Nieder mit Humboldt
Ich weiss, damit mache ich mir hier keine Freunde, aber: der Ökonom hat recht. Ich weiss, es wird nicht gern gelesen, aber: Österreichs Hochschulsystem ist eines der elitärsten, die es im internationalen Vergleich gibt. Ich weiss, es ist nicht opportun, aber: Ein Bildungssystem, das derart verantwortungslos mit ihren Ressourcen umgeht, ist so verrottet wie die Zustände, die jetzt zu recht angeklagt werden.
Ich würde mir gerade von der Linken in Österreich wünschen, dass sie sich doch langsam mal davon verabschiedet, sich vor den Karren der akademischen Eliten dieses Landes spannen zu lassen und stattdessen sozial gestaffelte Zugangskriterien für die höhere Bildung zu fordern beginnt. Und, bitte, bitte: Vergesst Humboldt und diesen ganzen bildungsbürgerlichen Quatsch!
80 Jahre ›Schwarzer Donnerstag‹ – John Kenneth Galbraith neu gelesen
Am Donnerstag, den 24. Oktober 1929 „wechselten 12.894.650 Anteile den Besitzer, die meisten zu einem Preis, der die Träume und Hoffnung der bisherigen Inhaber restlos Zerstörte“ (S. 136). Das schreibt John Kenneth Galbraith in seinem Buch Der Große Crash 1929. Ursachen, Verlauf, Folgen.* An diesem Tag – und nicht am ›Schwarzen Freitag‹ – gingen die Börsenkurse in New York am stärksten während des Börsencrashs 1929 zurück. Am kommenden Samstag jährt sich dieser Tag zum achtzigsten Mal. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise ist es lohnend, den Klassiker von Galbraith neu zu lesen.
Galbraith beschreibt in seinem Buch zunächst den Verlauf der Entwicklungen, die später zum Großen Crash führen sollten. Zwar ging es den Bauern bereits nach der Depression der Jahre 1920 und 1921 auf Grund der gesunkenen Agrarpreise schlecht, insgesamt waren die 1920er-Jahre aber eine gute Zeit für die USA. Die Produktivität erhöhte sich, die Beschäftigung war auf einem hohen Niveau, und Armut konnte zwar nicht gänzlich überwunden, aber ein gutes Stück zurückgedrängt werden (vgl. S. 34). Rückblickend stellt sich die Frage, ob die Zeiten nicht nur gut, sondern zu gut waren… Jedenfalls stiegen in der Folge die zu Beginn der 1920er-Jahre niedrigen Aktienkurse. Trotz einiger Rückschläge war die Richtung der Kurse eindeutig: Sie stiegen. „Bis Anfang 1928 mussten selbst äußerst konservativ eingestellte Leute glauben, dass die Aktienkurse sich sowohl den wachsenden Unternehmensgewinnen als auch den Aussichten auf weitere künftige Steigerungen anpassen würden. Auch die Phase des Friedens und die ruhigen Zeiten konnte man guten Gewissens einkalkulieren, ebenso die Sicherheit, dass die Regierung in Washington die Erträge nicht stärker als im notwendigen Maß besteuern würde. Anfang 1928 begann dann die Phase der Übertreibung: eine Massenflucht in die Scheinwelt […] nahm ernsthafte Formen an“ (S. 44). 1928 schließlich wurde Herbert Hoover als neuer US-Präsident gewählt. Er hatte zwar zuvor als Handelsminister und Präsident Coolidge versucht, den Markt unter Kontrolle zu bekommen, allerdings war seine kritische Haltung zur Entwicklung an der Börse wenig bekannt. Nach Hoovers Wahl gab es einen regelrechten Boom, am Tag nach der Wahl stiegen die Papiere um 5 bis 15 Prozent. Außer Hoovers Wahl war nichts passiert, was als Ursache für diesen Anstieg genannt werden könnte (S. 50).
Mit leichten Schwankungen ging es so weiter, wobei vor allem Termingeschäfte stark ausgeweitet wurden. Galbraith beschreibt, wie zunehmend Spekulationen ohne Eigentum einsetzten. Am Eigentum als solches waren Spekulanten nicht interessiert – sondern lediglich am Wertzuwachs. Daher wurden ein Mechanismus entwickelt, der das Spekulieren von den „Lasten des Eigentums befreit“ und über Kredite funktioniert (S. 51ff, Zitat S. 53). Damit war der Spekulation Tür und Tor geöffnet, und der Glaube, dass jeder gewinnen könne (und würde) tat sein übriges.
In der Folge gab es kein Halten mehr. Warnende Stimmen gab es wenige, und die, die es gab, wurden ignoriert oder denunziert als Menschen, die die gute Stimmung kaputtreden wollen. Ein bis heute berühmter Beschwichtiger der damaligen Zeit war Prof. Irving Fisher (bspw. S. 107). Auch andere Wissenschaftler und zahlreiche Medien gehörten zu den unkritischen Begleitern – und oft genug beteiligten Spekulanten – im Jahre 1929. Zweifel waren weder erlaubt noch erwünscht, und weitere Instrumente zur Ausweitung der Spekulationen wurden eingesetzt, insbesondere die Hebelkraft (Leverage) spielte eine immer größere Rolle (S. 93ff.), wie übrigens auch in der aktuellen Krise. Es wurden Trusts mit wohlklingenden Namen wie Shenandoah gegründet, die direkt überzeichnet waren und im Wert oft kräftig anstiegen – um nach dem Crash kaum noch etwas Wert zu sein.
Der Crash
Selbst als die Aktienkurse einbrachen gingen viele von einem temporären Knick aus. Ende Oktober 1929 gab es dann jedoch kein Halten mehr. Dazu Galbraith: „Was den Anstoß gab, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist es auch gar nicht wichtig, dass wir es wissen“ (S. 129). Bei den ersten Einbrüchen machte die Hoffnung einer „organisierten Unterstützung“ die Runde, die Lage spitzte sich dennoch mehr und mehr zu. Und am 24. Oktober gab es dann schlicht keine Käufer mehr für die Anteile, deren Werte daher ins Bodenlose stürzten (S. 136f.). Zwar versuchten große Banken mit einer organisierten Stützung des Marktes einzugreifen (S. 138ff.), was die Preise auch kurzfristig wieder zum Steigen brachte. Tatsächlich glaubten viele nach dem Schwarzen Donnerstag, dass man das Schlimmste überstanden habe. Allerding folgte am Dienstag, dem 29. Oktober „der verheerendste Tag in der Geschichte der New Yorker Börse“ (S. 150, das Buch von Galbraith erschien 1954!).
Galbraith beschreibt in seinem Buch detailliert die Tage Ende Oktober, die in die Geschichte als Großer Crash eingingen. Er räumt dabei auch mit einigen Legenden auf (etwa, dass es zahlreiche Selbstmorde in New York gegeben habe, S. 168f.). Er beschreibt die Hilflosigkeit der Akteure und die Aufdeckung von Unterschlagungen sowie die Pleite zahlreicher Unternehmen. Galbraith beschreibt ferner die schwierige Aufarbeitung der Krise. Vor allem aber: Er analysiert ihre Ursachen.
Die Ursachen
John Kenneth Galbraith benennt fünf Punkte als Ursachen für den Großen Crash und die folgende Weltwirtschaftskrise (S. 216ff.):
-
Die schlechte Einkommensverteilung: Die Einkommen waren 1929 besonders ungleich verteilt. Genaue Zahlen lägen für diese Zeit nicht vor, allerdings sei davon auszugehen, dass 5 Prozent der Bevölkerung mehr als 30 Prozent des Einkommens erzielten. „Aufgrund dieser höchst ungleichen Einkommensverteilung war die Wirtschaft von möglichst hohen Investitionen oder von einem möglichst hohen Verbrauch an Luxusgütern oder von beiden Faktoren gleichzeitig abhängig. Die Reichen konnten nicht Unmengen von Brot kaufen, um ihr Geld umzusetzen.“ Die Ausgaben der Reichen waren jedoch für die schlechten Nachrichten von der Börse besonders empfänglich. Mit Blick auf die aktuelle Krise hat Engelbert Stockhammer bereits im April die Frage gestellt: Was hat die Finanzkrise mit der Einkommensverteilung zu tun?
-
Die prekäre Struktur der Kapitalgesellschaften. Galbraith nennt eine „außergewöhnliche Anzahl von ausgebufften Geschäftemachern, Blendern und Schwindlern“ in den Direktionsbüros der Unternehmen. Zentraler Schwachpunkt – auch das erinnert an heute – waren die unüberschaubaren neuen Strukturen bei den Holdings und Trusts. Die Verschachtelungen waren so stark, dass ein Ausfall an einer Stelle oft gravierende Folgen hatte.
-
Die Labilität des Bankenwesens. Hierbei geht es Galbraith vor allem um die Kettenreaktion aus der Pleite einer Bank und dem Abzug der Einlagen bei anderen Banken (Bankenrun). Hierauf wurde nach der Krise mit der Einrichtung von Einlagesicherungssytemen reagiert. Aktuell muss das niederländische System nach der Pleite der DSB-Bank nach einem Bankenrun eingreifen.
-
Der desolate Zustand der Außenhandelsbilanz. Die Vereinigten Staaten waren nach dem ersten Weltkrieg der größte Gläubiger der Welt. Zudem bestand zunächst noch ein Handelsüberschuss, der diese Position weiter stärkte. Zwar war der Saldo zwischen Exporten und Importen nicht sonderlich groß, dennoch musste er abgedeckt werden. „Das Ausland konnte die Passivsalden gegenüber den Vereinigten Staaten nicht mehr oder nicht mehr lange mit erhöhten Goldüberweisungen bezahlen. Das hieß, es musste entweder seine Importe aus den USA zurückfahren oder alternativ mit seinen Darlehensverbindlichkeiten in Verzug geraten.“ Auch die unausgeglichene Leistungsbilanz, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, ist in der aktuellen Krise ein Thema. So setzen u.a. Österreich, vor allem aber Deutschland auf eine reine Exportstrategie (sinkende Reallöhne, sinkende Binnennachfrage aber gute Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten).
-
Der schlechte Zustand der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftswissenschaften. Galbraith nennt die Ideologie des ausgeglichen Haushalts (=Kontraktion der Nachfrage) und die Angst vor Inflation (=steigende Zinsen und Verteuerung von Geld), die eine vernünftige Geldpolitik verhinderte, obwohl das Land vor einer Deflation stand. Auch diese Debatten kennen wir von heute. Galbraith schrieb seinerzeit (S. 225): „Sowohl die aktive Fiskalpolitik – Besteuerung und Staatsausgaben – als auch eine vernünftige Geldpolitik zu unterlassen war das Gleiche, wie jegliche konstruktive Wirtschaftspolitik abzulehnen. Die Wirtschaftsexperten jener Tage besaßen genügend Einmütigkeit und Autorität, um die Führer beider Parteien zu veranlassen, alles, was Deflation und Depression hätte bekämpfen können, zu vermeiden […], ein Triumph der Schulweisheit über die Praxis. Die Folgen waren verheerend.“
Galbraith 2009
Natürlich waren Ursachen, Verlauf und Folgen 1929 andere als 2009, auch wenn heute noch nicht klar ist, wie die aktuelle Krise weitergeht. Erschreckend sind einige Parallelen aber schon, die Dogmatik der Ökonomie, die Einkommensverteilung usw. Es lohnt sicher daher unbedingt, sich eine der bekanntesten Interpretation der Weltwirtschaftskrise zu Gemüte zu führen – und John Kenneth Galbraith neu zu lesen.
* Alle Seitenangaben beziehen sich auf den unveränderten Nachdruck der 4. Auflage aus dem Jahr 2009. Das Buch erschien erstmals 1954.
4.11.09: Kritik in der Krise?! Kurswechsel Heftpräsentation
Kritik in der Krise?!
Positionierungen und Reflexionen einer Kritischen Sozialen Arbeit
Mittwoch, 4. November 2009, 18.30 – 21.00 Uhr
Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstr. 13, 1090 Wien
Volker Eick (FU Berlin), Fabian Kessl (Uni Duisburg), Susanne Maurer (Uni Marburg) und Nina Oelkers (Hochschule Vechta), AutorInnen des Kurswechsels 3/09, diskutieren gemeinsam mit BesucherInnen und den herausgebenden AutorInnen Josef Bakic, Marc Diebäcker, Elisabeth Hammer (FH Soziale Arbeit Wien, kriSo)
In Kooperation mit: Arbeiterkammer Wien, Renner Institut, Die Grüne Bildungswerkstatt, Gefördert durch: WienKultur
Organisation und Kontakt: Josef Bakic, Marc Diebäcker, Elisabeth Hammer (Verein kritische Soziale Arbeit)
Präsentation des Kurswechsel Heft 03/2009 „Kritische Soziale Arbeit“
In den Beiträgen von Josef Bakic, Ljubomir Bratic, Marc Diebäcker, Volker Eick, Elisabeth Hammer, Uwe Hirschfeld, Fabian Kessl, Susanne Maurer, Eva Nadai, Nina Oelkers und Martina Richter werden unterschiedliche Möglichkeiten des Einsatzes von Kritik in der Sozialen Arbeit vorgestellt. Die Leistungsfähigkeit Kritischer Sozialer Arbeit wird anhand wesentlicher professionstheoretischer Fragestellungen und ausgewählter Handlungsfelder aufgezeigt, womit ein Diskurs fortgesetzt wird, der in den letzten Jahren erste Konturen eines „Andersdenken“ sichtbar gemacht hat.
Private Pensionssysteme und die Finanzkrise
Die Vermögen, die international für die Altersvorsorge „angespart“ wurden, sind riesig. Die Pensionsfonds alleine (also ohne private Versicherungsverträge, Pensionsrückstellungen und Fonds von Finanzinstitutionen) hatten 2007 ein Vermögen von sage und schreibe 17.900.000.000.000 also fast 18 Billionen US Dollar. 57 Prozent davon lagen in den Pensionsfonds der USA. Im OECD-Schnitt sind damit über 75 Prozent des BIP in Pensionsfonds veranlagt. 2001 waren es 67 Prozent. Getrieben waren diese Ausweitungen von der Vorstellung immer höherer Renditen.
USA machten es vor, Europa folgte
Seit 2000 zieht Europa nach. Zwischen 2001 und 2007 stieg das in Pensionsfonds veranlagte Vermögen in Europa um 141 Prozent auf 4.300 Mrd US Dollar. Zum Vergleich: Das BIP stieg im gleichen Zeitraum um 32 Prozent. Spitzenreiter sind die Niederlande (fast 160 Prozent des BIP) vor Großbritannien (110 Prozent). Österreich, das auch ein starkes Wachstum der privaten Pensionsfonds in diesem Zeitraum aufwies, befindet sich mit rund 6 Prozent auf einem eher niederen Niveau.
Absturz und Verluste in der Krise
Der Trend in Richtung privater Pensionsvorsorge hat aufgrund der dadurch erzeugten „Kapitalmarktinflation“ die Finanzmärkte zusätzlich aufgebläht. Die versprochenen hohen Ertragsraten kapitalgedeckter Altersvorsorge haben die shareholder- Philosophie und die Kurzsichtigkeit der Finanzmärkte noch verstärkt. Die stetige Vergrößerung der Diskrepanz zwischen Börsenkursen und realen Werten baute ein enormes Absturzpotential auf.
Die massive Entwertung von Pensionsvermögen führt nun zu erheblichen Finanzierungslücken und bringt bei Leistungszusagen Unternehmen zusätzlich unter Druck. Leistungskürzungen und reduzierte Ertragserwartungen führen zu Nachfrageausfällen und verschärfen den wirtschaftlichen Abschwung. Die stark prozyklischen Effekte kapitalgedeckter Vorsorge in Krisenzeiten wirken zusätzlich destabilisierend.
Fünf Billionen Dollar vernichtet
In der gesamten OECD ist der Marktwert von privaten Pensionsansparplänen zwischen Dezember 2007 und Oktober 2008 um ca fünf Billionen Dollar gefallen (5.000.000.000.000 Dollar bzw 3,6 Billionen Euro – das entspricht 33 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der EU-27 Länder). In den USA haben selbst die Fonds, die ein relativ ausgewogenes Portfolio (rund 30 Prozent Aktienanteil) haben, im Durchschnitt 17 Prozent ihres Werts verloren.
Die Finanzkrise hat die kapitalgedeckten Pensionssysteme massiv getroffen. Die Verluste der privaten Pensionssysteme in den Jahren 2008 und 2009 sind enorm. In den USA wird gerechnet, dass die Verluste der Pensionsfonds fünf Jahre an Gewinnen ausradiert haben. Die österreichischen Pensionskassen haben im Durchschnitt 13 Prozent verloren. Im Jänner 2009 hat der Fachverband der österreichischen Pensionskassen bekannt gegeben, dass ca 42.000 der 63.000 BezieherInnen von Frmenpensionen mit Verlusten rechnen müssen. In etlichen Fällen kam es zu Kürzungen um 20 Prozent und mehr.
Die kritischen Variablen von Pensionssystemen
Demographie
Die demographische Entwicklung stellt alle Pensionssysteme vor Herausforderungen, Kapitaldeckungssysteme sind dabei nicht demographieresistenter. Wie mit der demographischen Entwicklung umgegangen wird, ist letztlich immer eine Frage der Verteilung des jeweils real erwirtschafteten Einkommens. Auch in kapitalgedeckten Systemen mit in Aktien, Anleihen und sonstigen Finanzprodukten veranlagten Pensionsvermögen kann immer nur das als Arbeits‑, Gewinn‑, Pensionseinkommen etc. verteilt werden, was auch tatsächlich real erwirtschaftet wird. Während öffentliche Umlagesysteme hierbei ein breites Risikopooling und einen breiten Lastenausgleich ermöglichen, erfolgt der „Ausgleich“ in den meisten kapitalgedeckten Systemen über die heftigen „Ups and Downs“ der Börsenkurse.
Wirtschaftswachstum
Jedes Pensionssystem hängt vom Wachstum der Realwirtschaft ab
Es gibt keine wunderbare Rentenvermehrung, jedes Pensionssystem ist von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig. Es geht dabei letztlich um die Realwirtschaft und nicht um virtuelle Erträge aus „fantasievollen“ Finanzprodukten. Während die Argumente für Wachstum fördernde Effekte kapitalgedeckter Systeme wenig überzeugen, werden die negativen Effekte auf das Wachstum durch deren prozyklische, destabilisierende Wirkung gerade in Krisenzeiten umso deutlicher. Demgegenüber gehen von öffentlichen, auch in der Krise die Kaufkraft erhaltenden Umlagesystemen wesentliche stabilisierende und damit Wachstum fördernde Effekte aus (automatische Stabilisatoren).
Jedes Pensionssystem hängt von der demographischen und der realwirtschaftlichen Entwicklung ab, kapitalgedeckte Systeme zusätzlich auch von den instabilen Finanzmärkten. Da das Risiko und die Schwankungen auf den Finanzmärkten sehr hoch sind, ist eine auch nur einigermaßen verlässliche Vorhersage der Höhe kapitalgedeckter Renten – über etwaige, zumeist sehr niedrige Garantiezinssätze hinaus (z.B. klassische Lebensversicherung) – nicht möglich. Die Pensionshöhe wird ganz entscheidend vom Zeitpunkt des Pensionsantritts und der dann jeweils vorherrschenden Lage am Finanzmarkt mitbestimmt. Abrupte drastische Kurseinbrüche können die Lebensplanung von Jahrzehnten innerhalb weniger Tage oder Wochen völlig auf den Kopf stellen. Hohe, oft völlig unrealistische Ertragserwartungen treiben das Risiko weiter in die Höhe und führen zu oftmals völlig unzureichenden Summen, die für die Pension angespart werden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Volatilität der Finanzmärkte seit Anfang der Neunziger Jahre stark zu genommen hat.
Jedes System verwendet die angesparten Mittel in der Gegenwart
Weder in einem umlagefinanzierten noch in einem kapitalgedeckten System bleibt das „angesparte“ Geld im Tresor liegen – es findet immer sofort wieder seinen Eingang in das Wirtschafts- und/oder Finanzsystem. So legt der Staat die einbezahlten Pensionsbeiträge nicht „unter den Kopfpolster“: Sie fließen in Form von Pensionen für die ältere Generation und sichern damit deren Teilhabechancen und ermöglichen Konsum.
Ebensowenig kommen die Pensionsbeiträge für kapitalgedeckte Systeme in ein Sparschwein. Sie fließen auf die Finanzmärkte, wo versucht wird höchstmögliche Renditen zu erzielen. Dieses Geld ist daher keineswegs „sicher“, wie gerade die Ereignisse der letzten Monate deutlich vor Augen geführt haben.
Wie stark der Zusammenhang zwischen den so der Wirtschaft zunächst entnommenen (über Beiträge bzw Spareinlagen) und dann wieder zurückfließenden Mitteln (über Pensionsleistungen) ist, ist aber stark systemabhängig und mit unterschiedlichsten Risken behaftet.
Im Umlageverfahren werden die Beiträge sofort wieder als Pensionen ausbezahlt und damit nachfragewirksam. In kapitalgedeckten Systemen gibt es zuerst eine Veranlagung auf den Finanzmärkten, die für sich noch keine Ausweitung der realen Investitionen, sondern mitunter nur ein Aufblähen der Börsenkurse bewirkt.
Finanzmarktrisken treffen vor allem kapitalgedeckte Systeme
Eine Wirtschaftskrise, wie die aktuell gegebene, ist aufgrund der allgemeinen Belastung der öffentlichen Haushalte und der problematischen Entwicklung auf den Arbeitsmärkten selbstverständlich auch für umlagefinanzierte Systeme eine finanzielle Belastung. Das Risiko aber, dass schlagartig Vermögen entwertet werden und somit die Alterssicherung nicht mehr ausreichend gegeben ist, gibt es nur in kapitalgedeckten Systemen.
In einem umlagefinanzierten System, wie dem österreichischen (Ausfallshaftung des Bundes), sind auch bei krisenbedingten Beitragsausfällen die Pensionsleistungen sichergestellt. Die damit einhergehende Finanzierungslücke erhöht zwar kurzfristig den erforderlichen Bundesbeitrag, deren Ausmaß ist aber nicht annähernd so hoch wie die, durch die Finanzkrise verusachten Fehlbeträge in kapitalgedeckten Systemen. Gleichzeitig gehen davon auch wesentliche konjunkturstabilisierende Effekte (automatische Stabilisatoren) aus. Während die Vermögensvernichtung bei kapitalgedeckten Systemen hingegen krisenverschärfend wirkt.
Auch Kostenabwägungen sprechen für umlagefinanzierte, öffentliche Systeme. Die Zurverfügungstellung adäquater Einkommen im Alter verursacht natürlich erhebliche Kosten und zwar unabhängig vom Finanzierungsverfahren. Öffentliche Umlageverfahren erweisen sich dabei aufgrund geringerer Verwaltungs- und Vertriebskosten sowie fehlender Vermögensverwaltungskosten und Gewinnzahlungen auch als effizienter als kapitalgedeckte private Systeme. Vermeintliche Kostenvorteile kapitalgedeckter Systeme resultieren aus viel eingeschränkteren Leistungsspektren (z.B. keine Abdeckung des Invaliditätsrisikos) und/oder (oft weit) überhöhten Renditeannahmen.
Langzeitberechnungen belegen: Die Finanzierung des österreichischen Umlageverfahren läuft nicht aus dem Ruder. Das österreichische Umlagesystem bleibt trotz massiver Verschiebungen in der Altersstruktur finanzierbar, die Kostenentwicklung läuft keineswegs aus dem Ruder. Trotz steigender Zahl der Älteren in der Gesellschaft wird es nur zu einem moderaten Anstieg beim Pensionsaufwand kommen.
Die Studie ist hier downloadbar.
Gut gemeint oder gut gewesen?
„Lassen wir die Konjunkturpakete wirken,“ ist das Standardzitat österreichischer PolitikerInnen, um einem dritten sozialen Paket eine Absage zu erteilen. Nur, wer weiß, WIE und WANN die Pakete wirken?
International haben alle Konjunkturpakete gemein, dass sie nicht evaluiert werden. Viele verschiedene Institutionen streiten sich um die Wirksamkeit von Millionen- und Milliardenbeträgen. Auch den österreichischen Paketen werden unterschiedlichste Effekte bescheinigt, je nach bewertender Organisation.
Diese Situation ist unbefriedigend. Und bedenkt man, dass in den letzten Jahren nicht nur aufgrund der Krise immer wieder Konjunkturpakete geschnürt wurden, verwundert es umso mehr, dass keine einheitliche nachträgliche Bewertung stattfindet.
Es braucht dringend eine ex-post Evaluierung von konjunkturbelebenden Maßnahmen, vorzugsweise im europäischen Vergleich. Der große Vorteil einer nachträglichen Evaluierung wäre die Tatsache, dass bereits getätigte und nicht bloß veranschlagte Ausgaben als Datengrundlage zur Verfügung stehen würden. So könnte gezeigt werden, ob und inwieweit Ausgaben für die Stabilisierung getätigt wurden, und was diese bewirkt haben.
Konjunkturpakete sollen nicht nur gut gemeint sein und ob ihrer bloßen Ankündigung Wirkung entfalten. Entscheidend sind Informationen, um zukünftige Maßnahmen zielgerichtet gestalten zu können, und deren Effekte dorthin zu lenken, wo diese notwendig sind.
Appell zur Reform der Ökonomie
Eine Appell zur Reform der Ökonomie, getragen von einer keynesianisch-institutionalistischen Allianz:
„Dear Colleague
The web plea/petition in support of the words below by Paul Krugman now has over 1300 signatures, the majority of which are qualified academics. Thank you to everyone who has given their support.
But only 3% of the signatories are undergraduate students. Please ask your students if they support this statement. (You may remind everyone that signing is free, and they can leave the website before making a donation.)
„Few economists saw our current crisis coming, but this predictive failure was the least of the field’s problems. More important was the profession’s blindness to the very possibility of catastrophic failures in a market economy … the economics profession went astray because economists, as a group, mistook beauty, clad in impressive-looking mathematics, for truth … economists fell back in love with the old, idealized vision of an economy in which rational individuals interact in perfect markets, this time gussied up with fancy equations … Unfortunately, this romanticized and sanitized vision of the economy led most economists to ignore all the things that can go wrong. They turned a blind eye to the limitations of human rationality that often lead to bubbles and busts; to the problems of institutions that run amok; to the imperfections of markets – especially financial markets – that can cause the economy’s operating system to undergo sudden, unpredictable crashes; and to the dangers created when regulators don’t believe in regulation. … When it comes to the all-too-human problem of recessions and depressions, economists need to abandon the neat but wrong solution of assuming that everyone is rational and markets work perfectly.“ (New York Times, September 2nd, 2009.)
SIGN „Revitalizing Economics After the Crash“
I think this is an important opportunity to make an impact – and help to change economics for the better. Progress on the petition will be announced to the international press in October.
Best wishes
Geoff Hodgson“
Ein Jahr danach
Beim Hören des Podcasts von Planet Money zum einjährigen Jubiläum der Krise (und zugleich des Podcasts selbst) sind einige interessante Beobachtungen zu machen. Zum Beispiel: wie schnell die Finanzmächtigen dieser Welt ihre Terminologie änderten; innerhalb weniger Tage wurden „melt down of the global financial system“, „systemic crisis“, „too big to fail“, und so weiter allgemein übliche Schlagworte. Und abgesehen davon, dass hier Panik vorherrschte, sieht man auch, wie schon an dieser Stelle die Rechtfertigung zur Stabilisierung eines Herrschaftsverhältnisses massenmedial ausstrahlte; die Macht dieses Herrschaftsverhältnisses zeigt sich eben gerade in der unhinterfragten Übernahme dieser neuen Terminologie.
Eine andere interessante Beobachtung ist aber auch, wie skeptisch diese Medien inzwischen geworden ist (nur ein Beispiel). Während alle ökonomischen Indikatoren darauf hinweisen, dass die Rezession ihrem Ende zugeht – zumindest wenn man sie so auslegt, wie man das vor dem 15.September 2008 zu tun pflegte –, und die Vertreter des internationalen Finanzkapitals ihr Selbstvertrauen wiedergewonnen haben, mögen es die Journalisten dieser Welt nicht so recht glauben. Natürlich sind die allgemeinen Rahmenbedingungen bei weitem schlechter als noch vor einem Jahr: selbst wenn die Rezession vorbei sein sollte, ist die Arbeitslosigkeitsrate in den Industrieländern stark gestiegen. Es gibt einen generellen Vorbehalt gegen die Finanzwelt: Wie wird sich das politisch niederschlagen?
OECD für öffentliche Beschäftigung und soziale Absicherung in der Krise
Unverdächtiger könnte der Zeuge nicht sein: Nachdem die OECD über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinweg der Deregulierung der Arbeitsmärkte das Wort geredet hat, werden in letzter Zeit die Töne etwas moderater und analytisch differenzierter.
Im heute (16. September 2009) veröffentlichten „Employment Outlook 2009“, einem Werk von immerhin 282 eng beschriebenen Seiten mit einer Unzahl an Daten, Fakten und Analysen zum Arbeitsmarktgeschehen, fordert das OECD-Sekretariat die Mitgliedstaaten u. a. auf zu überlegen, ob für bestimmte Problemgruppen, zumindest temporär und auf enge Zielgruppen focusiert, nicht öffentliche Beschäftigungsprojekte und eine engere soziale Absicherung wirkungsvolle Mittel in der Krise wären. Das ist ein neuer Ton!
Im zentralen Kapitel zur Krise wird davon ausgegangen, dass die Arbeitslosigkeit in der OECD bis Ende 2010 um 25 Mio. Personen gegenüber dem Tiefpunkt Ende 2007 zunehmen wird; das ist ein Anstieg um ca. 80%! Diese Zunahme ist bisher zwischen den Ländern sehr unterschiedlich ausgefallen – auf die näheren Gründe geht die OECD allerdings nicht ein; und er wird bis Ende nächsten Jahres sehr unterschiedliche Länderquoten mit sich bringen: ESP 19,8%, GER 11,8%, USA 10,1%, JAP und AUT 5,8%.
Die Konjunktur- und Stabilisierungsprogramme, die in ihrem Ausmaß sehr unterschiedlich ausgefallen sind (FRA und KOR bilden Minimum und Maximum, AUT liegt am unteren Ende), haben ihre beabsichtigten Wirkungen lt. OECD einigermaßen erfüllt.
Das Betroffenheitsmuster nach Sektoren, Alter, Ausbildung, Beruf, Geschlecht, etc. ist dem vorangegangener Krisen nicht unähnlich. In AUT fällt auf, dass Niedrigqualifizierte und Frauen bisher von der Krise nur durchschnittlich betroffen sind.
Für OECD-Verhältnisse ebenfalls interessant ist die Feststellung, dass zwar die Persistenz einer einmal gestiegenen Arbeitslosenquote sich durch die Strukturreformen der vergangen Jahre reduziert hat, allerdings auf Kosten einer höheren zyklischen Variabilität; d. h. hätte es weniger Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in der Vergangenheit gegeben, wäre der gegenwärtige Anstieg der Arbeitslosigkeit wohl geringer ausgefallen.
Wie eingangs erwähnt, legt die OECD für Personen mit hohem Langzeitarbeitslosigkeitsrisiko nahe, öffentliche Beschäftigungsprogramme anzubieten. Das war bisher stets verpönt. Aus österreichischer Sicht ist an dem Vorschlag interessant, dass Sozialökonomische Betriebe (SÖB), die hiesige Variante eines derartigen Programms, in mehreren Evaluierungen sehr positiv abgeschnitten haben (Wifo 2006, Lechner et. al. 2007, Hujer et. al. 2009).
Auch der zweite Denkanstoß der OECD sollte AUT eine Überlegung wert sein: Für all jene Gruppen am Arbeitsmarkt mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, die weniger abgesichert sind als die Kerngruppen mit langen Versicherungsepisoden, sollten die sozialen Sicherungsmaschen enger geflochten werden – zumindest temporär in der Krise. Dazu gehörten auch höhere Ersatzquoten am Beginn der Arbeitslosigkeit, weil hier das Absicherungsniveau in AUT im internationalen Vergleich niedrig ausfällt.
In einem weiteren Kapitel des „Employment Outlook“ wird die unorthodoxe Frage gestellt: „Is Work the best Antidote to Poverty?“
Alles in Allem ist der diesjährige Beschäftigungsausblick der OECD ein äußerst lesenswertes Dokument zum Verständnis der Arbeitsmarktvorgänge in der Krise.
Schopenhauer und die Tobin Tax
Durch die Antwort des für Steuern zuständigen EU-Kommissars László Kovács auf die Anfrage der österreichischen grünen EU-Abgeordneten Ulrike Lunacek scheint der Höhepunkt der Schopenhauer’schen zweiten Phase, die eine gute Idee durchläuft, erreicht worden zu sein: als Unsinn wird die Idee einer Finanztransaktionsbesteuerung nämlich nicht mehr abgetan, sondern auf das heftigste bekämpft. In der dritten Phase wird sie eingeführt. Dabei bedient sich Kovács erstaunlich oft gängiger Argumente. Das sollte diejenigen, die sich schon länger und gründlicher mit dem Thema auseinandersetzen, optimistisch stimmen.
Es ist, so wie meistens beim Thema Steuern, zu beobachten, dass auch bei der Finanztransaktionsbesteuerung ideologische Haltungen als politische, ökonomische und rechtliche Argumentationen getarnt daherkommen. Auch Stephan Schulmeister ordnet die pro- und contra-Argumente in der Diskussion um die Finanztransaktionssteuern unterschiedlichen Weltbildern zu, die jeweils von unterschiedlichen Annahmen über Erwartungsbildung und Verhalten auf Finanzmärkten ausgehen. (1) Demnach kann es soweit gehen, dass Spekulation einerseits als „ein unverzichtbares Element der Preisbildung“ gesehen wird, obwohl aus der Empirie hervorgeht, dass genau wegen einem Übermaß an kurzfristiger Spekulation sich die Aktien- und Wechselkurse oder die Rohstoffpreise von ihrem „natürlichen“ Gleichgewicht entfernen.
Folgerichtig wird von einer Seite die eindämpfende Wirkung einer noch so geringen Finanztransaktionssteuer gerade auf die kurzfristigen Spekulationen betont, und von der anderen Seite wird die Gefährdung der Liquidität der Märkte heraufbeschworen.
Auch Kovács bedient sich einer einseitigen ökonomischen Literatur, wenn er mit den oben geschilderten Argumenten gegen die Einführung einer Finanztransaktionssteuer eintritt. Zudem sind Kovács‘ Quellen veraltet und er lässt viele aktuelle Modelle außer Acht – u. a. das vom WIFO, das aber aus der Diskussion über die Finanztransaktionsbesteuerung nicht mehr wegzudenken ist.(2)
Kovács‘ Befürchtungen hinsichtlich des Schadens, der die Einführung der Finanztransaktionssteuer in der Realwirtschaft anrichten könnte, überzeugen einfach nicht mehr wie früher, weil man inzwischen den Schaden kennt, der durch die immer innovativer werdenden Finanzprodukte und durch die Spekulationen, die keine Entsprechung in der realen Wirtschaft haben, angerichtet wurde.
Diese total ablehnende Haltung gegenüber der Finanztransaktionssteuer zeugt zum Teil daher, dass diese als das Allheilmittel in der Finanzkrise präsentiert und somit ein bewusst falsches Bild geschaffen wird. Dem ist aber nicht so. Das Mittel der Besteuerung wäre nicht da, um die Finanzmarktaufsicht und ‑regulierung zu ersetzen, sondern um diese zu ergänzen. Dabei sollten diese Steuern die Kommission aus einem ganz anderen Grund sehr wohl interessieren: Das Aufkommen, das generiert werden könnte, könnte die Europäische Union gut gebrauchen – gerade in einer Phase, wo Gedanken darüber gemacht werden, wie das Budget reformiert werden könnte. Der Vorteil dabei ist auch, dass diese Steuern – im Gegensatz zu anderen Umsatzsteuern, die hauptsächlich regressive Wirkungen entwickeln – zu den progressiven Steuern gehören würden, ohne dass man beim Tarif allzu kreativ sein muss. Die ungleiche Verteilung des Wertpapierbesitzes müsste schon dafür sorgen.
Weiters bedient sich die Kommission rechtlicher Argumentationen. Allerdings ist auch dieses Gebiet – vor allem im EU-Kontext – nicht frei von Widersprüchen, und so stehen Richtlinien, die eine Finanztransaktionssteuer unterbinden, andere gegenüber, die eine Harmonisierung diverser anderer Steuern anstreben, sei es im Bereich der Mehrwertsteuer, sei es die Zinsbesteuerung, oder die Unternehmensbesteuerung. Einer Harmonisierung der in diversen europäischen Ländern bestehenden Besteuerungsformen auf den Verkehr bzw. Umsatz von Wertpapieren steht sich somit nur die Kommission selber im Weg.
So wie Ignacio Ramonet in seinem berühmten Le Monde-Artikel schon im Jahr 1997 schrieb: Es ist eine „Demütigung der Nationalstaaten“ – und zu heutiger Zeit würde man sagen, eine Demütigung auch der Europäischen Union – „als die maßgeblichen Garanten von Demokratie und Allgemeinwohl, dass sich die Finanzmärkte längst einen eigenen Staat geschaffen haben, einen supranationalen Staat, der über eigene Apparate, eigene Beziehungsflechte und eigene Handlungsmöglichkeiten verfügt.“ (3) Und das sollte Herrn Kovács, die Kommission und die Europäische Union Sorge bereiten und dazu anleiten, in die entgegengesetzte Richtung zu steuern. Nicht umgekehrt.
Anmerkungen
(1) Schulmeister, Stephan, Handelsdynamik und Preisschwankungen auf Finanzmärkten und das Stabilisierungspotential einer Finanztransaktionssteuer, WIFO Monatsberichte 8/2008, 608f.
(2) Schulmeister, St., Schratzenstaller, M., Picek, O., A General Financial Transaction Tax. Motives, Revenues, Feasibility and Effects, WIFO, Wien, 2008.
(3) Ramonet, Ignacio (1997) Die Märkte entschärfen. in: Le Monde diplomatique Nr.5406, 12.
Ist die Krise männlich?
Vor genau zehn Jahren warf sie endgültig das Handtuch. Brooksley Born, damals Vorsitzende der Commodity Futures Trading Commission, der für den Derivatehandel zuständigen US-amerikanischen Aufsichtsbehörde, hat einen langen von Anfang an aussichtslosen Kampf für die Regulierung der Kreditderivate verloren und legte schließlich ihre Vorsitzfunktion zurück. Alan Greenspan, neben Finanzminister James Rubin und Chefberater Lawrence Summers einer ihrer mächtigen Gegner, warf ihr nicht nur Inkompetenz vor, sondern ging einen Schritt weiter: Ihre Regulierungsvorschläge würden gar eine Finanzkrise auslösen. Vor wenigen Wochen erhielt Born eine große Auszeichnung der John‑F.-Kennedy-Bibliothek in Boston für ihren Mut. Hätte sie sich damals mit ihren scheinbar harmlosen Forderungen nach einer Clearingstelle und Beaufsichtigung des Kreditderivatehandels durchgesetzt, wären die Auswirkungen der Finanzkrise bei weitem nicht so dramatisch.
Das Beispiel einer Frau, die einen aussichtslosen Kampf für das Selbstverständliche führt, ist mehr als die von Wissenschaftern viel belächelte anekdotische Evidenz. Dieser Fall offenbart zahlreiche strukturelle Charakteristika der Finanzwelt, die darauf hindeuten, dass Finanzkrisen nicht bloß mit Regulierungsversagen, fehlender Moral oder makroökonomischen Ungleichgewichten zusammenhängen. Die Krise ist systemisch. Eine der systemischen Elemente ist das Fehlen von Frauen und deren Interessen in den regulatorischen Entscheidungsgremien. Die Finanzkrise ist männlich, aber nicht in dem simplen Sinne, wie er oft diskutiert wird, dass Finanzmarktakteure männlich sind. Letztere sind Getriebene, die unter ungeheurem Renditedruck ein laxes Regelwerk ausreizen, oder wie es John Maynard Keynes formuliert hat: „Es gibt nichts, was so verheerend ist, wie rationales Anlageverhalten in einer irrationalen Welt.“ Dass Frauen in diesem Regelwerk anders agieren würden oder können, ist fraglich, wenngleich empirische Untersuchungen gezeigt haben, dass Frauen weniger risikofreudig seien (Barber and Odean 2001) und daher – entgegen dem gängigen Vorurteil – stärker rational agierten, das Investitionsverhalten von Investoren männlichen Geschlechts hingegen von übertriebenem Selbstvertrauen gekennzeichnet sei, das in keiner Beziehung zur Fähigkeit dieser stehe. Irrationalität und ineffiziente, krisenanfällige Märkte seien die Folge.
Betrachtet man aber die Finanzkrise mit dem Blick einer historisch und legistisch interessierten ÖkonomIn, dann rücken sogenannte epistemische Netzwerke ins Blickfeld, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wesentlich dafür verantwortlich waren, dass sich neoliberale regulatorische Praktiken, die am besten mit dem Begriff der Selbstregulierung umschrieben werden können, weltweit ausgebreitet haben. An die Stelle des Staates traten staatlich-private Netzwerke: unabhängige Finanzmarktaufsichtsbehörden, Experten und auch Vertreter der Finanzindustrie. Es entstand eine Struktur, in der sich nationalstaatliche und internationale, halbstaatliche und private Netzwerke überlagern, und die, wie der Politikwissenschaftler Phil Cerny sagt, den im Mittelalter üblichen Herrschaftsformen nicht unähnlich ist. Diese epistemischen Netzwerke sind selbst-referenziell; sie sind immun gegen Kritik von außen, da sie sich ihr nicht stellen. Das überbordende Selbstvertrauen und die Legitimation, ein solches zu haben, bezieht man aus der Zugehörigkeit zur Denkschule der neoklassischen marktradikalen Ökonomie, ein von Männnern konstruiertes Gedankengebäude, das die letzten Jahrzehnte umfassende Gültigkeit beanspruchte und dies nach wie vor tut.
Frauen werden von diesen Netzwerken fern gehalten. Der Frauenanteil in den diversen Komitees liegt im Durchschnitt bei weit unter zehn Prozent (Schuberth und Young 2009). Die Entscheidungsträger sind fast ausschließlich männlich, Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen getroffen. Frauen sind hier ausgeschlossen, weil ihr Denken und Handeln der ökonomischen Rationalität nicht entsprechen würde, da sie wenig Verständnis dafür aufbrächten, so das Vorurteil, dass nur das zielstrebige und durch Regulierung ungestörte Verfolgen des Eigennutzens im rauen Wind des Wettbewerbs den Fortschritt für die Menschheit bringen würde. Frauen, die mitspielen wollen, müssen überzeugend dieses Vorurteil widerlegen, so wie überhaupt der reflexive Mitspieler das Äußerste ist, was geduldet wird. Sofern es den Frauen gelingt, in diese, Glaubensbruderschaften nicht unähnlichen, exklusiven Klubs vorzudringen, ist dies mit hohen Anpassungsleistungen verbunden, mit der Unterordnung unter die herrschenden Prinzipien des ökonomischen Mainstream.
Finanzmarktregulierung wird als technische Angelegenheit begriffen. Der Einsatz von quantitativen Modellen der Risikoabschätzung hat bei den Regulatoren eine Kontrollillusion erzeugt – mit den bekannten Folgen. Die Bedeutung der Finanzmarktregulierung geht allerdings weit über die Sicherung der Finanzmarktstabilität hinaus. Das angelsächsische Selbstregulierungssystem hat nicht nur die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds geführt, sondern unabhängig davon weitreichende gesellschaftspolitische Auswirkungen gehabt: unter dem Druck der Aktionärsinteressen wurde Risiko individualisiert, Pensionsvorsorge privatisiert und sozialstaatliche Leistungen zurückgedrängt. Dies ging einher mit fallenden Lohnquoten und Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Frauen sind von dieser Umgestaltung der Gesellschaft besonders betroffen: die Prekarisierung der Arbeitswelt trifft sie äußerst hart, die hohen geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede haben sich ausgeweitet, das Vermögen ist zwischen den Geschlechtern noch stärker ungleich verteilt. Klar ist aber auch, dass die Erhöhung der Staatsschulden bereits jetzt den Druck enorm verstärkt, bei den Sozial‑, Bildungs- und Gesundheitsausgaben einzusparen; der Verteilungskampf um knappe Budgetmittel wird intensiver; Frauen trifft das überproportional, da viele von ihnen Empfängerinnen sozialstaatlicher Transfers sind. Die nach überstandener Krise erforderliche Konsolidierung des Budgets wird den Druck in diese Richtung noch weiter erhöhen. Das „Zurückdrängen der Frauen an den Herd“, die Verrichtung unbezahlter Haus‑, Pflege- und Betreuungsarbeit wären die Folge.
Die Ausgestaltung des Finanzsystems hat massive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Frauen. Dass diese nach wie vor in finanzmarktregulatorisch wichtigen Entscheidungsgremien nicht vertreten sind, ist demokratiepolitisch nicht zu akzeptieren. Jene, die von wirtschaftspolitischen Maßnahmen betroffen sind, müssen auch mitentscheiden können.
In ihrer Dankesrede bei der Preisverleihung unternahm Brooksley Born den verzweifelten Versuch, an die Vernunft der Entscheidungsträger zu appellieren, die selbstverständlichen regulatorischen Schritte nun doch umzusetzen, ansonsten, so Born „werden wir in den kommenden Jahren von den Folgen unseres Scheiterns verfolgt werden“. Da nicht diejenigen scheitern, die die Krise verursacht haben, geht dieser Appell ins Leere.
Literatur
Barber, Brad M. and Terrance Odean (2001), Boys will be Boys: Gender, Overeconfidence and Common Stock Investment, in: Quarterly Journal of Economics. 116(1): 261–292.
Schuberth, H: and B. Young, Financial Market Regulation and Gender (2009), in: Young Brigitte and Diane Elson (Hrsg.), Global Financial Governance and Gender: Key Issues and Policy Rules. Routledge, (forthcoming 2009).