Neu: Kurswechsel 4/09: „State(s) of Workfare“
Workfare: Does it work? Is it fair? Der Begriff Workfare verweist auf einen tiefgreifenden Wandel des Staates, der eine strategische Neuausrichtung seiner sozialpolitischen Instrumente gemäß den Vorgaben deregulierter Arbeitsmärkte und ausgeglichener Staatshaushalte mit sich bringt. Das neue Kurswechsel- Heft geht diesen Veränderungen mit Fokus auf die Politikfelder der Sozialhilfe- und Arbeitsmarktpolitik nach und arbeitet seine sozialen Implikationen heraus.
Mit Beiträgen von Roland Atzmüller, Hans-Jürgen Bieling, Christian Brütt, Nikolaus Dimmel, Marcel Fink, Britta Grell, Markus Griesser und Bettina Leibetseder.
Außerhalb des Schwerpunkts in diesem Heft eine aktuelle Debatte zum Thema Sparen und Managerialismus im öffentlichen Bereich. Mit Beiträgen von Florentine Maier, Johannes Leitner, Michael Meyer, Reinhard Millner, Bruno Rossmann, Christa Schlager
Demokratisierung und aufkommende Postdemokratie
Beitrag[1] von Bernhard Leubolt [2]
Die aktuelle Transformation der Demokratie um das Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Globalisierung ist Leitthema dieses Beitrags. Dafür wird erst die Entstehungsgeschichte der demokratischen Idee kurz umrissen, um davon ausgehend idealtypisch Dimensionen demokratischer Entwicklung zu skizzieren. Der hier präsentierte Idealtypus geht in dreierlei Hinsicht über konventionelle Sichtweisen hinaus, die Demokratie auf Wahl- und Eigentumsrecht reduzieren: (1) Auf Prozessebene wird die Ergänzung repräsentativer Demokratie durch direkte und partizipative Formen vorgeschlagen; [3] auf inhaltlicher Ebene werden sowohl (2) soziale als auch (3) Wirtschaftsdemokratie als notwendige Ergänzungen thematisiert. Tabelle 1 skizziert dieses breite Verständnis von Demokratie, das im anschließenden Kapitel näher dargestellt wird. Auf dieser Grundlage wird die Entwicklung der Demokratie ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt. Besonders herausgestellt werden dabei Debatten um das Aufkommen von „Postdemokratie“.
Tabelle: Dimensionen von Demokratie[4]
Prozess | Inhalt | |
---|---|---|
Bereich | Politisch | Sozio-ökonomisch |
Worüber? | Regelsetzung | Resultats-orientiert |
Ideal | Freiheit | Gleichheit und Gerechtigkeit |
Wie? | Teilhabe an politischen Entscheidungen Staatsmacht: bürokratisch / öffentlich / privat Partizipation |
Zugang zu Ressourcen Soziale und ökonomische Rechte: universell oder partiell („Treffsicherheit“) |
Formen | Direkt, repräsentativ, partizipativ | Wohlfahrtsstaat, betriebliche Demokratie |
Demokratie – Begriffsbestimmung und Geschichte
Der Begriff „Demokratie“ kommt aus dem antiken Griechenland und schließt die Begriffe Volk (démos) und Herrschaft (kratía) ein. Der Begriff hatte jedoch damals nicht unbedingt eine positive Konnotation, sondern war vielmehr „ein parteilicher Terminus, der von den oberen Klassen geprägt wurde, um die ‚Übermacht’ (krátos) der Besitzlosen (démos) zu bezeichnen, wenn ‚Demokratie’ herrscht“, wie Canfora in seiner „kurzen Geschichte der Demokratie“ anmerkt. [5] Demokratie wurde mit Chaos gleichgesetzt, das eintrete, wenn die ungebildeten Massen die Macht übernehmen. Daher distanzierte sich insbesondere Plato von dieser Herrschaftsform.[6] In der „Wiege der Politik“ Athen etablierte sich in weitere Folge dann auch eine Herrschaftsform, die diese Kritik berücksichtigte. Nicht-versklavte männliche Bürger (teilweise auch bloß Krieger) fällten politische Entscheidungen. Schon in dieser Zeit war Staatsbürgerschaft (im Stadtstaat) Voraussetzung zur Teilnahme an den kollektiven Entscheidungen. Außerdem musste das Einkommen groß genug sein, um Steuern zu entrichten und auch Wehrdienst musste geleistet werden. Alle Frauen und die Mehrheit der Männer blieben somit ausgeschlossen. Daher kann Demokratie in ihren klassischen Ursprüngen im antiken Griechenland mit Canfora als „Gemeinschaft bewaffneter Männer“ [7] bezeichnet werden.
Die dahinter stehende gesellschaftliche Tradition setzt sich seither weitestgehend durch. Mit Rancière gesprochen, „gibt es [in den Augen der Mächtigen bzw. der ‚Oligarchie’] nur eine gute Demokratie, diejenige, die die Katastrophe demokratischer Zivilisation verhindert“ [8]. Nach Rancière war es stets die gesellschaftliche Minderheit einer „Oligarchie“, die ihre über Herkunft, Reichtum und Bildung erreichten Privilegien nicht an die Massen bzw. „den Pöbel“ abgeben wollte.
In der weiteren geschichtlichen Entwicklung zeigte sich dann auch, dass die ersten „demokratischen Rechte“ liberale Grundrechte zum Schutz des Individuums vor staatlichen Eingriffen waren. Die aufkommende bürgerliche Öffentlichkeit [9], die sich in den Salons und Kaffeehäusern formierte, verlangte nach Schutz vor staatlicher Willkür. Wichtigstes bürgerliches Anliegen war jedoch auch in dieser Zeit schon der Schutz ihres privaten Eigentums und der familiären Privatsphäre vor staatlichen oder fremden Einflüssen. Diese Entwicklung ging einher mit der zunehmenden Etablierung kapitalistischer Vergesellschaftung. [10] In der Rechtsgeschichte schlägt sie sich in der frühen Etablierung des Eigentumsrechts als erstem verbrieften Recht nieder. Die in diesem Zusammenhang garantierte Freiheit wird in der Philosophie als „negative Freiheit“ bezeichnet, die nach Isaiah Berlin [11] einen Zustand bezeichnet, in dem keine von anderen Menschen oder Organisationen ausgehenden Zwänge individuelles Verhalten erschweren oder verhindern.
Positive Freiheit impliziert hingegen die Möglichkeit, die negative Freiheit von fremden Einflüssen auch dahin gehend zu nutzen, das eigene Leben zu gestalten. „No taxation without representation“ war diesbezüglich die Forderung, mit der sich die britische Bourgeoisie gegenüber den Adeligen durchsetzen konnte. Auch die französische Revolution war von ähnlichen Gedanken getragen. In diesem Fall stützte sich die bürgerliche Bewegung jedoch gleichzeitig auch auf die große Mehrheit der Bevölkerung wie die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aufzeigt. Nach der Niederschlagung von JakobinerInnen und Sansculottes um Robespierre setzte sich aber auch hier das Besitzbürgertum durch. Das Wahlrecht war dann – wie in England – von Klassenzugehörigkeit, Bildungsstand und Geschlecht abhängig. Analog zum antiken Griechenland wurden die Vorrechte der patriarchalen Oligarchie also auch im Zuge der bürgerlichen Revolution kaum beeinträchtigt. [12]
Demokratisierung im 20. Jahrhundert
Mit wenigen Ausnahmen wurde das allgemeine Wahlrecht erst im 20. Jahrhundert etabliert und das auch oft bloß etappenweise. Das Frauenwahlrecht folgte dabei meist zuletzt, was die patriarchale Trennung zwischen den Männern vorbehaltener „Öffentlichkeit“ und den Frauen zugeschriebener „Privatheit“ im Familienhaushalt wiederspiegelt. Während Frauen Fürsorgearbeit im Privathaushalt zugeschrieben wird, sind Männer in den Bereichen von Lohnarbeit und Politik präsent.
Hinter der Erreichung des allgemeinen Wahlrechts standen massive gesellschaftliche Kämpfe. In Europa war die ArbeiterInnenbewegung – in weiten Teilen repräsentiert durch sozialistische oder sozialdemokratische Parteien – zentrale Protagonistin für diesen demokratischen Wandel, der vor allem in den Zeiten nach den Weltkriegen stattfand. Die propagierte Vorstellung von Demokratie umfasste jedoch nicht bloß politische, sondern auch soziale Rechte. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf Arbeitsrechte gelegt, aber auch die Demokratisierung der Arbeitswelt wurde diskutiert. Während des Zusammenbruchs der Monarchie arbeitete z.B. die österreichische Sozialdemokratie unter Otto Bauer darauf hin, demokratische Strukturen betrieblicher Selbstverwaltung zu initiieren, was in den Bestimmungen zu den Betriebsräten Einzug in die österreichische Verfassung gefunden hat. Tendenzen zur Etablierung von sozio-ökonomischer Demokratie wurden jedoch auch in dieser Phase von konservativen und liberalen Kräften abgeschwächt oder verhindert.[13]
Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte dann eine neue Dynamik ein: die Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten in Europa. In dieser Zeit war ein antifaschistischer Grundkonsens die Basis für die Beteiligung von sozialistischen und kommunistischen Parteien in verfassungsgebenden Versammlungen.[14] Die resultierenden Verfassungen enthielten weitgehendere Arbeitsrechte als je zuvor. Ökonomisch setzte sich das Modell des Keynesianismus bzw. „Fordismus“ durch, das auf Massenproduktion für den Massenkonsum innerhalb der Nationalstaaten abzielte. Henry Fords Losung, dass „seine Arbeiter sich seine Autos leisten können müssen“, wurde Programm. Korporatistische Arrangements nahmen „sozialpartnerschaftliche“ Formen an – Gewerkschaften bekamen somit eine aktive Rolle bei der Formulierung von Politik. Frauen blieben dabei weitgehend ausgeschlossen, da sowohl Staat als auch korporatistische Organisationen von Männerbünden[15] dominiert wurden.
Sozialpolitik – ursprünglich von Bismark zur Schwächung der ArbeiterInnenbewegung eingeführt – wurde stark ausgebaut. Der britische Soziologe T.H. Marshall sprach von der Etablierung von „sozialer Staatsbürgerschaft“ (social citizenship).[16] Durch die Gewährung von politischen und sozialen Rechten würden Klassenunterschiede langsam verschwinden und stattdessen würden sich gleiche StaatsbürgerInnen gegenübertreten. Die Universalisierung von öffentlichen Dienstleistungen – insbesondere von sozialpolitischen wie Bildungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung – war dafür essenzielle Grundlage. Gesetzlich garantierte soziale Rechte, die eingeklagt werden konnten, stellten einen großen Unterschied zur vorher gegebenen Abhängigkeit von Almosen gutmütiger reicher Menschen dar. Idealtypisch kann daher die Entwicklung der Demokratie in Europa mit der schrittweisen Einführung bzw. dem Erkämpfen von liberalen Grundrechten (civil rights), politischen Rechten und sozialen Rechten verstanden werden.[17]
Die als Ergebnis des „demokratischen Klassenkampfes“[19] etablierten staatlichen Sozialleistungen griffen auch in polit-ökonomische Prozesse ein. Der Prozess der Kommodifizierung, d.h. des „zur Ware werdens“ bzw. der Inwertsetzung von Arbeitsprodukten, wurde in manchen Bereichen rückgängig gemacht – z.B. musste dann für den Besuch von Schulen oder Krankenhäusern kein individueller Preis mehr bezahlt werden. In der Literatur wird der entsprechende Prozess als „De-Kommodifizierung“ bezeichnet, wodurch „Anti-Wert“ entstehen konnte.[20] Durch steuerlich finanzierte staatliche Leistungen wurden einige Bereiche der Profitlogik entzogen, was positive Auswirkungen auf die BürgerInnen hatte, die soziale Rechte gültig machen konnten:
„Indem er Armut, Arbeitslosigkeit und totaler Lohnabhängigkeit ein Ende setzt, steigert der Wohlfahrtsstaat politische Ressourcen und verringert zugleich jene sozialen Spaltungen, die die politische Einheit der Arbeiterschaft gefährden.“[21]
Gleichzeitig begünstigte die De-Kommodifizierung auch die wirtschaftliche Entwicklung. Die staatliche Bereitstellung sozialer Dienstleistungen begünstigt in vielfacher Weise der Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft. Staatliche Bildung kann betriebliche Weiterbildung teilweise ersetzen, staatliche Gesundheitsversorgung verringert krankheitsbedingte Arbeitsausfälle, usw. Auch Geschlechterverhältnisse können durch Prozesse der De-Kommodifizierung beeinflusst werden. Die vorhin erwähnte Trennung in „Privatheit“ und „Öffentlichkeit“ im Arbeitsleben kann durch staatliche Angebote von Fürsorgearbeit (Care) wie Kinder– und Altenbetreuung dahingehend beeinflusst werden, dass Frauen am Arbeitsleben teilnehmen. Der damit einhergehende Prozess von Kommodifizierung ist ein doppelter: (1) Die neu entstehenden Arbeitsplätze werden größtenteils von Frauen ausgeübt und (2) eröffnet die staatliche Übernahme der Fürsorgearbeit Frauen die Möglichkeit zur Lohnarbeit. Esping-Andersen bezeichnet diese Prozesse als De-Familiarisierung,[22] die in erster Linie in den sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien eingetreten ist. In den liberalen sowie den konservativen Wohlfahrtsstaaten Mittel– und Südeuropas ist Sozialpolitik hingegen noch stärker familiarisiert.[23] Während in liberalen Wohlfahrtsstaaten und in Südeuropa der Grad der De-Kommodifizierung relativ gering ist, wurde in Zentraleuropa trotz De-Kommodifizierung relativ wenig de-familiarisiert. Das Modell des männlichen Familienernährers wurde hier in der Zeit der dynamischen Entwicklung der Sozialpolitik kaum angetastet. Anders als in Skandinavien wurde in den 1960er und 1970er Jahren von staatlicher Seite nicht versucht, den staatlichen Bedarf an Arbeitsplätzen durch die Integration von Frauen in die Lohnarbeit zu decken. Vielmehr wurde hier auf männliche „Gastarbeiter“ gesetzt.[24] Die staatlich forcierten Migrationsprozesse führten gleichzeitig auch Probleme vor Augen, die mit der Koppelung von sozialen Rechten an Staatsbürgerschaft verbunden sind. Prozesse der Überausbeutung migrantischer Arbeitskraft waren auch erste Ansatzpunkte zur Aufkündigung des fordistischen Wohlfahrtsstaats, der auf der kontinuierlichen Ausweitung des Massenkonsums basierte.[25]
Die Welle der Demokratisierung erfasste bis in die 1970er Jahre immer weitere Bereiche. In Österreich wurde unter Kreisky – im Rahmen der korporatistischen Tradition – beispielsweise auch das Bildungswesen für die Beteiligung von betroffenen Gruppen geöffnet. Sozio-ökonomische Demokratisierung ging dabei mit politischer Demokratisierung einher, da gleichzeitig der Zugang verbreitert und die Beteiligten an Entscheidungen beteiligt wurden. Die schon erwähnten Problematik der dominierenden Männerbünde setzte sich aber auch in dieser Phase fort. Der deutsche Ungleichheitsforscher Kreckel führt dies vor allem darauf zurück, dass der (in Österreich und Deutschland dominante) Korporatismus an der männlich dominierten Erwerbsarbeit anknüpfte und Frauen daher automatisch ausschloss.[26]
Die zunehmende Bürokratisierung kann als weiteres Problem betrachtet werden. Auf der einen Seite helfen bürokratische Prozeduren zwar, persönliche Herrschaftsformen einzudämmen, da gleiche Regeln für alle zu gelten haben.[27] Gleichzeitig ist die Bürokratie auch ein hierarchisches System, das dazu tendiert, sich vom gesellschaftlichen Leben abzukoppeln. Staatlich erbrachte Dienstleistungen wurden daher vielfach nicht als öffentliche (d.h. tatsächlich gesellschaftlich und demokratisch) Leistungen identifiziert – weder seitens der NutzerInnen noch seitens der BeamtInnen. Neben dieser Problematik zeigte sich schon im „goldenen Zeitalter“ der sozio-ökonomischen Demokratisierung im Fordismus, dass die Verbreiterung des Zugangs teilweise zu Qualitätsverlusten führte. Die Phänomene von „Massenkultur“ und der dadurch bedingte Strukturwandel der Öffentlichkeit wurden besonders von Vertretern der Frankfurter Schule (v.a. Habermas, Adorno, Horkheimer) ausgearbeitet. So schreiben Horkheimer und Adorno[28] schon 1944:
„Die Abschaffung des Bildungsprivilegs durch Ausverkauf leitet die Massen nicht in die Bereiche, die man ihnen ehedem vorenthielt, sondern dient, unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, gerade dem Zerfall der Bildung, dem Fortschritt der barbarischen Beziehungslosigkeit.“
Die in der „Dialektik der Aufklärung“ enthaltene Kritik am Verlust der kritischen Bildung, die ursprünglich dazu gedient hatte, das gesellschaftliche Establishment auf ihre Führungsrollen in Politik und Wirtschaft vorzubereiten, um dann von Massen (aus)bildung abgelöst zu werden, deren Hauptaufgabe die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt war, wurde von Habermas noch breiter auf die Gesellschaft bezogen. Die kritische bürgerliche Öffentlichkeit wurde durch eine durch kommerzielle Interessen „vermachtete“ Öffentlichkeit der Massenkultur und –gesellschaft abgelöst.[29] In Bezug auf die Transformation der Demokratie hatte Agnoli[30] ähnliche Gedanken: Er radikalisierte die bürgerlich-aufklärerische Kritik der Frankfurter Schule dahingehend, die Kontinuität der Prozesse der gesellschaftlichen Absonderung der Herrschenden aufzuzeigen. In der sich etablierenden Massengesellschaft entwickelte sich ein Typus der Massen– bzw. Staatspartei, die einen starken „Zug zur politischen Mitte“ aufweist. Dafür ist es notwendig, dass sich Parteien weg von ihren Mitgliedern entwickelten, was meist über Bürokratisierung geschah. An die Stelle gesellschaftlicher Auseinandersetzung tritt dann die Auseinandersetzung um Kompetenz in der Verwaltung von „Sachzwängen“:
„Die politische Partei des Verfassungsstaates – dort, wo sie sich am vollsten ausgebildet hat – wirkt in letzter Instanz als Klassenorgan der Konservativen, weil sie keine Klassen mehr zu kennen vorgibt, sondern nur noch ‚Menschen’. In ihr herrschen beim Entscheidungsprozess nicht der Drang und der Druck existenter Bevölkerungsgruppen, sondern der ‚Sachzwang’.“[31]
Schon in der Phase des fordistischen Wohlfahrtsstaats zeigten sich also erste Anzeichen des Prozesses, der in der aktuellen Debatte als „postdemokratisch“ beschrieben wird.
Neoliberaler Autoritarismus und Postdemokratie
In den 1980er Jahren wurden der keynesianisch-fordistische Nachkriegskonsens vom Neoliberalismus verdrängt. David Harvey[32] zeigt auf, dass es sich dabei um ein Projekt der Wiederherstellung der Macht der herrschenden Klassen handelte. In materieller Hinsicht zeigt sich das deutlich in Einkommens– und Vermögensverteilung. Nicht nur die (im Gini-Koeffizienten gemessene) personelle Einkommensverteilung, sondern auch die funktionale Verteilung zwischen Kapital und Arbeit verändern sich beständig zu Gunsten der Reichsten. Die größten Verlierer sind dabei auf den ersten Blick die männlichen Brotverdiener von einst, die aufgrund von Reallohneinbußen oft nicht mehr alleine ihre Familien ernähren können. Auf Frauen wirken die Umstrukturierungen klassenselektiv:[33] Generell üben jetzt mehr Frauen Erwerbsarbeit aus. In den ärmeren Familien wird die Lohneinbuße des ehemaligen Familienernährers meist durch Teilzeitarbeit der Frauen ausgeglichen, deren Arbeitsbelastung im Haushalt jedoch nicht gleichzeitig sinkt. Reichere DoppelverdienerInnen-Familien hingegen leisten sich zunehmend Haushälterinnen. Meist von Migrantinnen ausgeführte Haushaltsarbeit wird dann zwar bezahlt, führt aber auch zur Ausweitung des Niedriglohnsegments.
Diese soziale Entdemokratisierung wird verschärft durch Tendenzen zur Privatisierung, da der Zugang zu sozialer Infrastruktur dann stärker durch finanzielle Möglichkeiten geprägt wird. Auch die Umstrukturierung der Sozialpolitik im Sinn von „workfare“ statt „welfare“[34] wie z.B. mittels der Hartz IV Gesetze in Deutschland trägt zur autoritären Wende bei, da „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ an den Zwang gekoppelt wird, Erwerbsarbeit nachzugehen – auch unter sehr schlechten Arbeitsbedingungen. Die sozio-ökonomische Komponente wird auch durch Umstrukturierungen des Arbeitsregimes verändert. Die „Flexibilisierung“ (d.h. der Abbau) arbeitsrechtlicher Standards geht einher mit der Erosion korporatistischer Mechanismen der „Sozialpartnerschaft“. An deren Stelle treten jedoch nicht offenere Formen von Mitbestimmung, sondern Kombinationen aus Zielvorgaben des oberen Managements (mittels Indikatoren usw.) und autonome Teamstrukturen unter den ArbeitnehmerInnen, die frei sind in der Wahl der Mittel zur eigenen Ausbeutung.[35]
Auch auf Prozessebene geht die Tendenz in Richtung Demokratieabbau, was als „Postdemokratie“ (Crouch) bzw. „post-politische“ Entwicklung (Mouffe, Rancière) bezeichnet wird. Zentrale Elemente sind hier (1) das Verschwimmen der Grenzen zwischen Unternehmen und Staat und (2) die Ablösung von interessensbasierter Politik durch „objektive“ Behandlung von „Sachzwängen“ durch ExpertInnen. Crouch[36] betont besonders die Dominanz des „globalen Unternehmens“: Die mit dem Prozess der „Globalisierung“[37] zusammenhängende steigende Mobilität des Kapitals erhöht dessen Druckpotential gegenüber nationalen Regierungen. Auch institutionelle Umstrukturierungen der Staaten fördern diesen Prozess: Einerseits führt der Fokus auf „Public – Private Partnerships“ (PPPs) dazu, dass der Staat in vielen konkreten Projekten direkt mit Unternehmen zusammenarbeitet. Transparenz und Rechenschaft, die in klassisch bürokratischen Prozessen wichtig waren, gehen dabei ebenso verloren wie die Möglichkeit von gewählten VertreterInnen, eigenständig Entscheidungen zu treffen.[38] Andererseits wird auch staatliches Handeln selbst in Reformprozessen des „New Public Management“ nach dem Vorbild der unternehmerischen Organisation „verbetriebswirtschaftlicht“. Das Ergebnis bezeichnen die renommierten Governance-Forscher Peters und Pierre[39] als „Faust’schen Tausch“ von kurzfristiger Effizienz zu Lasten von Demokratie.
Im politischen Prozess werden die von Agnoli schon für den Fordismus skizzierten Tendenzen zur De-Politisierung weiter radikalisiert. Politik wird in diesem Sinne nicht mehr als Aufeinanderprallen von entgegengesetzten Interessen betrieben, sondern als objektives Lösen von Problemen unter der Last der „Sachzwänge der Globalisierung“. Auf Akteursebene betrifft das vor allem ehemals linke Parteien, die sich auch selbst umstrukturieren: Um den „Zug zur Mitte“ vollziehen zu können, werden Entscheidungskompetenzen auf wenige führende Köpfe zentralisiert und der Parteiapparat dabei bürokratisiert. Die Staatsapparate selbst werden ähnlich umstrukturiert: strategische Entscheidungen werden zunehmend weniger in Parlamenten getroffen, sondern durch Exekutive und Judikative (letzteres v.a. in der EU), wirtschaftliche Apparate wie Finanzministerium und Zentralbank werden gegenüber anderen Apparaten gestärkt. Einiges wird auch auf „Expertengremien“ ausgelagert, die als objektiv präsentiert werden.[40] Rancière sieht darin die Demokratiefeindlichkeit der „Oligarchie“ des gesellschaftlichen Establishments, die ihre „natürliche Überlegenheit“ aufgrund von Herkunft und Bildung nicht an „den Pöbel“ abgeben wollen.[41] Als Reaktion of die sogenannte Politikverdrossenheit im postdemokratischen Zeitalter gibt es teilweise Partizipationsprojekte auf lokaler Ebene. Meistens betreffen diese Projekte jedoch bloß Mikrostrukuren (z.B. partizipative Parkgestaltung) während strategisch zentrale Entscheidungen (z.B. EU-Reformvertrag, aktive Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs) in entpolitisierten und meist auch intransparenten Räumen stattfinden. Vielerorts sind die einzigen Parteien, die sich dem postdemokratischen Konsens entgegenstellen, neofaschistisch, während Parteien des linken Spektrums sich zur politischen Mitte hin als Staatsparteien zu etablieren versuchen.
Fazit
Das hier skizzierte Konzept von Demokratie ist breit angelegt als politisch und sozio-ökonomisch sowie prozesshaft, d.h. die Prozesse von Demokratisierung und Ent-Demokratisierung stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Zentrales Moment bei diesen Prozessen ist das Verhältnis der „Oligarchie“ zur „Masse des Volkes“. Im Lauf der Geschichte zeigte sich, dass die „Oligarchie“ stets Bemühungen zeigte, sich vom Rest abzuschotten und zu verhindern, dass „der ungebildete Pöbel“ Entscheidungen trifft. Nach der Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer kurzen Welle der Demokratisierung. Im Zuge der neoliberalen Transformationen verstärkten sich dann Tendenzen zur Ent-Demokratisierung, die in aktuellen Debatten als „postdemokratisch“ bezeichnet werden. Im Zuge dessen werden sozio-ökonomische Rechte abgebaut und entsprechende Entscheidungen als „ökonomische Sachzwänge der Globalisierung“ de-politisiert. Wenn diese Entwicklungen die Parteien des linken Spektrums erfassen, sind es oft bloß neofaschistische Parteien, die sich gegen den postdemokratischen Konsens stellen. Um mögliche Neofaschismen zu verhindern, gilt es, progressive Konzepte von Re-Politisierung und Demokratisierung zu entwickeln, die an der Dynamik der Nachkriegszeit anknüpfen und in Bezug auf Geschlechterverhältnisse und Staatsbürgerschaft neue Ansätze zu finden, um den Prozess der Demokratisierung weiter voranzutreiben.
Literatur
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Fußnoten
[1] Dieser Beitrag wird im Frühjahr 2010 in einer Publikation der GBW zum Themenbereich „Globalisierung – Gerechtigkeit – Demokratie“ im Planet-Verlag erscheinen.
[2] Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung im Rahmen des Kollegs „Global Social Policies and Governance“ (http://www.social-globalization.uni-kassel.de/); Redaktionsmitglied des „Journal für Entwicklungspolitik“ (http://www.mattersburgerkreis.at/jep/); Vorstandsmitglied des BEIGEWUM.
[3] Die Kombination von repräsentativer, direkter und partizipativer Demokratie wird hier jedoch nicht weiter vertieft. Vgl. dazu: Bernhard Leubolt, Andreas Novy und Barbara Beinstein: Governance and Democracy – KATARSIS Survey Paper, in: Cahiers du Centre de recherche sur les innovations sociales (CRISES), Collection Études théoriques, H. ET0908 (2009) http://www.crises.uqam.ca/cahiers/ET0908.pdf (Stand: 17-11-2009).
[4] Andreas Novy und Bernhard Leubolt: Scale-Sensitive Socioeconomic Democratisation, auf der „RSA-conference: Understanding and Shaping Regions: Spatial, Social and Economic Futures“ Konferenz präsentiertes paper, Leuven, 6–8 April 2009, S. 4, http://www.regional-studies-assoc.ac.uk/events/2009/apr-leuven/papers/Novy.pdf (Stand: 26.11.2009).
[5] Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union, Köln: PapyRossa 2006, S. 35f.
[6] Neben Canforas Buch vgl. auch: Jacques Rancière: Hatred of Democracy, London: Verso 2009.
[7] Canfora (Anm. 3), S. 35.
[8] Rancière (Anm. 4), S. 4; Übers. BL.
[9] Vgl.: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt: Suhrkamp 1990.
[10] Eine ausgezeichnete Beschreibung der historischen Entstehung des Kapitalismus findet sich bei: Jürgen Kromphardt: Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 4. Aufl. 2004.
[11] Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty (1958) http://www.nyu.edu/projects/nissenbaum/papers/twoconcepts.pdf (Stand: 23-11-2009).
[12] Neben Canforas Buch (Anm. 3) gibt auch „Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon“ von Karl Marx (MEW 8, Berlin: Dietz; bzw.: http://www.ml-werke.de/marxengels/me08_115.htm) interessante Einblicke in die Geschichte der französischen Revolution.
[13] Zu den austro-marxistischen Konzeptionen vgl.: Otto Bauer: Der Weg zum Sozialismus, Werkausgabe, Wien: Europaverlag 1976. In einem anderen Beitrag beziehe ich mich ausführlicher darauf: Bernhard Leubolt: Krise der Demokratie und mögliche Alternativen, http://www.beigewum.at/2009/11/krise-der-demokratie-und-mogliche-alternativen/ (Stand: 26.11.2009)
[14] Vgl.: Canfora (Anm. 3).
[15] Vgl.: Eva Kreisky: Das ewig Männerbündische? Zur Standardform von Staat und Politik, Hg. Claus Leggewie, Wozu Politikwissenschaft? Über das Neue in der Politik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.
[16] Vgl.: Thomas Humphrey Marshall: Citizenship and Social Class, and other Essays, Cambridge: Cambridge University Press 1950.
[17] Vgl.: Guillermo O’Donnell: Human Development, Human Rights, and Democracy, Hg. Guillermo O’Donnell, Jorge Vargas Cullell und Osvaldo M. Iazzetta, The Quality of Democracy: Theory and Applications, Notre Dame: University of Notre Dame Press 2004.
[18] Eigene Darstellung nach: Ebd.
[19] Der Begriff stammt von Korpi, der damit auf die klassen-basierten institutionellen Kämpfe von sozialdemokratischen,sozialistischen und/oder kommunistischen Parteien hinwies, die zur Etablierung von sozialpolitischen Arrangements führten. Vgl.: Walter Korpi: The Democratic Class Struggle, London: Routledge 1983
[20] Der Begriff der De-Kommodifizierung geht auf Esping-Andersen zurück; vgl.: Gøsta Esping-Andersen: The three worlds of welfare capitalism, Cambridge: Polity Press 1990Gøsta Esping-Andersen: Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, Hg. Stephan Lessenich und llona Ostner, Welten des Wohlfahrtskapitalismus: Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt: Campus 1998.
Der brasilianische Soziologe Oliveira beschrieb die Entwicklung mit Hilfe der Marx’schen Kategorien zur Kritik der politischen Ökonomie als „Aufkommen des Anti-Werts“; vgl.: Francisco de Oliveira: O Surgimento do Antivalor. Capital, Força de Trabalho e Fundo Público, In: Novos Estudos 9 (1988), H. 22.
[21] Esping-Andersen: Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, S. 23.
[22] Gøsta Esping-Andersen: Social Foundations of Postindustrial Economies, Oxford: Oxford University Press 1999.
[23] Esping-Andersen unterscheidet sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten (Skandinavien) von liberalen (z.B. Großbritannien, USA) und konservativ-korporatistischen (z.B. Deutschland, Frankreich, Österreich). Aufgrund des deutlich geringeren Grades der De-Kommodifizierung und der damit verbundenen Auslagerung von Sozialpolitik auf Familien wird Südeuropas Sozialmodell oft als familienbasiert bezeichnet; vgl. z.B.: Alberta Andreottiu.a.: Does a Southern European Model Exist?, In: Journal of Contemporary European Studies 9 (2001), H. 1.
[24] Vgl.: Evelyne Huber und John D. Stephens: Development and Crisis of the Welfare State: Parties and Policies in Global Markets, Chicago: The University of Chicago Press 2001.
[25] Vgl.: Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten Hamburg: Argument, 2. Aufl. 1998.
[26] Reinhard Kreckel: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt: Campus, 3. Aufl. 2004
[27] Das grundlegende Werk zur Bürokratie ist: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Aufl. 1980; zur Kritik vgl.: Jan Rehmann: Max Weber: Modernisierung als passive Revolution. Kontextstudien zu Politik, Philosophie und Religion im Übergang zum Fordismus, Hamburg: Argument 1998.
[28] Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt: Fischer, 14. Aufl. 2003, S. 169.
[29] Habermas (Anm. 7).
[30] Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften, Hamburg: Konkret Literatur Verlag 2004.
[31] Ebd., S. 41.
[32] David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich: Rotpunktverlag 2007.
[33] Vgl.: Jörg Nowak: Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft: Eine Integration marxistischer und feministischer Staatstheorien, Münster: Westfälisches Dampfboot 2009.
[34] Vgl.: Jamie Peck: Workfare States, New York: Guilford Publications 2001.
[35] Vgl.: Klaus Dörre und Bernd Röttger, Hg.: Das neue Marktregime. Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, Hamburg: VSA 2003.
[36] Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt: Suhrkamp 2008.
[37] Entgegen dem Diskurs um „Sachzwänge der Globalisierung“ bestehen auf nationalstaatlicher jedoch eigentlich noch größere Handlungsspielräume. Ein Indiz dafür sind die nationalstaatlichen Reaktionen auf die aktuelle Weltwirtschaftskrise.
[38] In Arbeiten „Governance“ wird das besonders deutlich. Vgl.: Leubolt, Novy und Beinstein (Anm. 1)
[39] B. Guy Peters und Jon Pierre: Multi-level Governance and Democracy: A Faustian Bargain?, Hg. Ian Bache und Matthew Flinders, Multi-level Governance, Oxford: Oxford University Press 2004.
[40] Vgl. die Debatte zu Postdemokratie: Crouch; Chantal Mouffe: On the Political, London: Routledge 2006; mit etwas anderem Blickwinkel vgl. auch: John Kannankulam: Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus: Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas, Hamburg: VSA 2008.
[41] Rancière (Anm.4).
Was es mir wert ist.
Finanzminister Pröll will die Österreichische Nationalbank verstaatlichen. Ich kann nur vermuten, die hier versammelten WirtschaftswissenschaftlerInnen stimmen diesem Schritt voll inhaltlich zu. Von mir nur ein Hinweis auf eine semantische Irritation. In der Ankündigung, die restlichen, nicht-staatlichen Anteile der ÖNB für die Republik aufkaufen zu wollen, hat Pröll heute gesagt:
„50 Millionen – das ist es mir wert.“
Ich will ja nicht kleinlich erscheinen. Aber, wirklich: wie kann ein Finanzminister – wie kann irgend jemand, der über öffentliche Gelder verfügt – sich so eine Aussage erlauben? Dass es ihm das wert ist? Im Sinne von: Das genehmige ich mir? Statt vielleicht darauf hinzuweisen, dass es den staatlichen Interessen entsprechen würde, einen solchen Schritt zu setzen? Statt den Satz etwa so zu formulieren: „50 Millionen – das ist die Sache wert.“ – ?
Wie geschrieben, eine semantische Irritation. Aber vom Gestus schon auffällig. Wie nennen wir das: gelebten Josefinismus?
Jörg Huffschmid (1940-2009)
Der BEIGEWUM trauert um Prof. Dr. Jörg Huffschmid, der am letzten vergangenen Samstag (5.12.2009) nach schwerer Krankheit viel zu früh aus dem Leben schied. Als einem der führenden deutschsprachigen politischen Ökonomen der letzten vier Jahrzehnte verbanden den BEIGEWUM und viele seiner Mitglieder mit Jörg Huffschmid eine lange Reihe von persönlichen und institutionellen Kontakten und Kooperationen. Mehr noch: Jörg Huffschmid war ein leuchtender Fixstern am intellektuellen Firmament vieler kritischer Sozial- und WirtschaftswissenschafterInnen, die sich im BEIGEWUM engagierten.
Das persönliche Ethos von Jörg Huffschmid war von dem intensiven Bestreben getragen, kritische Wissenschaft in den Dienst fortschrittlicher Politik zu stellen. Dieses Ziel hat er nicht nur mit zahlreichen wissenschaftlichen Analysen und Publikationen aktiv verfolgt, sondern auch durch praktische organisatorische Tätigkeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik.
Obgleich er in den Anfängen seiner wissenschaftlich-politischen Tätigkeit mit der Gründung der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ im Jahr 1975 und den seit 1977 jährlich erscheinenden Jahresgutachten (Memoranden) noch einen Schwerpunkt auf die Bundesrepublik Deutschland gelegt hattelegte, hatte die Arbeit der Memorandum-Gruppe schon damals für den BEIGEWUM Vorbildcharakter. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren kam es auch zu ersten Kontakten zwischen der Memorandum Gruppe und dem BEIGEWUM. In den 1990er Jahren erweiterte Jörg Huffschmid den geographischen Radius seiner Interessen und Aktivitäten auf die europäische Ebene. Als Gründer der Arbeitsgruppe für eine andere Wirtschaftspolitik für Europa (EuroMemorandum-Gruppe) im Jahr 1995 und Hauptautor des jährlich erscheinenden Euro-Memorandums leistete Jörg Huffschmid Pionierarbeit im Aufbau einer kritischen ökonomischen und politischen Auseinandersetzung mit der europäischen Integration. Ebenso wies er schon frühzeitig und nachdrücklich auf die Gefahren eines außer Kontrolle geratenden Finanzsektors und die verfehlte Konstruktion der europäischen Finanzmarktintegration hin. Huffschmids Bestreben war es dabei immer, progressive Alternativen zur herrschenden Wirtschafts-und Sozialpolitik in der EU aufzuzeigen. Er formulierte dabei einen solitären und erst mit der Zeit auf breitere Resonanz stoßenden Gegenstandpunkt zum zunehmend neoliberal überformten Integrationsmodell. Aufgrund dieser stark in den Vordergrund tretenden europäischen Dimension im Wirken von Jörg Huffschmid intensivierte sich in den letzten Jahren auch die Zusammenarbeit mit dem BEIGEWUM. Huffschmid war mit Attac Österreich, der Arbeiterkammer und dem BEIGEWUM aktiv in die Organisation der ersten Alternativen ECOFIN-Konferenz in Wien im April 2006 eingebunden. Seine führende Mitwirkung an den alternativen ECOFIN-Konferenz in den Folgejahren, wie auch zahlreicher europäischer Forschungsaktivitäten und Veranstaltungen, verdeutlichten uns die Notwendigkeit, konsequent an der Vernetzung von kritischer Wissenschaft und Öffentlichkeit in den Staaten der Europäischen Union zu arbeiten.
Im Rückblick erscheint es uns als Geschenk, dass Jörg Huffschmid im Frühjahr 2009 für mehrere Monate als Gastprofessor am Institut für Politikwissenschaften in Wien weilte. Dadurch konnten wir ihm bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen und privaten Treffen nochmals begegnen, und von seiner analytischen Schärfe und seinem politischen Weitblick profitieren.
Jörg Huffschmid war als Mensch liebenswürdig und völlig unprätentiös. Mit seinem Tod verlieren wir deshalb nicht nur einen großen Wissenschafter, sondern wir trauern auch um den Menschen Jörg Huffschmid.
Vorstand des BEIGEWUM
Weitere Nachrufe zum Tode von Jörg Huffschmid:
Nachruf von Rudolf Hickel
Heinz‑J. Bontrup in der Frankfurter Rundschau
Heinz‑J. Bontrup im Neuen Deutschland
Nachruf von Axel Troost
Nachruf von Rainer Rilling bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Seite von ATTAC Österreich zu Hiffschmid
http://www-user.uni-bremen.de/~huffschm/
Krise der Demokratie und mögliche Alternativen
Krise der Demokratie und mögliche Alternativen*
Bernhard Leubolt**
Die Weltwirtschaftskrise wird als Teil von multiplen systemischen Krisen verstanden, wobei die Demokratiekrise und mögliche Strategien zu deren Bewältigung im Mittelpunkt stehen.
Multiple Krisen – aufkommende „Post-Demokratie
Die aktuelle Weltwirtschaftskrise ist zwar seit den 1920er/30er Jahren die schwerste, aber auch bei weitem nicht die erste Finanzkrise der jüngeren Vergangenheit. Die europäischen Regierungen reagierten weitgehend mit Verstaatlichung der privaten Verluste – insbesondere mittels der „Bankenrettungspakete“ – „auf Pump“. Die dadurch ausufernden Budgetdefizite werden wohl Grundlage für Fiskalkrisen der Staaten abliefern. Ähnlich wie unter Reagans Regierung wo das mittels unproportionaler Anhebungen des Rüstungsbudgets geschah, wird diese „Politik der leeren Staatskassen“ in weiterer Folge zum „Sachzwang Budgetkonsolidierung“ führen. Somit besteht dann eine neue Argumentationsgrundlage für weitere Kürzungen der Sozialausgaben, die als unfinanzierbar dargestellt werden können. Die Wirtschaftskrise wird somit aller Voraussicht nach – im Gefolge von steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Sozialausgaben – eine mehr oder weniger schwere soziale Krise nach sich ziehen.
Diese sozialen und ökonomischen Krisen werden von weiteren Krisen begleitet: Nicht zuletzt der Klimawandel zeigt eine profunde und strukturelle Umweltkrise auf. Begleitet werden diese Krisen außerdem von einer über die letzten Jahren aufkommende Demokratie-Krise. Obwohl Demokratie auf globaler Ebene formal ihren Durchbruch erreicht zu haben scheint, sind Phänomene wie Politikverdrossenheit an der Tagesordnung – insbesondere in Ländern, die als „konsolidierte Demokratien“ galten. Der britische Politikwissenschafter Colin Crouch brachte die diesbezügliche Debatte in seinem 2003 in Italien erschienenen Buch auf den Punkt – es handle sich um „Post-Demokratie“:
„Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen ab-gehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. […] Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (Crouch 2008, S. 10)
Der dem kritischen Mainstream zurechenbare Crouch geht in diesem Zusammenhang von einer Degeneration der Demokratie aus, die sich insbesondere durch die Orientierung auf die politische Mitte und angeblich objektive Problemlösungen mittels „Expertengremien“ auszeichnet. Seine Kollegin Chantal Mouffe (2006) warnt in diesem Zusammenhang vor der Entpolitisierung, die einerseits Interessen verschleiert und dadurch den Interessen mächtiger Minderheiten zu Gute kommt und andererseits das Wiederaufkommen des Faschismus bzw. der extremen Rechten ermöglicht. Letztere bleibt vielerorts im politischen Spektrum als einzige Kraft bestehen, die glaubhaft Alternativen vertritt, die sich jenseits des „post-politischen“ Konsens befinden.
Demokratisierung von Staat und Budget
Alternativen zur Post-Demokratie gehen unweigerlich mit Politisierung einher. Gesellschaftlich relevante Entscheidungen sollten demnach demokratisch entschieden werden statt an „Expertengremien“ delegiert zu werden. Vordergründig betrifft das Entscheidungen im Alltag. Die feministische Forderung „das Private öffentlich zu machen“ und somit also zu privatisieren kann diesbezüglich auf viele Bereiche umgelegt werden.
Das betrifft einerseits den Staat selbst. Die gebräuchliche Formulierung des „öffentlichen Sektors“ ist diesbezüglich dahingehend zu überprüfen, in wie fern staatliche Politik auch de facto öffentlich gemacht wird. Hier gibt es auf lokaler Ebene positive Tendenzen zur Etablierung von Partizipationsprojekten. Lokale Partizipation gilt dabei oftmals als „Allheil-mittel“ gegen Politikverdrossenheit und mögliche Proteste der von den politischen Entscheidungen betroffenen Gruppen. Die positive Konnotation von Partizipation ist jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Meistens handelt es sich dabei bloß um Befragungen und nicht um effektive Mitbestimmung. Außerdem betrifft Partizipation nahezu immer gesellschaftlich relativ marginale Themen auf der Mikro-Ebene wie z.B. Parkgestaltung. Dabei ist die Gefahr der Instrumentalisierung hoch: Aktuell wäre eine partielle Einbindung im Rahmen eines „partizipatives Sparpakets“ vorstellbar, um „Sparzwänge“ zu legitimieren. Das führt die Wichtigkeit der Politisierung strategisch zentraler Politikbereiche vor Augen. Hier müssen in der Zivilgesellschaft diese Bereiche erst identifiziert werden, um dann Druck zu deren Demokratisierung aufbauen zu können.
Ein Feld, das sich dafür aktuell besonders gut eignen würde, ist die Budgetpolitik. Diesbezüglich gibt es das praktische Beispiel aus Porto Alegre, wo die Bevölkerung über viele Jahre hinweg effektiv Entscheidungskompetenz im Hinblick auf staatliche Ausgaben bekam. Forderungen an den Lokalstaat – etwa nach Straßen oder Kindergärten – wurden von den betreffenden Gruppen öffentlich in Sitzungen eingebracht und in weiterer Folge auch öffentlich beschlossen oder abgelehnt. Der Staat wurde also ansatzweise „veröffentlicht“ (näher dazu: Leubolt 2006) und gleichzeitig fungierte das Partizipative Budget auch für teilnehmende BürgerInnen als „Schule der Demokratie“ wie folgende Aussage einer Teilnehmerin zeigt:
„Sogar ich habe nur an meine Straße gedacht, als ich zum Partizipativen Budget gekommen bin. Aber ich habe andere Personen und Gemeinschaften getroffen und habe viel größere Probleme kennen gelernt. Was ich als Riesenproblem gesehen habe, war nichts im Vergleich zur Situation anderer Personen. Keine Wohnung zu haben, unter einem Tuch zu schlafen oder die Frage der Abwässer unter freiem Himmel, wo Kinder spielen und laufen. Ich vergaß meine Straße, sodass sie sogar bis heute nicht asphaltiert ist.“ (Roselaine; in: Leubolt 2006, S.74f.)
Dass ärmere TeilnehmerInnen – insbesondere Frauen – überdurchschnittlich stark vertreten waren, lag auch stark daran, dass Partizipation nicht bloß kleine Projekte, sondern das gesamte Budget betraf. Die aufgewendete Zeit zahlte sich für die teilnehmenden Menschen aus, da sie Entscheidungen treffen konnten, die von besonderer Relevanz waren. Lobbying war in Porto Alegre nicht mehr privatisiert – wegweisende Entscheidungen nicht bloß zwischen PolitikerInnen und „wichtigen Menschen“ in Vier-Augen-Gesprächen gefällt. Vielmehr fand öffentliches Lobbying um staatliche Geldvergabe statt und einige TeilnehmerInnen entwickelten wie Roselaine einen neuen sozialen Geist: Im Aufeinander-prallen von persönlichen Bedürfnissen konnte zumindest teilweise das „ich“ zum „wir“ und somit eine „Schule der Demokratie“ etabliert werden.
Demokratisierung der Arbeitswelt
Die betriebliche Realität stellt für die meisten einen wenig diskutierten undemokratischen Raum dar. Mit dem Eintritt an den Arbeitsplatz wird gleichzeitig die Möglichkeit zur Mitbestimmung an Vorgesetzte abgegeben. Außerhalb Lateinamerikas wurde dieser Umstand in den letzten Jahren wenig diskutiert. Dabei kamen wichtige Impulse für die Debatte vom öster-reichischen Sozialdemokraten Otto Bauer, der in seinem Werk „Der Weg zum Sozialismus“ schon 1919 ausführte:
„Wenn die Regierung alle möglichen Betriebe beherrschte, dann würde sie dem Volk und er Volksvertretung gegenüber allzu mächtig; solche Steigerung der Macht der Regierung wäre der Demokratie gefährlich. Und zugleich würde die Regierung die vergesellschaftete Industrie schlecht verwalten; niemand verwaltet Industriebetriebe schlechter als der Staat. Deshalb haben wir Sozialdemokraten nie die Verstaatlichung, immer nur die Vergesellschaftung der Industrie gefordert.“ (Bauer 1976 [1919],S.96; Herv.B.L.)
Relikte des Ansatzes der Sozialisierung finden sich heute noch in den Bestimmungen zu Be-triebsräten in der österreichischen Verfassung: Die nicht ganz zur Geltung kommende Idee dahinter war, dass Betriebe mit zunehmender Größe vergesellschaftet werden sollten – der Betriebsrat sollte dabei als demokratisches Organ des Managements dienen, als Basis für die kollektive Selbstverwaltung der ArbeiterInnen. Das weitere demokratische Konzept sah vor, über Betriebsräte, KonsumentInnen-Räte und staatlichen VertreterInnen die unter-nehmerischen Entscheidungen zu treffen und somit eine Art „basisdemokratische SozialpartnerInnenschaft“ mit eingeschränktem Mitspracherecht der KapitalistInnen zu schaffen.
In Zeiten der Weltwirtschaftskrise würde sich somit eine Perspektive für staatlich „zu rettende Betriebe“ wie z.B. die Austrian Airlines auftun: Der staatlichen Subventionierung großer Konzerne wie Lufthansa oder Magna könnte die Forderung nach Errichtung eines öffentlichen Betriebes mit demokratischen Bestimmungsrechten für Belegschaft und Gesellschaft entgegengestellt werden.
Konkret wird die Perspektive der Demokratisierung der Arbeitswelt besonders innerhalb der Bewegung solidarischer Ökonomie wieder diskutiert (vgl. z.B. www.solidarische-oekonomie.at; Altvater/Sekler 2006). Dabei geht es meistens noch um Bewegungen, die in erster Linie jenseits oder gegen den Staat agieren und dabei versuchen auf lokaler Ebene Konzepte zur Demokratisierung der Arbeitswelt zu verwirklichen. Der Bezug auf einen zu veröffentlichenden Staat könnte hier in zweierlei Hinsicht Impulse geben: Einerseits kann mit Hilfe staatlicher Gelder das Bestehen im Konkurrenzkampf erleichtert werden, um Problemen wie möglicher „Selbstausbeutung“ begegnen zu können; andererseits könnten solidar-ökonomisch geführte Betriebe auch als „Schulen der Demokratie“ wirken, die Impulse zur Veröffentlichung und Vergesellschaftung von Staat und Wirtschaft geben.
Fazit: Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
Die hier vertretene Perspektive der Demokratisierung setzt an der Alltagswelt an. Das schließt natürlich auch die Familie bzw. den Haushalt als ursprünglichen Hort des Privaten mit ein. Im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit und innerfamilärer Demokratie sind dabei viele Prozesse involviert, die hier nicht gesondert behandelt wurden. Die zentralen Bezüge dieses Beitrags waren im Hinblick auf das Aufkommen einer post-demokratischen Gesellschaft alternative Zugänge in Form der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vorzustellen. Das impliziert auch, nicht jegliche Verstaatlichung bzw. Einsatz staatlicher Mittel positiv zu sehen. Vielmehr gilt es, beständig demokratische Meinungsbildung einzufordern und somit Staat und Öffentlichkeit begrifflich voneinander zu unterscheiden. Dabei kann ein wahrhaft öffentlicher Sektor als konkrete Utopie dienen. Das schließt auch die Sozialisierung bzw. Demokratisierung von Unternehmen mit ein, was als Alternative zu staatlich subventionierten Privatisierungen oder der reinen staatlichen Subventionierung privater Unternehmen gesehen werden kann.
Gleichzeitig ist auch zu betonen, dass der erste Schritt zur Demokratisierung die öffentliche Thematisierung – d.h. die Politisierung – gesellschaftlicher Probleme stehen muss. Diese Politisierung beginnt im Alltag, im eigenen Haushalt, am eigenen Arbeitsplatz, geht aber gleichzeitig auch in die Makro-Ebene politischen Handelns. Die Zusammensetzung von „Expertengremien“ für politische Reformen ist demnach im Hinblick auf die vertretenen und ausgeschlossenen Interessen genauso zu hinterfragen wie Entscheidungsstrukturen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene.
Im Hinblick auf politische Entscheidungen im Zuge der Krisenbewältigung ist die Budgetpolitik von besonderem Interesse: Wer bezahlt für die Krise? Wem wird geholfen? Wer leidet besonders unter den Auswirkungen? „Bankenrettungspakete“, staatliche Gelder an die männlich dominierte Automobilindustrie, Privatisierung und gleichzeitige Subventionierung großer Fluglinien sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Um zu diesen Praktiken Alternativen formulieren zu können, lohnt sich ein Blick auf aktuelle Entwicklungen in Lateinamerika ebenso sehr wie ein Blick in die jüngere Geschichte Europas. In der Verarbeitung dieser Erfahrungen ist jedoch ebenso wichtig, aus den damals aufgetretenen Problemen und Widersprüchen zu lernen, um neue – bessere – Alternativen realistisch formulieren zu können. Es bleibt die Hoffnung, dass dieser Weg von progressiven Kräften und nicht von deren neoliberalen oder neo-faschistischen Widerparts erfolgreich beschritten wird.
Literatur
Altvater, Elmar/Sekler, Nicola (Hg., 2006): Solidarische Ökonomie. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac. Hamburg: VSA.
Bauer, Otto (1976): Der Weg zum Sozialismus. Werkausgabe. Wien: Europaverlag. Erstaufl. 1919, 89–131.
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt: Suhrkamp.
Leubolt, Bernhard (2006): Staat als Gemeinwesen. Das Partizipative Budget in Rio Grande do Sul und Porto Alegre. Wien: LIT.
Mouffe, Chantal (2006): On the Political. London: Routledge.
* Der vorliegende Artikel basiert auf einem Beitrag zum Eröffnungspodium der attac Sommer-akademie 2009 in Krems zum Themenfeld „Alternativen rund um die globale Krise, Strategien zu einem zukünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem“ und wird auch in einer Broschüre im ÖGB-Verlag veröffentlicht.
** Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung im Promotionskolleg „Global Social Policies and Governance“ an der Universität Kassel, wissenschaftlicher Projektmitarbeiter an der WU-Wien, Redaktionsmitglied des „Journal für Entwicklungspolitik“, Vorstandsmitglied des BEIGEWUM.
Wege aus der Krise? Einige Anmerkungen
Es gibt zwei Grundmuster des Wirtschaftens:
* Gemeinwirtschaftlichkeit: Niemand kann bei wirtschaftlichen Handlungen zu Lasten anderer (Erwerbs-)Vorteile für sich erzielen.
* Eigenwirtschaftlichkeit: Wirtschaftliche Handlungen werden mit der Absicht unternommen, (Erwerbs-)Vorteile für sich ohne Rücksicht darauf zu erzielen, zu wessen Lasten sie gehen.
Demgemäß gibt es zwei Grundmuster der Verteilung von Überschüssen: Sie werden
* entweder von der Gemeinschaft, die sie hervorgebracht hat, nach von der Gemeinschaft selbst festgelegten Regeln ebenso gemeinschaftlich genutzt beziehungsweise verbraucht
* oder von einer Person oder Wirtschaftseinheit auf eine andere Person oder Wirtschaftseinheit übertragen, wobei diese Übertragung
— entweder als Raub, also als erzwungene Hergabe und gewaltsame Aneignung,
— oder als Tausch, also als Verkauf und Kauf auf einem Markt (Vertrag durch schlüssige Handlungen) stattfinden kann.
Diese Grundmuster lassen sich zeitgenössisch als Solidarische Ökonomie und als Kapitalistische Rivalitätswirtschaft fassen.
Bedingt durch die politische Schwäche der Arbeiter/innenbewegung nicht erst seit zwei Jahrzehnten wurden solidarökonomische Elemente zunehmend aus der vorherrschenden kapitalistischen Ökonomie verdrängt. Das neoliberale Dogma vom „freien Wettbewerb in offener Marktwirtschaft“ hat zur Rivalität (auch unter den Kapitalfraktionen) und zum Totalitarismus des privaten Gewinnemachens geführt. Der Leistungsfetischismus wurde zum Leistungsfaschismus weiter pervertiert. Leistungsträger/innen, die den maximalen Anforderungen des Finanzkapitals nicht gewachsen sind („Minderleister/innen“) oder sogar Widerstand entgegensetzen, werden durch Hinauswurf aus den „Tempeln der Mehrwertabschöpfung“ bei gleichzeitiger Kürzung von Sozialleistungen gesellschaftlich „liquidiert“. Die in den ökonomischen Strukturen verborgene Gewalt läuft ebenso brutal auf eine soziale Vernichtung hinaus wie die offene Gewalt des Faschismus auf die physische Vernichtung.
So offenbart sich in der aktuellen Krise die Systemeigentümlichkeit des Kapitalismus: die Beeinträchtigung der Gesamtgesellschaft durch die „Kaufkraftschwächung“ ihrer Mehrheit. Als „Kostenfaktoren“ sind erwerbsarbeitende Menschen Störelemente im verselbstständigten Hauptzweck der kapitalistischen Wirtschaft, dem Trieb der privaten Kapitalanhäufung. Das Kapital als „Kommando über unbezahlte Arbeit“, wie Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Hauptwerk sein undemokratisches Wesen bloßlegen, ruft den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneignung hervor. Er bewirkt, dass „die kapitalistische Produktion … auf der einen Seite für die Gesellschaft verliert, was sie auf der anderen für den einzelnen Kapitalisten gewinnt“. Dazu tragen auch gezielte Privatisierungen öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Eigentums bei. Dadurch werden bedeutsame Bereiche der Gesellschaft dem Einfluss formaldemokratisch legitimierter Körperschaften entzogen und der Verfügungsgewalt demokratieloser Kapitaleigentümergremien unterworfen.
Das Kapital ist ein herrschaftliches Verhältnis zwischen Personen, das durch die Verfügung über Sachen vermittelt wird. So erfolgt unter dem trügerischen Schein von „Sachlichkeit“ die Herabwürdigung von Menschen zu „Arbeitskräften“, die nur solange Erwerbsarbeit finden, solange sie als „Waren“ für das Kapital verwertbar sind. Daraus resultiert eine tendenzielle Beeinträchtigung ihres Zutrauens in die Zuverlässigkeit ihrer eigenen Erfahrung. Dieser Zerstörungsvorgang bereitet die seelische Grundlage für das Empfinden auf, bedeutungslos zu sein, und führt zum Entstehen von Ich-Schwäche. Ganz zu schweigen davon, dass diese psychischen Mechanismen bei Erwerbsarbeitslosen noch viel heftiger wirken. Fehlende politische Bildung und mangelnde Kenntnisse von gesellschaftlichen Zusammenhängen begünstigen zusätzlich die Anfälligkeit vieler Betroffener für autoritäre Lösungen zu Lasten anderer Benachteiligter. Die Entfremdung durch Erwerbsarbeit oder ihr Fehlen wird politisch zur menschlichen Selbstentfremdung verdreht. Das Kapital erweist sich dadurch nicht bloß als demokratielos, sondern vielmehr als demokratiegefährdend.
Die Demokratielosigkeit der Wirtschaft wird damit zum Hauptansatzpunkt für Bemühungen, Wege aus der Krise zu finden. Denn milliardenschwere Konjunkturpakete, Stützungen und Garantien der Öffentlichen Hand nahezu bedingungslos über die bestehende kapitalistische Wirtschaftsstruktur auszuschütten, die diese Krise hervorgebracht hat, läuft nur darauf hinaus, der nächsten Krise Vorschub zu leisten.
Überschüsse sind unverzichtbar, aber ihre automatische Verteilung zum Kapital ist es nicht. Es genügt aber nicht, bloß Umverteilung und diese nur durch Steuern (Sekundärverteilung) oder Transferleistungen (Tertiärverteilung) bewerkstelligen zu wollen. Diese von repräsentativ-demokratischen Körperschaften zu beschließenden Maßnahmen können auf Dauer die „automatische“ Umverteilung von der Arbeit zum Kapital durch die antidemokratische kapitalistische Eigentumsordnung nicht korrigieren. Dafür bedarf es Eingriffe in die Primärverteilung, also in die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts dort, wo es entsteht: im demokratielosen Bereich der Arbeitswelt. Es geht damit auch um die Verwirklichung eines anderen Arbeitsbegriffs, der auf einem Bewusstsein der Menschen von ihrer gesellschaftlichen Verbundenheit beruht, von den Elementen der Solidarität sowie des Schöpferischen und Identitätsstiftenden geprägt und die Grundlage eines „guten Lebens für alle“ ist.
Gesellschaftliches Eigentum an Grund und Boden, Fabrik und Büro ist Voraussetzung und Ausdruck dieses Demokratisierungsprozesses. Es entsteht, wenn demokratisch legitimierte Öffentliche Hände die in ihrem Einflussbereich befindlichen Betriebe und Unternehmen gemeinsam mit demokratisch legitimierten Vertreter/inne/n der Beschäftigten und der Verbraucher/innen, „also derjenigen Gruppen, für die der Betrieb da sein soll“, verwalten. Das soll zur „wirtschaftlichen Selbstverwaltung des ganzen Volkes“ führen, wie es der Theoretiker des Austromarxismus Otto Bauer in seinen Sozialisierungskonzepten formulierte.
Gesellschaftliches Eigentum manifestiert sich in der Bestellung von Aufsichts- und Leitungsorganen durch die Triade Öffentliche Hand, Beschäftigte und Verbraucher/innen, in der demokratischen Verteilung des innerbetrieblichen Überschusses auf die einzelnen Einkommensarten nach gesetzlich festgelegten statutarischen Prinzipien beziehungsweise des außerbetrieblich zu verteilenden Überschusses nach gesetzlich festgelegten Zweckbindungen. Diese Strukturmerkmale sollen der Beeinträchtigung der Gesamtgesellschaft durch die Schwächung ihrer gesellschaftlichen Mehrheit vorbeugen sowie einem bedarfsdeckungsorientierten, gebrauchswertgeleiteten und selbstkostenbasierten Wirtschaften Vorschub leisten.
In der Neuzeit reichen Bemühungen um gesellschaftliches Eigentum beispielsweise von den Diggers und der New Model Army im England der Mitte des 17. Jahrhunderts über die Pariser Kommune vom Frühjahr 1871 und die Landbesetzungen in Mexiko Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den Arbeiterräten in Mittel- und Osteuropa sowie den Gemeinwirtschaftlichen Anstalten in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. Sie setzten sich nach dem Zusammenbruch des Faschismus in der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, den englischen Arbeiterkooperativen und den besetzten Betrieben Frankreichs fort und leben gegenwärtig weiter in den vielfältigen Mustern der Solidarökonomie in Argentinien, Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern sowie wie im Genossenschaftsnetzwerk Mondragon im spanischen Baskenland. Diese Bemühungen waren und sind nicht frei von Irrtümern und Fehlern der Bemühenden und sie unterlagen beziehungsweise unterliegen oft den Anfeindungen des Kapitals. Doch belegen diese Anfeindungen die grundsätzliche Richtigkeit dieser Stoßrichtung.
Die Demokratisierung der Wirtschaft eröffnet nicht zwangsläufig das Paradies. Konflikte werden nicht verschwinden, aber für ihre Lösung bieten sich andere Vorgänge an als das Ausspielen ökonomischer Gewalt. Sie gewährleisten jedenfalls die Bedingung der Möglichkeit, nicht mehr länger eine Suppe auslöffeln zu müssen, die uns andere einbrocken, sondern, gesellschaftlich organisiert, unsere Suppe solidarisch selbst zu kochen.
Ist das alles?!
Radikaler als die Wirklichkeit: 34 Millionen schüttelt der Minister aus dem Ärmel, und lädt zu „breitem“ (?) Dialog mit den HochschulpartnerInnen, bevor er sich nach Brüssel verzieht. Eine kurze Bedachtnahme:
Das mit dem Dialog, das hatten wir schon. Kann sich überhaupt noch jemand erinnern? Definieren wir Dialog nach wikipedia als
eine mündlich oder schriftlich zwischen zwei oder mehreren Personen geführte Rede und Gegenrede,
dann ist das Unternehmen damals gründlich schief gegangen. Wichtiger als der Gesprächsinhalt ist aber ohnehin das Signal, und noch wichtiger als das Signal ist, dass überhaupt etwas gesagt wurde. Also werden sich am 25.11. ein paar (um genau zu sein: 50!) Personen versammeln und einmal reden, und das wars dann. Immerhin wird der Hochschuldialog nicht so teuer wie der Forschungsdialog, von dem wir freilich auch nicht wissen, was er gekostet hat. Wert war er jedenfalls keinen Cent; und auf dieses Preis-Leistungsverhältnis wird der Event Ende November sicher auch kommen.
Und das führt schon zum zweiten Punkt: Die Transparenz. Dass Hahn plötzlich so viel Geld hat, machte einige stutzig. Aber ob nun das Geld aus einer Quelle kommt, die vorher den Unis abgezwackt wurde, ist gar nicht so wichtig. Problematischer ist die Art, wie die Mittel plötzlich aus dem Hut gezaubert werden – vom Gönner Gio, der einen glimpflichen Ausgang der ganzen Uni-Affäre braucht, will er wirklich das Forschungsressort in Brüssel übernehmen – und wie sie vergeben werden – von den Rektoraten, in Zusammenarbeit mit der ÖH. Das ist die Politik der Symbolik, in der es um keine inhaltliche Auseinandersetzung geht. Und es ist auch eine Politik der Verantwortungslosigkeit, in der sich der zuständige Ressortleiter abputzt an den Verteilungskämpfen, die unter seinen wachsamen Augen dann ausgetragen werden.
Die Forderungen der Studierenden und der Lehrenden (zumindest jener, die sich mit den BesetzerInnen solidarisch erklärt haben) klingen ja anders. Aber mich irritiert, dass vor allem letztere auf Hahns unerwartete Geldspende bisher noch gar nicht reagiert haben. Wie wäre es denn damit, dass die „externen“ LektorInnen an jenen Instituten, wo sie mehr als 50% der Lehre tragen, ihre Verträge kündigen oder, wenn das rechtlich nicht gut möglich ist, sich soweit solidarisieren, dass sie keine zukünftigen Verträge mehr unterschreiben, sofern dort nicht substantielle Verbesserungen drinnen stehen? Ich wüsste einige Studienrichtungen, da würde der Lehrbetrieb sofort zusammenbrechen.
Nieder mit Humboldt
Ich weiss, damit mache ich mir hier keine Freunde, aber: der Ökonom hat recht. Ich weiss, es wird nicht gern gelesen, aber: Österreichs Hochschulsystem ist eines der elitärsten, die es im internationalen Vergleich gibt. Ich weiss, es ist nicht opportun, aber: Ein Bildungssystem, das derart verantwortungslos mit ihren Ressourcen umgeht, ist so verrottet wie die Zustände, die jetzt zu recht angeklagt werden.
Ich würde mir gerade von der Linken in Österreich wünschen, dass sie sich doch langsam mal davon verabschiedet, sich vor den Karren der akademischen Eliten dieses Landes spannen zu lassen und stattdessen sozial gestaffelte Zugangskriterien für die höhere Bildung zu fordern beginnt. Und, bitte, bitte: Vergesst Humboldt und diesen ganzen bildungsbürgerlichen Quatsch!
80 Jahre ›Schwarzer Donnerstag‹ – John Kenneth Galbraith neu gelesen
Am Donnerstag, den 24. Oktober 1929 „wechselten 12.894.650 Anteile den Besitzer, die meisten zu einem Preis, der die Träume und Hoffnung der bisherigen Inhaber restlos Zerstörte“ (S. 136). Das schreibt John Kenneth Galbraith in seinem Buch Der Große Crash 1929. Ursachen, Verlauf, Folgen.* An diesem Tag – und nicht am ›Schwarzen Freitag‹ – gingen die Börsenkurse in New York am stärksten während des Börsencrashs 1929 zurück. Am kommenden Samstag jährt sich dieser Tag zum achtzigsten Mal. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise ist es lohnend, den Klassiker von Galbraith neu zu lesen.
Galbraith beschreibt in seinem Buch zunächst den Verlauf der Entwicklungen, die später zum Großen Crash führen sollten. Zwar ging es den Bauern bereits nach der Depression der Jahre 1920 und 1921 auf Grund der gesunkenen Agrarpreise schlecht, insgesamt waren die 1920er-Jahre aber eine gute Zeit für die USA. Die Produktivität erhöhte sich, die Beschäftigung war auf einem hohen Niveau, und Armut konnte zwar nicht gänzlich überwunden, aber ein gutes Stück zurückgedrängt werden (vgl. S. 34). Rückblickend stellt sich die Frage, ob die Zeiten nicht nur gut, sondern zu gut waren… Jedenfalls stiegen in der Folge die zu Beginn der 1920er-Jahre niedrigen Aktienkurse. Trotz einiger Rückschläge war die Richtung der Kurse eindeutig: Sie stiegen. „Bis Anfang 1928 mussten selbst äußerst konservativ eingestellte Leute glauben, dass die Aktienkurse sich sowohl den wachsenden Unternehmensgewinnen als auch den Aussichten auf weitere künftige Steigerungen anpassen würden. Auch die Phase des Friedens und die ruhigen Zeiten konnte man guten Gewissens einkalkulieren, ebenso die Sicherheit, dass die Regierung in Washington die Erträge nicht stärker als im notwendigen Maß besteuern würde. Anfang 1928 begann dann die Phase der Übertreibung: eine Massenflucht in die Scheinwelt […] nahm ernsthafte Formen an“ (S. 44). 1928 schließlich wurde Herbert Hoover als neuer US-Präsident gewählt. Er hatte zwar zuvor als Handelsminister und Präsident Coolidge versucht, den Markt unter Kontrolle zu bekommen, allerdings war seine kritische Haltung zur Entwicklung an der Börse wenig bekannt. Nach Hoovers Wahl gab es einen regelrechten Boom, am Tag nach der Wahl stiegen die Papiere um 5 bis 15 Prozent. Außer Hoovers Wahl war nichts passiert, was als Ursache für diesen Anstieg genannt werden könnte (S. 50).
Mit leichten Schwankungen ging es so weiter, wobei vor allem Termingeschäfte stark ausgeweitet wurden. Galbraith beschreibt, wie zunehmend Spekulationen ohne Eigentum einsetzten. Am Eigentum als solches waren Spekulanten nicht interessiert – sondern lediglich am Wertzuwachs. Daher wurden ein Mechanismus entwickelt, der das Spekulieren von den „Lasten des Eigentums befreit“ und über Kredite funktioniert (S. 51ff, Zitat S. 53). Damit war der Spekulation Tür und Tor geöffnet, und der Glaube, dass jeder gewinnen könne (und würde) tat sein übriges.
In der Folge gab es kein Halten mehr. Warnende Stimmen gab es wenige, und die, die es gab, wurden ignoriert oder denunziert als Menschen, die die gute Stimmung kaputtreden wollen. Ein bis heute berühmter Beschwichtiger der damaligen Zeit war Prof. Irving Fisher (bspw. S. 107). Auch andere Wissenschaftler und zahlreiche Medien gehörten zu den unkritischen Begleitern – und oft genug beteiligten Spekulanten – im Jahre 1929. Zweifel waren weder erlaubt noch erwünscht, und weitere Instrumente zur Ausweitung der Spekulationen wurden eingesetzt, insbesondere die Hebelkraft (Leverage) spielte eine immer größere Rolle (S. 93ff.), wie übrigens auch in der aktuellen Krise. Es wurden Trusts mit wohlklingenden Namen wie Shenandoah gegründet, die direkt überzeichnet waren und im Wert oft kräftig anstiegen – um nach dem Crash kaum noch etwas Wert zu sein.
Der Crash
Selbst als die Aktienkurse einbrachen gingen viele von einem temporären Knick aus. Ende Oktober 1929 gab es dann jedoch kein Halten mehr. Dazu Galbraith: „Was den Anstoß gab, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist es auch gar nicht wichtig, dass wir es wissen“ (S. 129). Bei den ersten Einbrüchen machte die Hoffnung einer „organisierten Unterstützung“ die Runde, die Lage spitzte sich dennoch mehr und mehr zu. Und am 24. Oktober gab es dann schlicht keine Käufer mehr für die Anteile, deren Werte daher ins Bodenlose stürzten (S. 136f.). Zwar versuchten große Banken mit einer organisierten Stützung des Marktes einzugreifen (S. 138ff.), was die Preise auch kurzfristig wieder zum Steigen brachte. Tatsächlich glaubten viele nach dem Schwarzen Donnerstag, dass man das Schlimmste überstanden habe. Allerding folgte am Dienstag, dem 29. Oktober „der verheerendste Tag in der Geschichte der New Yorker Börse“ (S. 150, das Buch von Galbraith erschien 1954!).
Galbraith beschreibt in seinem Buch detailliert die Tage Ende Oktober, die in die Geschichte als Großer Crash eingingen. Er räumt dabei auch mit einigen Legenden auf (etwa, dass es zahlreiche Selbstmorde in New York gegeben habe, S. 168f.). Er beschreibt die Hilflosigkeit der Akteure und die Aufdeckung von Unterschlagungen sowie die Pleite zahlreicher Unternehmen. Galbraith beschreibt ferner die schwierige Aufarbeitung der Krise. Vor allem aber: Er analysiert ihre Ursachen.
Die Ursachen
John Kenneth Galbraith benennt fünf Punkte als Ursachen für den Großen Crash und die folgende Weltwirtschaftskrise (S. 216ff.):
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Die schlechte Einkommensverteilung: Die Einkommen waren 1929 besonders ungleich verteilt. Genaue Zahlen lägen für diese Zeit nicht vor, allerdings sei davon auszugehen, dass 5 Prozent der Bevölkerung mehr als 30 Prozent des Einkommens erzielten. „Aufgrund dieser höchst ungleichen Einkommensverteilung war die Wirtschaft von möglichst hohen Investitionen oder von einem möglichst hohen Verbrauch an Luxusgütern oder von beiden Faktoren gleichzeitig abhängig. Die Reichen konnten nicht Unmengen von Brot kaufen, um ihr Geld umzusetzen.“ Die Ausgaben der Reichen waren jedoch für die schlechten Nachrichten von der Börse besonders empfänglich. Mit Blick auf die aktuelle Krise hat Engelbert Stockhammer bereits im April die Frage gestellt: Was hat die Finanzkrise mit der Einkommensverteilung zu tun?
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Die prekäre Struktur der Kapitalgesellschaften. Galbraith nennt eine „außergewöhnliche Anzahl von ausgebufften Geschäftemachern, Blendern und Schwindlern“ in den Direktionsbüros der Unternehmen. Zentraler Schwachpunkt – auch das erinnert an heute – waren die unüberschaubaren neuen Strukturen bei den Holdings und Trusts. Die Verschachtelungen waren so stark, dass ein Ausfall an einer Stelle oft gravierende Folgen hatte.
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Die Labilität des Bankenwesens. Hierbei geht es Galbraith vor allem um die Kettenreaktion aus der Pleite einer Bank und dem Abzug der Einlagen bei anderen Banken (Bankenrun). Hierauf wurde nach der Krise mit der Einrichtung von Einlagesicherungssytemen reagiert. Aktuell muss das niederländische System nach der Pleite der DSB-Bank nach einem Bankenrun eingreifen.
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Der desolate Zustand der Außenhandelsbilanz. Die Vereinigten Staaten waren nach dem ersten Weltkrieg der größte Gläubiger der Welt. Zudem bestand zunächst noch ein Handelsüberschuss, der diese Position weiter stärkte. Zwar war der Saldo zwischen Exporten und Importen nicht sonderlich groß, dennoch musste er abgedeckt werden. „Das Ausland konnte die Passivsalden gegenüber den Vereinigten Staaten nicht mehr oder nicht mehr lange mit erhöhten Goldüberweisungen bezahlen. Das hieß, es musste entweder seine Importe aus den USA zurückfahren oder alternativ mit seinen Darlehensverbindlichkeiten in Verzug geraten.“ Auch die unausgeglichene Leistungsbilanz, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, ist in der aktuellen Krise ein Thema. So setzen u.a. Österreich, vor allem aber Deutschland auf eine reine Exportstrategie (sinkende Reallöhne, sinkende Binnennachfrage aber gute Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten).
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Der schlechte Zustand der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftswissenschaften. Galbraith nennt die Ideologie des ausgeglichen Haushalts (=Kontraktion der Nachfrage) und die Angst vor Inflation (=steigende Zinsen und Verteuerung von Geld), die eine vernünftige Geldpolitik verhinderte, obwohl das Land vor einer Deflation stand. Auch diese Debatten kennen wir von heute. Galbraith schrieb seinerzeit (S. 225): „Sowohl die aktive Fiskalpolitik – Besteuerung und Staatsausgaben – als auch eine vernünftige Geldpolitik zu unterlassen war das Gleiche, wie jegliche konstruktive Wirtschaftspolitik abzulehnen. Die Wirtschaftsexperten jener Tage besaßen genügend Einmütigkeit und Autorität, um die Führer beider Parteien zu veranlassen, alles, was Deflation und Depression hätte bekämpfen können, zu vermeiden […], ein Triumph der Schulweisheit über die Praxis. Die Folgen waren verheerend.“
Galbraith 2009
Natürlich waren Ursachen, Verlauf und Folgen 1929 andere als 2009, auch wenn heute noch nicht klar ist, wie die aktuelle Krise weitergeht. Erschreckend sind einige Parallelen aber schon, die Dogmatik der Ökonomie, die Einkommensverteilung usw. Es lohnt sicher daher unbedingt, sich eine der bekanntesten Interpretation der Weltwirtschaftskrise zu Gemüte zu führen – und John Kenneth Galbraith neu zu lesen.
* Alle Seitenangaben beziehen sich auf den unveränderten Nachdruck der 4. Auflage aus dem Jahr 2009. Das Buch erschien erstmals 1954.
4.11.09: Kritik in der Krise?! Kurswechsel Heftpräsentation
Kritik in der Krise?!
Positionierungen und Reflexionen einer Kritischen Sozialen Arbeit
Mittwoch, 4. November 2009, 18.30 – 21.00 Uhr
Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstr. 13, 1090 Wien
Volker Eick (FU Berlin), Fabian Kessl (Uni Duisburg), Susanne Maurer (Uni Marburg) und Nina Oelkers (Hochschule Vechta), AutorInnen des Kurswechsels 3/09, diskutieren gemeinsam mit BesucherInnen und den herausgebenden AutorInnen Josef Bakic, Marc Diebäcker, Elisabeth Hammer (FH Soziale Arbeit Wien, kriSo)
In Kooperation mit: Arbeiterkammer Wien, Renner Institut, Die Grüne Bildungswerkstatt, Gefördert durch: WienKultur
Organisation und Kontakt: Josef Bakic, Marc Diebäcker, Elisabeth Hammer (Verein kritische Soziale Arbeit)
Präsentation des Kurswechsel Heft 03/2009 „Kritische Soziale Arbeit“
In den Beiträgen von Josef Bakic, Ljubomir Bratic, Marc Diebäcker, Volker Eick, Elisabeth Hammer, Uwe Hirschfeld, Fabian Kessl, Susanne Maurer, Eva Nadai, Nina Oelkers und Martina Richter werden unterschiedliche Möglichkeiten des Einsatzes von Kritik in der Sozialen Arbeit vorgestellt. Die Leistungsfähigkeit Kritischer Sozialer Arbeit wird anhand wesentlicher professionstheoretischer Fragestellungen und ausgewählter Handlungsfelder aufgezeigt, womit ein Diskurs fortgesetzt wird, der in den letzten Jahren erste Konturen eines „Andersdenken“ sichtbar gemacht hat.