ExpertInnen gestellt werden, die sich damit auskennen, welche Antworten auf welche Fragen zu hohen Ergebnissen führen und welche zu niedrigen. Intelligenz ist das was die ExpertInnenschicht einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als solche festlegt. Fragen zur Vererbung werden allein schon dadurch relativiert, weil heute unklar ist, was in Zukunft als intelligent gilt und was nicht.
Sarrazin verlegt sich bei der Messung von Intelligenz auf den Bildungserfolg. Das Substrat der oftmals transportierten These: Es liegt nicht am Umfeld, nicht an Diskriminierung und auch nicht an fehlender Förderung, dass bestimmte Gruppen keine oder weniger Bildung haben, sondern schlichtweg an deren durch Vererbung weitergegebener Intelligenz.
Doch da braucht sich noch niemand in wissenschaftliche Literatur vertiefen um festzustellen: Komisch, Bildungsniveaus verschiedener Gruppen verändern sich über die Zeit laufend, und das selbst, wenn sie auf den Bildungsdurchschnitt der Gesellschaft normalisiert werden. Wäre die These von der Vererbung zutreffend, würde das bedeuten, dass sich wohl der genetische Prozess ziemlich rasch – und für verschiedene Gruppen unterschiedlich – verändert über die Zeit: Mal gibt es ein, zwei Dekaden, wo besonders wenig gebildete Eltern dann offenbar besonders gute Gene weitergeben, die dann zu einem Aufholen unterer Bildungsschichten führen.
Aber nicht nur die Variation über die Zeit ist es, die uns da zu denken geben sollte. Von Land zu Land ist die Bildungsmobilität sehr unterschiedlich. Wir müssen noch gar nicht wissen, woran das liegt, um festzustellen, dass die Genetik dafür wohl kaum in Frage kommen kann.
Die Frage nach der „Vererbung“ von Bildung ist sowohl in der Soziologie, der Psychologie als auch der Volkswirtschaftslehre allgemein in der Literatur zur intergenerationellen Weitergabe von Einkommen, sozialem Status, Charakteristika der Persönlichkeit, Werten, Berufen und vielem mehr verortet.
Während sich die Psychologie vor allem auf die Weitergabe von Werten und Charakteristika der Persönlichkeit konzentriert (siehe beispielsweise Heckman and Carneiro 2003 und Loehlin 2005), stehen in der Soziologie vor allem sozialer Status und Berufe, aber auch Werte im Mittelpunkt (siehe beispielsweise Bourdieu 1984 und D’Addio 2007).
In der Volkswirtschaftslehre, angeblich Sarrazins Fachgebiet, existiert ebenso bereits seit Jahrzehnten Literatur zu diesem Thema. Gelesen dürfte er sie nicht haben. Sie beschäftigt sich vor allem mit Einkommen und Bildung (bei der es deutlich weniger Messprobleme gibt als beim Einkommen). Die meisten Mainstream-Publikationen berufen sich auf die theoretischen Modelle von Becker und Tomes (1979,1986) für Einkommen, und auf jene von Solon (1999, 2002, 2004) für Bildung. Der dominierende Ansatz ist die Messung von sogenannten intergenerationellen Elastizitäten, oder einfacher gesagt simplen Korrelationen zwischen den Generationen. In etwa „Ein Jahr mehr an Elternbildung geht mit wie viel mehr an Kinderbildung einher?“. Allein in diesem Ansatz zeigt sich schon die besprochene starke Variation über die Zeit und zwischen den Ländern. Hertz et al. 2008 liefern entsprechende Zahlen zu sehr vielen Ländern. Einen breiten Literaturüberblick liefert etwa Mulligan (1999). Der zweite Ansatz versucht die kausalen Effekte der Bildung der Eltern auf die Bildung der Kinder zu berechnen, also für alle anderen Möglichkeiten, die sowohl das eine als auch das andere latent beeinflussen könnten zu kontrollieren und steckt noch recht in den Kinderschuhen. Das geschieht entweder recht „naturwissenschaftlich“ inspiriert anhand von Zwillingsforschung oder Forschung mit adoptierten Kindern (siehe Behrman and Rosenzweig 2002 und Plug 2004) oder aber anhand der Instrumentierung mit Schulreformen (siehe Black et al., 2005).
Zusammenfassend wird etwa in einem OECD Report zum Thema (OECD 2008) festgehalten, dass intergenerationelle soziale Persistenz (Bildung wird auch speziell behandelt) stark mit Ungleichheit und Armut korreliert ist. Das weiters vor allem Vermögen und Einkommen, das über die Generationen weitergegeben wird für die Unterschiede (auch in Bezug auf Bildung) in der nächsten Generation verantwortlich sind. Belzil und Hannsen 2008 zeigen, dass rund 68% der Variation der Bildung auf Unterschiede der Elternhaushalte zurückzuführen sind (die in den Daten beobachtbar sind). Die Bildung der Eltern, die stark mit Einkommen und Vermögen korreliert, spielt dabei die größte Rolle. Zum selben Schluss kommt auch die OECD (2008).
Der IQ scheint, abgesehen davon, dass ohnehin unklar ist wie es in einem bestimmten Alter zu einem bestimmten IQ-Squore in einem bestimmten IQ-Test kommt (könnte ja etwa auch mit der Bildung wachsen ;-)), relativ wenig beizutragen (siehe Bowles und Gintis 2001).
Wen die ganze Thematik interessiert, dem ist jedenfalls was den volkswirtschaftlichen Mainstream angeht folgendes zu empfehlen:
Black und Devreux (2010): Recent developments in Intergenerational Mobility.
ftp://repec.iza.org/RePEc/Discussionpaper/dp4866.pdf
Summa summarum: Mit der volkswirtschaftlichen Kenntnissen von Thilo Sarrazin dürfte es nicht weit her sein. Wie kommt er dann auf seine Meinungen? Vielleicht liefert der Forschungszweig zur intergenerationellen Transmission rassistischer Vorurteile eine Antwort, doch das ist eine andere Geschichte.
Literatur:
Belzil, C./Hansen, J. (2003): Structural estimates of the intergenerational educational correlation in: Journal of Applied Econometrics Vol. 18 No 5
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1979):An Equilibrium Theory of the Distribution of Income and Intergenerational Mobility, The Journal of Political Economy, Vol. 87, No. 6,p.1153–1189
Becker, Gary S./Tomes, Nigel(1986):Human Capital and the Rise and Fall of Families, Journal of Labor Economics, Vol. 4, No. 3, Part 2: The Family and the Distribution of Economic Rewards (Jul., 1986), p. S1-S39
Behrman, J. R./Rosenzweig, M. R. (2002): Does Increasing Women’s Schooling Raise the Schooling of the Next Generation? , American Economic Review 92, pp. 323–334
Bowles, Samuel/Gintis, Herbert (2001):The Inheritance of Economic Status: Education, Class, and Genetics, TWorking Papers 01–01-005, Santa Fe Institute
Black, S. E./Devereux, P. J./Salvanes, K. G. (2005): Why the Apple Doesn’t Fall Far: Understanding Intergenerational Transmission of Human Capital, American Economic Review 95, pp. 437–449
Bourdieu, P. (1984): Die feinen Unterschiede STW Frankfurt
Heckman, J./Carneiro, P. (2003): Human capital policy NBER Working Paper 9495
D’Addio (2007):Intergenerational Transmission of disadvantage. mobility or immobility across generations? OECD Social Employment and Migration WP No. 52
Hertz, T./Jayasundera, T./Piraino, P./Selcuk, S./Smith, N./Verashchagina, A. (2008): The Inheritance of Educational Inequality: International Comparisons and Fifty-Year Trends, Advances in Economic Analysis & Policy, Berkeley Electronic Press, vol. 7(2), pages 1775–1775.
Loehlin, J.C. (2005): Resemblance in Personality and Attitudes Between Parents and Their Children: Genetic and Environmental Contributions in: S. Bowles, et al Princeton University Press.
Mulligan, Casey B.(1999):Galton versus the Human Capital Approach to Inheritance, The Journal of Political Economy, Vol. 107, No. 6, Part 2: Symposium on the Economic Analysis of Social Behavior in Honor of Gary S. Becker (Dec., 1999), pp. S184-S224
Plug, E. (2004):Estimating the Effect of Mother’s Schooling Using a Sample of Adoptees, The American Economic Review 94, pp. 358–368
Solon, G. (1999): Intergenerational mobility in the labor market, in Handbook of Labor Economics, ed. by O. Ashenfelter, and D. Card, vol. 3 of Handbook of Labor Economics, chap. 29, pp. 1761–1800. Elsevier
Solon, G. (2002): Cross-country differences in intergenerational income mobility in: Journal of Economic Perspectives Vol. 16
Solon, G. (2004): A model of intergenerational mobility variation over time and place in: M. Corak (ed.) Generational Income mobility in North America and Europe. Cambridge University Press
BEIGEWUM-Stellungnahme zur Budgetkonsolidierung
Alternativen zur neoliberalen Budgetkonsolidierung
Die Auswirkungen der stärksten Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit 80 Jahren konnten mit massiver Staatsintervention diesmal vergleichsweise rasch eingedämmt werden. Banken wurden gerettet, der Wirtschaftseinbruch begrenzt, die Masseneinkommen stabilisiert, zumindest in Österreich der Anstieg der Arbeitslosigkeit überschaubar gehalten – aber vor allem wurden auch die Vermögenswerte gesichert. All das gab es nicht zum Nulltarif – im Gegenteil: Alleine in der Eurozone sammelten sich Krisenschulden in Höhe von einem Fünftel der Wirtschaftsleistung an, rund 1,5 Billionen Euro (AT: rund 10 % des BIP bzw. knapp 30 Mrd Euro).
Vor diesem Hintergrund mehren sich die Versuche, das Verursacherprinzip aus den gegenwärtigen budgetpolitischen Debatten auszublenden. Umso mehr bedarf es der Klarstellung, dass die höhere Staatsverschuldung tatsächlich aufgrund der Krise – und nicht aufgrund plötzlich überbordender Sozialleistungen – so rasch steigt: Die Krisenschuld drückt sich eben nicht nur in Banken- und Konjunkturpaketen, sondern eben auch in höheren Sozialausgaben für Arbeitslosigkeit, sinkendes Abgabenaufkommen und steigende Abgangsdeckungen der Beitragsausfälle in den Sozialversicherungstöpfen aus. Gleichzeitig ist hervorzustreichen, dass gerade im Hauptkrisenjahr 2009 die Vermögen bzw. die Zahl der Millionäre gemäß diversen Wealth Reports 2009 wieder deutlich gestiegen ist – vor allem aufgrund steigender Börsenkurse. Diese hängen eng damit zusammen, dass Unternehmen bei Personal sowie Investitionen sparten, während sie zumeist die Dividendenausschüttungsquoten steigerten und ManagerInnenbezüge üppig beließen.
Krise als Chance neoliberaler Reformpolitik?
Folgt man der Logik von OECD, EZB, EU-Kommission sowie Wirtschaftslobbys und ihren Parteien, müssen die Krisenschulden nun möglichst radikal abgebaut werden. Am besten durch eine verschärfte Durchsetzung der bereits vor der Krise ins Stocken geratenen neoliberalen Reformpolitik (kaum weitere Liberalisierung von Dienstleistungen, öffentlicher Daseinsvorsorge oder Arbeitsbeziehungen). Am Programm stehen insbesondere Kürzungen der Staatshaushalte mit dem Ziel einer erneuerten Intensität der wettbewerbsstaatlichen Restrukturierung, Abbau der sozialen Sicherheit und erhöhter Druck auf Beschäftigte länger und zu schlechteren Bedingungen zu arbeiten. Wo das nicht ausreicht, sollen Massensteuern die Kassen füllen und vor allem ärmeren Haushalten so manche Laster finanziell ausgetrieben werden (Tabak, Alkohol, Energieverbrauch).
Diskursiv werden die Krisenschulden zunehmend in ein „Leben über den Verhältnissen“ der gesamten Bevölkerung bzw des Staatsapparates umgedeutet, welches nun nicht mehr leistbar sei. So wird die Verteilungsfrage bewusst ausgeblendet, die sich sowohl vor, in und nach der Krise stellt. Folglich werden höhere Steuern für besonders wohlhabende Schichten bestenfalls in Fußnoten in Betracht gezogen. Im Mittelpunkt steht aber nur eines, nämlich Sparen – bevorzugt bei möglichst weiten Teilen der Bevölkerung: PensionistInnen, Arbeitslosen, SchülerInnen, öffentlich Bediensteten, sozial Schwächeren, usw. Ganz im Sinne des Thatcher’schen Leitspruchs heißt es wieder „There is no alternative“. Dass dies unvermeidliche negative Folgen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch gesamtgesellschaftlich in Form von höherer Arbeitslosigkeit und niedrigerem Wohlstand für alle hat, wird zwar immer wieder wissenschaftlich bestätigt, aber politisch ignoriert oder mit der zweifelhaften Prognose von positiven Effekten in 30 Jahren verschleiert. Ebenso, dass es genau deshalb eine breite gesellschaftliche Debatte und mehr Mitbestimmung statt Sachzwang- und Blut-Schweiß-Tränen-Logik bedürfte.
Dieses war bereits das dominierende Muster der Krisenpolitiken der 1980er und 1990er. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre wurde hingegen – spätestens nach der Überwindung der sie begleitenden Faschismen – noch zu einem fundamentalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik genutzt, der in den Industriestaaten zumindest bis Ende der 60er noch nie dagewesene Wohlstandszuwächse brachte.
Alternativen zu Sparen UND Schulden gefragt
Budgetdefizite sind in spezifischen Situationen – wie insbesondere der aktuellen – zwecks Stabilisierung der Wirtschaft im Sinne einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, teuren Großprojekte oder zwecks Investitionen mit einem über den Zinskosten liegendem Ertragswert zweifelsohne sinnvoll. Langfristig sollte eine wachsende Staatsverschuldungsquote aber vermieden werden: Erstens würde sie zu einem wachsenden Anteil der Zinskosten an den Gesamtausgaben führen, sprich es bleibt ein geringerer Teil für andere Ausgaben. Zweitens steigt die potenzielle Abhängigkeit von den KapitalgeberInnen (auch wenn diese nur in den seltensten Fällen so konkret manifest wird wie zuletzt etwa in Griechenland). Drittens verteilen sie zu Wohlhabenden um, denn Staatsschulden sind immer auch – im Allgemeinen sehr ungleich verteilte – Finanzvermögen anderer: insbesondere von Banken, weiters von Investmentfonds und Versicherungen, eher seltener direkt von reichen Privatpersonen. Es ist eine besondere Ironie der Krise, wenn nun die staatlich geretteten Banken – deren Entscheidungsgremien zumeist nicht angetastet wurden – nun ihre Macht als wichtigste Kapitalgeberinnen der Staaten gegen diese ausspielen und via höhere Zinsen durch Risikoaufschläge maßgeblich daran verdienen.
Eine höhere Verschuldung ist daher bis zu einem gewissen Grad nur ein schlechtes Substitut für höhere vermögensbezogene Steuern: Im einen Fall muss das Geld plus Zinsen wieder zurückgezahlt werden, im anderen steht es per Gesetz der öffentlichen Hand zu. Im einen Fall wird die politische Macht des Finanzkapitals gestärkt, im anderen die Entscheidungsmacht der Finanziers eingeschränkt. So schlug bereits Joseph Schumpeter zu Beginn der 1. Republik vor, die damaligen Kriegsschulden mit einer einmaligen, großen Vermögensabgabe zu tilgen. In der aktuellen Krise forderte lediglich die IG-Metall in Deutschland eine Zwangsanleihe für Reiche, die realpolitisch jedoch noch weniger Erfolgsaussicht haben dürfte als zumindest moderate vermögensbezogene Abgaben.
Herausforderungen Arbeitslosigkeit und Krisenvermeidung nicht minder dringlich
Zur Konsolidierung der Staatsfinanzen gibt es mittelfristig folglich tatsächlich keine Alternative, sehr wohl aber bezüglich „wer“, „wann“ und des „wie“. Wichtig ist, dass sie nicht losgelöst von der Wirtschaftskrise erfolgt. Sie soll deshalb Teil einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik sein, die neben dem Abbau der Defizite auch einen Abbau der deutlich über 20 Mio Arbeitslosen in Europa, höhere und gleicher verteilte Wohlstandsgewinne, einen ökologischen Umbau der Wirtschaft usw. zum Ziel hat. Sie muss aber auch auf eine Vermeidung zukünftiger Krisen abzielen, denn angesichts der Dimension der Krisenschulden wäre ihre Vermeidung die mit Abstand beste Konsolidierungsstrategie gewesen. Ausgangspunkt müssen deshalb auch Lösungen der strukturellen Krisenursachen sein – im Wesentlichen die in Deutschland vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung geprägten „3 U“: Ungleichheit, Ungleichgewichte im Außenhandel und Unvernunft auf den Finanzmärkten.
Die aktuellen Konsolidierungsprozesse auf europäischer wie nationaler Ebene sind Versuche eine unsoziale Politik der leeren Kassen durchzusetzen: Fahrlässig produzierte Defizite werden genutzt um staatliche Leistungen einzuschränken oder zu privatisieren. Auch diesmal wird hauptsächlich auf Ausgabenkürzungen gesetzt werden, während Vermögen bzw der Finanzsektor kaum belastet werden. Diese Kürzungen dämpfen jedoch die wirtschaftliche Erholung, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt, denn Staatsausgaben sind verantwortlich für einen wesentlichen Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Gerade in Ländern wie Spanien wäre es fatal, wie angekündigt bereits 2013 die Maastricht-Kriterien wieder einzuhalten, zumindest solange die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung nicht kräftig anziehen. Gefragt ist außerdem eine differenzierte Strategie: Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen und unterdurchschnittlichen Defiziten sollten eine weniger restriktive Fiskalpolitik fahren um den Spielraum von Spanien & Co zu erhöhen.
In Österreich sieht der Plan der Bundesregierung für 2011 eine Defizitreduktion von bis zu 4 Mrd Euro mit ausgabenseitigem Schwerpunkt vor – gerade vor dem Hintergrund einer im europäischen Vergleich guten Ausgangslage eine absurd hohe Vorgabe (insbesondere wenn – wie von der Regierung vorgesehen – im Bildungsbereich mehr Millionen als beim Heer eingespart werden sollen). Es ist zu befürchten, dass Unterfinanzierung im Bildungsbereich, fehlende Förderung von Kleinkindern, Arbeitslosigkeit und fehlende soziale Absicherung die Chancen zukünftiger Generationen beschränken. Gemäß WIFO-Studien müsste ein Konsolidierungsvolumen von einer Milliarde Euro – je nach Maßnahme – bis zu 0,7 % des BIP bzw 25.000 Arbeitsplätze kosten. Das wird wiederum dazu führen, dass die Konsolidierung selbst gefährdet ist, weil der Nachfrageausfall zB die Staatseinnahmen weiter senkt oder die Ausgaben durch Arbeitslosigkeit erhöht. Es wird geschätzt, dass ein um 1 %-Punkt niedrigeres Wirtschaftswachstum das Budgetdefizit um knapp 0,5 % des BIP verschlechtert. Sparen alle Europäischen Staaten gleichzeitig, verstärken sich die negativen Effekte sogar noch wechselseitig.
Vermögende und Finanzsektor besteuern
Die Konsolidierung muss folglich zuallererst auf der Einnahmenseite ansetzen und zwar dort, wo sie eine adäquate Krisenantwort sind und von den Betroffenen geschultert werden können: bei Vermögenden. Das würde bedeuten, Vermögenszuwächse, Erbschaften und Schenkungen sowie Vermögen an sich zu belasten sowie höhere Spitzensteuersätze auf sehr hohe Einkommen einzuheben (zB ab etwa 250.000 Euro/Jahr). Zusätzlich müssten im Finanzsektor destabilisierende Aktivitäten reduziert werden, auch – aber nicht nur – mit Steuern: Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe und höhere Besteuerung von Bonifikationen können hier positive Lenkungseffekte bringen. Diese Steuern können zudem als Abgeltung für die Rettung der Vermögen der BankaktionärInnen auf Staatskosten gesehen werden, die ohne Intervention deutlich verringert oder vernichtet worden wären.
Sie sind aber auch aus anderen Gründen anderen Maßnahmen wie höheren Ausgabenkürzungen vorzuziehen: Sie wirken sich positiv auf die Einkommensverteilung aus, sie stehen in engem Zusammenhang mit der Krise, sie finden eine relativ breite Zustimmung in der Bevölkerung und sie haben kaum negative Folgen für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, da Reiche eher mit Spar- als mit Konsumverzicht reagieren. Speziell in Österreich kommt hinzu, dass die Abgabenquote von Vermögen auch im internationalen Vergleich rekordverdächtig niedrig ist.
Das Defizit-Dilemma ist nur langfristig und mit höheren vermögensbezogenen Steuern sinnvoll zu lösen, die nicht nur wenig wachstumshemmend, sondern vor allem auch sozial gerecht sind. Höhere Steuern sind auch deshalb angebracht, weil andernfalls ein Abbau der Krisenschulden wohl zu Lasten notwendiger Zukunftsinvestitionen geht: qualitativ hochwertige Bildung, Pflege, Kinderbetreuung sowie Integration und eine Energiewende erfordern höhere Ausgaben, die es für eine Zukunft ohne neoliberalen Backlash zu finanzieren gilt.
Schuldenbremse nach deutschem Vorbild?
Die Industriellenvereinigung und das IHS wollen eine Schuldenbremse in Österreich einführen und sich dabei an Deutschland orientieren. So berichten es u.a. der Standard und der ORF. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Funktionsfähigkeit der deutschen Schuldenbremse massiv zu bezweifeln ist (vgl. Himpele 2010), und dass zudem dogmatisch über Staatsverschuldung gesprochen wird, ohne ökonomische Argumente und Erwägungen anzuführen. Drittens soll mit der deutschen Schuldenbremse dafür gesorgt werden, das Budget ausgabenseitig zu konsolidieren. Eine sinnvolle Erhöhung der Steuern wird dabei völlig außer Acht gelassen. Der Schweizer Kanton St. Gallen regelt das anders.
Staatsverschuldung – Gründe und Probleme
Eine Verschuldung des Staates muss immer gut begründet werden, da sie Zinszahlungen und Tilgungsleistungen nach sich zieht, was spätere Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Ganz allgemein kann mit Corneo (2009, S. 5) gesagt werden, dass „[d]ie first-best-Regel der Finanzpolitik verlangt, daß diese so ausgewählt wird, daß die soziale Wohlfahrt des Landes bei Einhaltung der Budgetbeschränkungen […] maximiert wird.“ Der Staat sollte sich also dann verschulden, wenn der Ertrag (geringere Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, Infrastrukturbereitstellung, sozialer Friede …) der schuldenfinanzierten Maßnahmen die Kosten der Verschuldung übersteigt. Dies lässt sich zwar nicht immer eindeutig ermitteln, kann aber als Annäherung an eine rationale Finanzpolitik verstanden werden. Es kann demnach nicht darum gehen, Staatsschulden zu verbieten, sondern nur darum, Staatsverschuldung gezielt und sinnvoll einzusetzen.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2005, S. 154ff. und 2008, S. 169ff.) hat einige Gründe für die Staatsverschuldung genannt, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (vgl. Himpele 2010: 18):
- Ohne Schulden gibt es in einer Volkswirtschaft keine Ersparnis, da jeder Geldforderung eine Verbindlichkeit in gleicher Höhe entgegenstehen muss. Wenn die Geldvermögensbildung der privaten Haushalte steigt und die Ersparnisse nicht durch nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften als Kredit aufgenommen werden (um real zu investieren), sondern diese im Gegenteil selbst Überschüsse bilden und überdies die Verschuldung des Auslands begrenzt ist, finden die Ersparnisse zum Teil keine reale Verwendung. In diesem Fall muss der Staat „die ‚Lückenbüßer‘-Funktion übernehmen. Tut er das nicht, wird mangels binnenwirtschaftlicher Nachfrage die Produktion zurückgehen“, bis die hierdurch rückläufigen Ersparnisse der Summe aus Investitions‑, Staatsnachfrage und Exportüberschuss entsprechen (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2008, S. 174).
- Auch gegen konjunkturelle Abschwünge ist Staatsverschuldung ein rationales Instrument, da die „Rationalitätsfalle zwischen dem Resultat einzelwirtschaftlicher Entscheidungen im Wettbewerb und dem an sich machbaren höheren Wirtschaftswachstum samt Beschäftigung“ nur der Staat überwinden kann (ebd., S. 176).
- Investitionen, die künftig zu nachhaltigen Vorteilen führen, können ebenfalls schuldenfinanziert werden.
- Künftige Generationen erben nicht nur die Schulden, sondern auch den Nutzen der Staatsausgaben etwa in Form von Infrastruktur. Daher können Investitionen ebenfalls nach dem Prinzip des pay-as-you-use über Staatsschulden finanziert werden (vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2005, S. 155; dies. 2008, S. 177f.).
Klar ist: Staatsverschuldung birgt erhebliche Risiken. Klar ist aber auch: Staatsverschuldung kann gezielt und sinnvoll genutzt werden. Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist demnach, ob die Staatsverschuldung aus zu hohen Ausgaben oder zu geringen Einnahmen resultiert. Zudem stellt sich die Frage, ob die Divergenz von Einnahmen und Ausgaben temporär oder strukturell ist. Entsprechende Staatsverschuldungen müssen sich an der ökonomischen Realität und nicht an einem populistischen Dogmatismus orientieren.
Die deutsche Schuldenbremse
Die deutsche Schuldenbremse sieht vor, dass die Staatsschulden in eine strukturelle und eine konjunkturelle Komponente unterteilt werden. Die konjunkturelle Komponente soll dabei dazu führen, dass sich der Staat im konjunkturellen Tief verschulden darf, jedoch im konjunkturellen Hoch entsprechende Tilgungszahlungen zu leisten hat. Die strukturelle – also nicht näher zu begründende – Verschuldung soll im Bund ab 2016 maximal 0,35 Prozent des BIP betragen dürfen, in den Ländern soll sie ab 2020 gänzlich unterbleiben.
Was sich sinnvoll anhören mag birgt erhebliche Probleme. So ist die Unterteilung der Komponenten faktisch nicht möglich und die Wirkung konjunktureller Entwicklungen auf das Budget (Budgetsensitivität) kaum im Voraus zu ermitteln. Die Ausgestaltung dieser Regelungen bestimmt jedoch, welche Schulden tatsächlich im Rahmen der gesetzlichen Regelungen möglich sind. Weitere Probleme ergeben sich in Deutschland dadurch, dass die Steuergesetze vom Bund und ggf. unter Zustimmung der Länder im Bundesrat (per Mehrheitsentscheidung) erlassen werden. Daher hat ein einzelnes Land kaum Einfluss auf seine Einnahmen. Die Schuldenbremse kann also nur ausgabenseitig erreicht werden, dies jedoch zu Lasten der Länderausgaben – in Deutschland gehören hier etwa Bildung (Schulen, Hochschulen), Sicherheit (Polizei) und zahlreiche soziale Leistungen sowie Kultur dazu. In den mittelfristigen Finanzplanungen der Länder sind deshalb auch erhebliche Kürzungen vorgesehen, so ist bereits eine Hochschule in Schleswig-Holstein gefährdet und überall sollen Landespersonal abgebaut werden. Diese Politik orientiert sich nicht an den Notwendigkeiten, sondern an der Schuldenbremse. Fraglich ist zudem, ob eine derartige Politik nicht die Binnennachfrage weiter abschnürt und so die Erreichbarkeit des Ziels der strukturellen Nullverschuldung erst recht verunmöglicht. An dieser Stelle soll auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden. Weitere Informationen finden sich bei Himpele (2010), Truger et al. (2009) und Horn et al. (2008; 2009).
Die Schuldenbremse im Kanton St. Gallen
Deutschland ist nicht das einzige Land mit einer sogenannten Schuldenbremse. Auch die Schweiz hat solche Regelungen, ebenso einzelne Kantone, etwa St. Gallen. Das zulässige Defizit beträgt hier 3 Prozent der einfachen Steuereinnahmen des Kantons. Erst wenn ein Überschuss, d.h. höhere Staatseinnahmen als Staatsausgaben, erwirtschaftet wurde, der mindestens das Siebenfache dieses zulässigen Defizits beträgt, dürfen im Kanton St. Gallen die Steuern gesenkt werden (vgl. Kirchgässner 2010, S. 8). Damit wird die Einnahmeseite des Kantons stabilisiert, da Steuersenkungen nur dann zulässig sind, wenn die Staatseinnahmen tatsächlich zur Deckung der Staatsausgaben ausreichen. Die Schuldenbremse damit auch eine Steuersenkungsbremse. Auf gesamtschweizer Ebene sind die Regelungen jedoch anders, und Kirchgässner (2010, S. 15) schreibt dazu: „Die dahinter stehende Philosophie besteht darin, die Einnahmen zu begrenzen und die Ausgaben an die Einnahmen anzupassen.“ Dies liegt auch daran, dass Steuererhöhungen auf nationaler Ebene in der Regel Gesetzes- und/oder Verfassungsänderungen bedürfen und daher schwer durchzusetzen sind. Die Budgetsanierung soll demnach vor allem ausgabenseitig geschehen – dies dürfte auch für die Politik in Österreich gelten.
Schuldenbremse oder Steuersenkungsbremse?
Österreich verzichtet auf erhebliche Einnahmen durch eine angemessene Besteuerung der Vermögen. Darauf haben wir in diesem Blog bereits mehrfach hingewiesen (bspw. hier). Ähnlich wie in Deutschland sind zudem immer wieder Steuern für Unternehmen gesenkt worden, so dass das Land auf Einnahmen verzichtet. Das derzeitige starke Anwachsen der Staatsschulden ist zudem auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurückzuführen. Diese wurde bekanntlich durch deregulierte Finanzmärkte verursacht, und auch , weil Einkommen und Vermögen immer ungleicher verteilt sind und dadurch die Krisentendenzen verstärkt wurden (vgl. auch BEIGEWUM/Attac 2010, S. 32ff.).
Diese Tatsachen sind bekannt. Die Lösung wäre demnach eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen. Dies hättet zwei Effekte: Erstens ließe sich die Staatsverschuldung so einnahmeseitig begrenzen, ohne dass soziale und öffentliche Leistungen eingeschränkt werden müssten. Zweitens würde das „Spielgeld“ für Spekulationen verringert. Dass die Industriellenvereinigung die Kosten, auch der Krise, lieber via Sparmaßnahmen auf die breite Bevölkerung abschieben will, insbesondere auch auf Personen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ist nicht verwunderlich. Allerdings sollten wir uns dagegen wehren.
Literatur
- Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2005): Memorandum 2005. Sozialstaat statt Konzern-Gesellschaft, Köln.
- Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2008): Memorandum 2008. Neuverteilung von Einkommen, Arbeit und Macht. Alternativen zur Bedienung der Oberschicht, Köln.
- BEIGEWUM – Beirat für gesellschafts‑, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen / Attac Österreich (2010): Mythen der Krise. Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash, Hamburg.
- Corneo, Giacomo (2009): Verschuldung und Konsolidierung, Berlin.
- Himpele, Klemens (2010): Die Umsetzbarkeit der Schuldenbremse in den Ländern. Studie im Auftrag der Fraktionsvorsitzendenkonferenz der LINKEN. Endfassung, Wien. Download als PDF.
- Horn, Gutsav / Niechoj, Torsten / Truger, Achim / Vesper, Dieter / Zwiener, Rudolf (2008): Zu den Wirkungen der BMF-Schuldenbremse, Düsseldorf.
- Horn, Gustav / Truger, Achim / Proaño, Christian (2009): Stellungnahme zum Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform BT Drucksache 16/12400 und Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes BT Drucksache 16/12410, Düsseldorf.
- Kirchgässner, Gebhard (2010): Institutionelle Möglichkeiten zur Begrenzung der Staatsverschuldung in föderalen Staaten. SCALA Policy Paper No. 01/2010, St. Gallen.
- Truger, Achim / Eicker-Wolf, Kai / Will, Henner / Köhrsen, Jens (2009): Auswirkungen der Schuldenbremse auf die hessischen Landesfinanzen. Ergebnisse von Simulationsrechnungen für den Übergangszeitraum von 2010 bis 2020, Düsseldorf.
Millionen für den Feudalismus
Ist Erben das letzte Tabu? Zum wiederholten Mal werden Forscher, die die Ungleichverteilung von Vermögen in Österreich ansprechen, oder – Gott bewahre! – dafür sogar steuerliche Lösungen andenken, persönlich diffamiert und als „Ideologen“ bzw. politische Extremisten denunziert. So geschehen jüngst in einem Kommentar von Clemens Wallner, Mitarbeiter der Industriellenvereinigung, zu einer kreuzbraven Nationalbank-Studie über Immobilienerbschaften. Das Thema ist offensichtlich heiß, und die Methoden der Auseinandersetzung deuten auf eine ungute Mischung von persönlichen Interessen und schwacher Argumentationslage hin.
Der im Kommentar von Wallner geäußerte Vorwurf der Doppelbesteuerung an die Erbschaftssteuer zeugt von steuerpolitischer Ahnungslosigkeit; Daten über die Konzentration der Erbschaftssummen werden nicht durch Daten über die Verteilung der Zahl der Erbschaftsfälle relativiert ( siehe auch hier); und wenn die Erbschaftssteuer eine Bagatellsteuer wäre – warum ist sie dann politisch so unakzeptabel? Damit nicht genug, rundet Wallner seinen Beitrag noch mit dem Versuch ab, die Glaubwürdigkeit der von ihm kritisierten Studienautoren mit zweifelhaften Zitaten aus anderen Kontexten anzukratzen. Wie steht es aber um die fachliche Glaubwürdigkeit des Herrn Wallner, der hier so munter persönlich diffamiert? Mit Publikationen ist Wallner, von vereinzelter Aufsatzschreibe in einem Cartellverbands-Blatt abgesehen, bislang nicht auffällig geworden, schon gar nicht zum Thema Vermögen und Erbschaft. Wallners Expertise dürfte sich eher auf persönliche Erfahrung stützen: In einer News-Story über „Österreichs Jungmillionäre“ firmiert Wallner schlicht als „Sohn des Casino-Austria-Chefs“.
Eine Herkunft, die ihm eine Ausbildung an exklusiven Bildungsinstitutionen im In- und Ausland ermöglichte, an deren Ende eine Abschlussarbeit über „Wappen und Flaggen als politische Symbole“ steht – ein Thema, das großräumigen Respektabstand zu den zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatten am Institut für Staats- und Politikwissenschaft der Uni Wien hält. Auch ins Kernfach politische Theoriegeschichte dürfte sich Wallner nicht allzu sehr vertieft haben – sonst wäre ihm aufgefallen, dass Erbschaftsbesteuerung kein Einfall linksextremer Propaganda, sondern Kernelement des klassischen Liberalismus eines John Stuart Mill und Zeitgenossen im 19. Jahrhundert darstellt, die in der dadurch hergestellten Chancengleichheit ein Fundament der Marktwirtschaft sahen, in Abkehr von der Privilegienvererbung im Feudalismus. Diese selektive Rezeption von Studieninhalten erwies sich jedoch für Wallner durchaus nicht als hinderlich für eine abwechslungsreiche Berufslaufbahn in der „schwarzen Reichshälfte“ (Raiffeisen, Außenministerium, ÖVP Bundeszentrale), die ihn schließlich in die Industriellenvereinigung geführt hat – mit einem Wort: der Mann ist völlig frei von jedem Ideologieverdacht.
Bevor die Erbschaftssteuerfreiheits-Befürworter jetzt wieder umständlich Material gegen Menschen im Beigewum zu sammeln beginnen müssen, stellen wir es frei Haus klar: der Beigewum ist aus verteilungspolitischen Gründen für eine Erbschaftsbesteuerung – sie soll einen Beitrag gegen die herrschenden Verteilungsungleichheiten leisten. Daneben gibt es noch viele andere Argumente für eine Erbschaftssteuer, allen voran die wirtschaftsliberalen Argumente für gleiche Startbedingungen für Sprösslinge aus unterschiedlich reichen Familien. In Österreich fehlen leider weitgehend Stimmen, die diese liberalen Argumente artikulieren. Während die Industriellenvereinigung in anderen wirtschaftspolitischen Fragen zu den stärksten Fürsprechern marktwirtschaftlicher Prinzipien zählt, wechselt sie in der Steuerdebatte die Linie. Wieso dominieren plötzlich die Besitzstandswahrungsinteressen von Millionären und ihren Söhnen die Argumentation der Unternehmensvertretung, wenn es um Fragen der Vermögensbesteuerung geht? Gibt es in der Industriellenvereinigung keine Kräfte, die für wirtschaftsliberale Chancengleichheit einstehen, und den Fürsprechern feudaler Verhältnisse in den eigenen Reihen entgegentreten?
Was für eine Überraschung
Aus einer Studie des Jahres 2005:
Wobei hier eines deutlich wird – und das zeigt die elaborierte Studie sehr gut, weil sie die Ergebnisse auch auf die Fakultätsebene herunterbricht: Der schlechte Wert der Uni Wien resultiert „fast ausschließlich“ aus der hohen Drop-out-Rate in den extrem überlaufenen Massenfächern in der (für den Vergleich an allen Unis konstruierten) geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultät (GeSoWi). (.pdf)
Big surprise. Wobei ich die Verdienste dieser Studie nicht in Abrede stellen will; im Gegenteil. Nur ist es halt traurig, dass der empirische Beleg des Offensichtlichen von politisch-ministerieller Seite fünf Jahre lang unter Verschluss gehalten werden kann und darf. Damit wird eine Grundregel des demokratischen Willensbildungsprozesses gebrochen. Mir egal, ob man das nun als Josephinismus oder bürokratische Willkür bezeichnet; es ist einfacheine Sauerei.
9.6.: Diskussion: „Kurt W. Rothschild – Leben und Werk im Lichte aktueller Ereignisse“
Die Studienvertretung VW lädt gemeinsam mit dem BEIGEWUM und der Studienvertretung Doktorat zur letzten Podiumsdiskussion in diesem Semester an der WU.
Wann: Mittwoch, 9. Juni, ab 18 Uhr
Wo: Hörsaal D.204 (Wirtschaftsuniversität, UZA4, Nordbergstraße 15)
Die aktuellen Ereignisse offenbaren die Machtverhältnisse zwischen Finanzmärkten und Nationalstaaten im globalen Finanzkapitalismus. Viele Staaten – von den Finanzmärkten zu rigiden Sparmaßnahmen gezwungen – blicken Jahren rückläufiger Wirtschaftsleistung und steigender Arbeitslosigkeit entgegen. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns mit Leben und Werk eines österreichischen Ökonomen beschäftigen, der zu den Themen Macht und Arbeitslosigkeit wichtige Beiträge geleistet hat: Kurt W. Rothschild.
Film:
Wir sind Wirtschaft – Kurt Rothschild – Zum 95. Geburtstag.
Vortrag:
Wilfried Altzinger (Wirtschaftsuniversität Wien, WU)
es diskutieren:
Herbert Walther (Wirtschaftsuniversität Wien, WU)
Eva Belabed (Organisation für ökonomische Kooperation und Entwicklung, OECD)
Alois Guger (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, WIFO)
Für eine kleine Stärkung nach der Veranstaltung ist gesorgt. Überdies verlosen wir wieder mehrere Bücher von Kurt Rotschild an die anwesenden KollegInnen. Zur weiteren Diskussion laden wir in das Restaurant „Al Dente“ (zwischen den Lokalen „ROAST“ und „Selbstverständlich“).
16.06.2010: Mythen der Krise – Buchpräsentation
Zu Beginn der aktuellen Krise schien der Neoliberalismus, ja der Kapitalismus insgesamt, schweren Legitimationsschaden zu nehmen. Doch mittlerweile haben sich seine ApologetInnen erholt und versuchen mit allen Mitteln, ihre Lehren zu verteidigen. Mit Mythen wie „Der Staat ist schuld an der Krise“ oder „Europa ist nur Opfer“ wird Ursachenverleugnung betrieben. Mit Ansagen wie „Jetzt droht die Hyperinflation“, „Wir vererben nachfolgenden Generationen Schulden ohne Ende“ oder „Jetzt müssen alle den Gürtel enger schnallen“, wird versucht, eine Abkehr von der herrschenden wirtschaftspolitischen Doktrin zu verhindern. Mit Warnungen wie „Die Banken sind um jeden Preis zu retten“ wird beschleunigt in Sackgassen gesteuert.
Die AutorInnen nehmen sich die kursierenden Mythen vor und ordnen sie in die Bereiche Krisenursachen, Krisenbeschreibung sowie Krisenlösungen ein. Die auch für Nicht-ÖkonomInnen eingängige Darstellung und das Aufgreifen von hartnäckig wirkenden Vorurteilen machen ihr Buch zu einer willkommenen Argumentationshilfe für all jene, die dem herrschenden Krisen-Management kenntnisreich entgegen treten wollen.
Die dritte – und vorläufig letzte – Buchpräsentation findet statt am
Mittwoch, 16. Juni um 19.00 Uhr
in der Buchhandlung Thalia Wien Mitte, Landstraße 2a/2b, 1030 Wien.
Es diskutieren die drei AutorInnen:
Dr. Markus Marterbauer (WIFO)
Dr. Martin Schürz (BEIGEWUM)
Dr.in Elisabeth Springler (WU WIEN)
Infos zum Buch:
Mythen der Krise – Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash
Herausgegeben vom Beirat für gesellschafts‑, wirtschafts– und umweltpolitische Alternativen und von Attac Österreich
VSA Verlag, 128 Seiten (Februar 2010)
EUR 10.80
ISBN 978–3–89965–373–1
Inhaltsverzeichnis, Textprobe und Bestellmöglichkeit unter:
http://www.beigewum.at/2010/01/mythen-der-krise/
Rating Agenturen – wozu noch?
Im Fokus der Kritik der vergangenen Wochen waren wieder einmal die Rating-Agenturen. Die von diesen verhängten Verschlechterungen im Rating von Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien haben deren Zugang zu den Kapitalmärkten bedeutend erschwert. Die Risikoaufschläge, die diese Länder zu Refinanzierung ihrer Staatsschuld zahlen müssen, sind zum Teil drastisch gestiegen. Ergibt sich daraus ein Zinssatz von 10% oder mehr, ist die Verschuldung für das Land de-facto nicht mehr finanzierbar. Den Rating-Agenturen wurde daher vorgeworfen, die Krise dieser Länder noch weiter zu verschlimmern.
Daher wurde die Kritik an den Rating-Agenturen, die im Zuge der US-amerikanischen Hypothekenkrise ja schon aufgekommen war, auch in Europa wieder lauter. In den Chor der KritikerInnen stimmte diesmal auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ein. Diese meinte, die Einrichtung einer europäischen Rating-Agentur wäre nötig, um das herrschende US-amerikanische Oligopol von Rating-Agenturen (Standard&Poors, Moodys, Fitch) zu brechen. Nur so könnten europäische Interessen besser gewahrt werden. Merkel wiederholt damit eine Forderung, die in ähnlicher Form schon von anderen ExpertInnen und PolitikerInnen als Forderung an die europäische Re-Regulierung der Finanzmärkte gestellt worden ist.
Ist aber die Einrichtung einer europäischen Rating-Agentur wirklich die Lösung des Problems? Bevor ich darauf näher eingehe, sollten wir dem Phänomen Rating-Agenturen zuerst auf den Grund gehen. Was machen Rating-Agenturen eigentlich? Rating-Agenturen sind private Firmen, deren Geschäft darin besteht, die Kreditwürdigkeit von Unternehmen, Banken, aber auch öffentlichen Körperschaften und Staaten zu beurteilen. Ergebnis der Beurteilung ist ein Rating, d.h. eine Note in einem von Firma und Firma leicht unterschiedlichen Beurteilungsschema. Wie der Beurteilungsprozess genau abläuft, welche Indikatoren mit welchem Gewicht in die Bewertung einfließen, ist allerdings der Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Firmen betrachten ihre Rating-Modelle als Geschäftsgeheimnisse.
Die andere Frage in diesem Zusammenhang ist, welche volkswirtschaftliche Funktion Rating Agenturen erfüllen und warum Rating-Agenturen in den letzten 20 Jahren eine solche Bedeutung erlangen konnten. Festzuhalten ist, dass die Beurteilung der Kreditwürdigkeit von Schuldnern grundsätzlich eine Aufgabe des Gläubigers ist. In den kontinentaleuropäischen Bank-basierten Finanzsystemen fiel diese Aufgabe traditionell den Banken zu, da diese die Hauptfinanciers sowohl der Wirtschaft als auch der öffentlichen Körperschaften waren. Im Fall der Finanzierung über den Kapitalmarkt (z.B durch Emission von Unternehmensanleihen oder Staatsanleihen) tritt die die Emission durchführende Bank jedoch nicht mehr als Gläubiger, sondern als Vermittler auf. Sie kann daher durchaus die Bonitätsprüfung vornehmen, man könnte ihr aber einen Interessenskonflikt vorwerfen. Sie ist ja schließlich daran interessiert, dass die Anleihenemission ein Erfolg wird, und könnte daher versucht sein, die Bonität des Schuldners in zu gutem Licht darzustellen. Im Zuge der Expansion der Finanzmärkte der letzten 20 Jahre ging es zunehmend darum, neue derivative Finanzprodukte zu kreieren und auf den Markt zu werfen. Diese Kreationen wurden zu einem ertragreichen Wachstumsmarkt, der fette Renditen versprach. Hauptprofiteure dieser Entwicklung waren die (Investment-)Banken, die sich auf die Entwicklung dieser Produkte spezialisierten. Notorische Berühmtheit im Zuge der Finanzkrise erlangten Instrumente wie etwa Verbriefungen (z.B. CDOs – collateralized debt obligations) oder CDS – credit default swaps, das sind Wetten auf den Bankrott von Schuldnern. Um diesen neuen Instrumenten Glaubwürdigkeit zu geben, war das „Gütesiegel“ einer Bonitätsnote (Rating), vergeben von einer „unabhängigen“ Rating-Agentur äußerst geschäftsfördernd. Welch Zufall, dass die privaten , gewinnorientiert agierenden Rating-Agenturen jedes Interesse daran haben mussten, dass möglichst viele solcher neuen „Finanzinnovationen“ auf den Markt kamen. Schließlich verdienten sie an der Bewertung dieser Instrumente ja prächtig. Dass die Ratings daher etwas zu gut ausfielen, ist naheliegend.
Die Interessenkonvergenz zwischen Banken, anderen Finanzakteuren (z.B. Hedge-Fonds) und Rating-Agenturen liegt daher auf der Hand.
Aus dieser auch vom wirtschaftspolitischen Mainstream vertretenen Kritik, wurde die Forderung zur Einrichtung einer europäischen Agentur (z.T. in der Variante als öffentliche Gesellschaft) abgeleitet. Hinter dieser Forderung steht die Annahme, dass wenn die Interessen erst einmal außen vor gelassen werden, eine „objektive“ Beurteilung des Kreditrisikos möglich wäre. Mit anderen Worten, dass also die analytischen Instrumente existieren, die es fachlich qualifizierten und wirklich unabhängigen Instituten ermöglichten, ein „objektives“ Urteil abzugeben. Manche stellen sich daher eine solche Rating-Agentur als gerichtsähnliches ExpertInnengremium (ein neuer Weisenrat?) vor.
Diese Vorstellung ist allerdings aus zumindest zwei Gründen zu hinterfragen. Zum einen ist auch in einer öffentlichen Einrichtung, selbst wenn ihr formale Unabhängigkeit zuerkannt wird, immer mit Einflussnahme zu rechnen, sowohl von politischen als auch wirtschaftlichen Akteuren. Gerade im Geld- und Finanzwesen können sich auch als Inbegriff der Unabhängigkeit verstehende Organisationen wie Notenbanken politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme nicht entziehen. Die jüngsten Politikänderungen der EZB zeigen dies deutlich.
Der andere, und gewichtigere Einwand ist ein epistemologischer. Kann es so etwas, wie ein objektes Rating-Modell, d.h. eine allgemeingültige Methode geben, anhand derer sich die Kreditwürdigkeit einer wirtschaftlichen Entität bemessen lässt? Ich meine nein. Die Kreditwürdigkeit ist nichts anderes als die Einschätzung der Rückzahlungsfähigkeit eines Schuldners. Diese Rückzahlungsfähigkeit hängt aber nicht nur von noch relativ leicht feststellbaren Gegenwartsparametern (Eigenkapitalquote, Cash-Flow u.ä.), sondern entscheidend von Zukunftsvariablen ab. Insbesondere die Geschäftsentwicklung eines Unternehmens, die wiederum vom Geschick des Managements, der Innovationsfähigkeit des Unternehmens, der Einsatzbereitschaft der ArbeitnehmerInnen, aber letztendlich auch von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung in der Zukunft abhängig ist, unterliegen einer fundamentalen Unsicherheit, die sich jedem probabilistischen Kalkül letztendlich entzieht. Diese Einsicht zu akzeptieren, bedeutet nicht, auf jedwede Bonitätsbeurteilung zu verzichten. Aber es ergeben sich zwei grundlegende Konsequenzen: erstens wird klar, dass jedes Rating-Modell keine allgemeingültige Beurteilung der Realität ist, sondern die Beurteilung einer möglichen Zukunft, die von einer ganz bestimmten theoretischen Perspektive aus getroffen wird und auf ganz bestimmten methodologischen Annahmen beruht. A‑priori lässt sich somit auch nicht sagen, welches von mehreren Rating-Modellen die tatsächliche Zahlungsfähigkeit eines Unternehmens oder Staates besser beurteilt. Ein Rating ist daher nicht mehr als eine Hpyothese über die zukünftige Zahlungsfähigkeit eines Schuldners. Die Hypothesen, die aufgrund der Ratingmodelle der marktbeherrschenden Agenturen generiert wurden, können angesichts der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise nicht mehr den Anspruch erheben, irgendeinen superioren Prognosegehalt zu verkörpern. Vielmehr sind sie Teil des Problems, das mit dem Begriff „systemisches Risiko“ umschrieben wird, d.h. des systemimmanenten Aufbaus von Risiken im Finanzsystem selbst. Ratings sind mitauslösendes Moment systemimmanenter Phasen von „irrational exuberance“ wie auch kollektiver Paniken. Auch die sie erstellenden sog. ExpertInnen unterliegen selbst diesen kollektiven Schwankungen.
Zum anderen stellt sich die Frage, wie mit dieser fundamentalen Unsicherheit in institutioneller Hinsicht am besten umzugehen ist. Konkret: sind wenige oder gar eine einzige Rating-Agentur die beste institutionelle Lösung, oder gibt es andere und bessere Möglichkeiten. Die Beurteilung durch eine einzige oder einige wenige spezialisierte Agenturen setzt voraus, dass es möglich ist, (i) die dafür notwendigen Informationen und Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung zentral zu sammeln und (ii) dann durch ein spezifisches Rating-Modell beurteilen zu lassen. Die erste Annahme halte ich für unrealistisch, die zweite für unzweckmäßig. Ausnahmsweise möchte ich mit F.A. Hayek argumentieren, dass die Zentralisierung von Wissen zu Verlusten von dezentralem, nicht standardisierbarem Wissen führen muss. Wissen, das für die Bonitätsprüfung aber den qualitativen Unterschied ausmachen kann. Die Bankmitarbeiterin der regionalen Sparkasse, welche ihre Unternehmenskunden seit Jahrzehnten kennt, verfügt über Erfahrungswissen, das nicht gänzlich quantifizierbar bzw. kodifizierbar und damit für eine zentrale Planungsbehörde, wie es eine Rating Agentur ist, verarbeitbar wäre. Dieses Wissen ist notwendig in einem Individuum verkörpert. Es unterliegt damit zwar subjektiven Komponenten, die zu Fehlentscheidungen führen können (die Kreditentscheidung wird etwa davon beeinflusst, dass eine freundschaftliche Beziehung mit dem Kreditnehmer besteht, obwohl alle anderen Faktoren gegen die Kreditvergabe sprechen). Nichtsdestoweniger ist die Bankmitarbeiterin in einer informationstheoretisch überlegenen Position. Zudem wird sie lokal- oder regionalökonomische Gesichtspunkte stärker in ihrer Entscheidung gewichten als eine zentrale Rating-Agentur. Auch das ist legitim und volkswirtschaftlich sinnvoll. Die zentrale Rating-Agentur wird im Unterschied dazu eine standardisierte Bewertung vornehmen, die auf lokale Gesichtspunkte nicht in diesem Ausmaß eingeht, ja nicht eingehen kann. Ihre informationstheoretische Entscheidungsgrundlage wird schlechter sein, ihr formal elaboriertes Beurteilungsmodell aber nicht notwendigerweise besser.
Es erheben sich also triftige Zweifel, ob Rating Agenturen das am besten geeignete institutionelle Modell für die Bonitätsbeurteilung von Unternehmen sind. Aber was ist mit der Beurteilung von souveränen Schuldnern, also Staaten, die ja der aktuelle Anlass für die Kritik waren? Hier sei an die Kritik vonseiten keynesianischer Ökonomen wie Joseph Stiglitz zu Ende der 1990er Jahren erinnert. Damals wurde den Rating-Agenturen vorgeworfen, dass diese die Ratings für die von einer schweren Finanzkrise getroffenen asiatischen Länder zu spät herabgestuft hätten. Damit wäre ein unerwünschter prozyklischer Effekt eingetreten, der die Krise in diesen Ländern noch vertieft hätte. In der aktuellen Krise wurde den Rating-Agenturen nunmehr vorgeworfen, die Ratings für Griechenland et al. zu früh herabgestuft zu haben, und damit die Krise mitausgelöst zu haben. Offenbar gilt: egal, ob zu früh oder zu spät, die Krise wird durch das Agieren von Rating-Agenturen verstärkt. Wäre also im Umkehrschluss die richtige Vorgangsweise gewesen, die Ratings auch während der Krise nicht zu ändern? In der Tat wäre das im Hinblick auf die Lösung der Krise vorteilhaft gewesen, weil dadurch die Refinanzierungskosten der Staatsschuld für Griechenland et al. beherrschbar geblieben wären. Den spekulativen Attacken auf den Staatsbankrott wäre damit zumindest kein zusätzlicher Auftrieb gegeben worden. Auch das Hilfspaket von EU und IWF wäre in diesem Umfang und versehen mit den bekannten scharfen Auflagen nicht notwendig gewesen.
Gerade im Fall souveräner Schuldner spricht daher viel dafür, die Einschätzung der Bonität nicht Rating-Agenturen anzuvertrauen. Diese haben keine verlässlichen Modelle, die es erlauben würden, die Zahlungsfähigkeit von Staaten solide einzuschätzen. Jede Aktion einer Rating-Agentur kann hier mehr Schaden als Nutzen stiften. Stuft sie, wie ausgeführt, das Rating eines Staates frühzeitig herunter, verschärft sie die Krise, stuft sie zu spät herunter, vertieft sie die Krise, ändert sie trotz Krise ihr Rating gar nicht, macht sie sich in den Augen der Gläubiger unglaubwürdig, und damit überflüssig.
Der Glaube an die Kompetenz von Rating-Agenturen, eine „objektive“ Beurteilung abzugeben, hat viele wirtschaftliche Akteure dazu verleitet, sich eine eigenständige Einschätzung zu ersparen. Blindes Vertrauen ist aber selten ein guter Ratgeber. Was ist daher zu tun? Die erstbeste Lösung läge schlicht in der Abschaffung von Rating-Agenturen. Sie richten mehr Schaden als Nutzen an. Diese Forderung ist angesichts der großen Macht von Rating Agenturen und der vorherrschenden Interessenkollusion mit den Banken wohl nicht realisierbar. Daher wird über zweitbeste Lösungen nachzudenken sein. Dafür müsste in einem ersten Schritt die Macht der Rating-Agenturen geschwächt werden, indem ein öffentlicher Bankensektor aufgebaut wird, der Kreditvergaben nach anderen Kriterien als der kurzfristigen Zahlungsfähigkeit vergibt (z.B. dem gesellschaftlichen Nutzen einer Investition), und damit auch schlecht gerateten Unternehmen einen Zugang zu Kapital eröffnet. In einem zweiten Schritt müssten die bestehenden Rating-Agenturen unter öffentliche Kontrolle gebracht werden. Ihre Bewertungsgrundlagen müssten transparent gemacht werden, gesellschaftliche Kontrolle sollte durch die Besetzung der Entscheidungs- und Aufsichtsgremien mit akademischen ExpertInnen, VertreterInnen von Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. KonsumentInnen-Organisationen) ausgeübt werden. Nur unter diesen Prämissen macht der Aufbau einer europäischen Rating-Agentur Sinn. Schließlich sollten kleine und mittlere Unternehmen mit stark regionalwirtschaftlichem Bezug von einer Verpflichtung zu einem Rating explizit ausgenommen werden. Die vom Basel II – Regelwerk vorgesehene Verpflichtung, dass Banken Kredite an Unternehmen, die nicht über ein Rating verfügen, mit mehr Eigenkapital unterlegen müssen, erscheint daher ebenfalls nicht sinnvoll.
Rating Agenturen in ihrer derzeitigen Form sind nichts anderes als Ideologieapparate. Sie produzieren kein „objektives“ Wissen über die Zahlungsfähigkeit von Schuldnern. Vielmehr reproduzieren sie Beurteilungen auf Basis theoretisch einseitiger, von der Öffentlichkeit nicht überprüfbarer Modelle. Damit determinieren sie, wer zu welchen Konditionen Zugang zu Kapital bekommt und wer nicht. Es wird Zeit, dass sich die Öffentlichkeit dies nicht mehr länger gefallen lässt.
Steuersenkungsbremse
Finanzminister Pröll will eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild, um die Staatsverschuldung in Europa einzudämmen. Das ist zwar reiner Populismus – in Deutschland sind noch nicht einmal die Konjunkturbereinigungsverfahren klar, nach denen die strukturelle Neuverschuldung berechnet werden soll – dennoch kann sich Pröll vermutlich breiter Zustimmung sicher sein. Vorurteile gegen Schulden im Allgemeinen und südeuropäische Haushaltsdisziplin im Speziellen werden dafür sorgen. Nur: Was heißt das eigentlich, Schuldenbremse? In erster Linie vermutlich, dass die Staatsfinanzen ausgabenseitig saniert werden sollen. In Deutschland hat der hessische Ministerpräsident Koch – der den Haushalt fit für die Schuldenbremse machen muss – auch schon gesagt, wie dies geschehen soll: Die Bildungsausgaben sollen zurückgefahren werden!
Erinnern wir uns doch mal kurz zurück: In den vergangenen Jahren sind europaweit die Steuern gesenkt worden – und zwar nicht für die normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber Unternehmen zahlten immer weniger Steuern, wer es sich leisten konnte gründete eine Privatstiftung, und das Bankgeheimnis hilft Steuerhinterziehern aus dem Ausland beim Parken des Schwarzgeldes. Die, auch auf Grund sinkender Besteuerung, steigenden Gewinne und die zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen führten zu gigantischen Massen anlagesuchenden Kapitals. Diese wurden durch eine zunehmende Privatisierung der Altersvorsorge noch ausgeweitet. So vagabundierten erhebliche Summen Spielgeld durch die internationalen Finanzcasinos. Immer weitere Deregulierungen folgten, kurzum: Paradiese für Zocker entstanden. Als das dann alles zusammenbrach war der Staat da und stützte die Banken. Natürlich, indem er Schulden aufnahm. Diese Schulden wiederum sind der Anlass für diverse Fonds, gegen einzelne Staaten zu spekulieren um so Milliarden auf Kosten der Allgemeinheit zu verdienen. Frau Merkel spielte sich als Madame Non auf, und das Problem Griechenland wuchs sich zu einem Problem Euro aus. Die Folge: Weitere Hilfspakete mit evtl. folgender weiterer gigantischer Staatsverschuldung. Was aber macht die Politik? Etwa Kreditausfallversicherungen zu verbieten, wenn es keine Kredite gibt? Die Finanzmärkte regulieren? Die Finanzierung der Krisenkosten über Vermögenssteuern, Finanztransaktionssteuern, Erbschaftssteuern, Unternehmenssteuern, Spitzensteuersätze vorantreiben und so die Staatsverschuldung reduzieren? Nein, Josef Pröll will eine Schuldenbremse. Anders formuliert: Josef Pröll will eine finanzmathematische Legitimation für den anstehenden Sozialabbau.
Natürlich, das schönrechnen des griechischen Haushaltes ist nicht zu tolerieren. Natürlich, eine sparsame Haushaltspolitik ist immer notwendig, die Mittel sollen und müssen gezielt – das heißt politisch gewollt – eingesetzt werden. Und ja: Staatsverschuldung ist in guten Zeiten auch abzubauen. Nur: Das wäre alles kein Problem, würde man nicht bei jeder Gelegenheit die Steuern für Unternehmen, Vermögende, Erben usw. senken oder abschaffen. Denn ein Haushalt lässt sich auch einnahmeseitig sanieren. Und es ist höchste Zeit, dass es eine Steuersenkungsbremse gibt. Die Steuern müssen hoch – und zwar dort, wo sie am meisten gesenkt wurden, also bei Unternehmen, bei Vermögenden, bei Erben großer Erbschaften, bei Spitzenverdienern. Dagegen aber sperrt sich Josef Pröll. Seine Politik zielt darauf ab, die Lasten der Krise auf die Schwächsten der Gesellschaft abzuwälzen – auf diejenigen, die auf einen starken Staat angewiesen sind. Dagegen gilt es sich zu wehren – und zwar bereits bei der scheinheiligen Debatte über eine Schuldenbremse.