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Anlässlich der Anmerkung von Matthew Yglesias: Ist die Deflationsgefahr im Euroraum gegeben? In einer Prokla-Ausgabe von 2004 wurde das Thema explizit angeschnitten. Das Editorial hat damals (nach dem Platzen der New Economy Blase) folgende Aussicht gegeben:
„Selbst ein starkes Wachstum in den USA stabilisiert die Weltwirtschaft nicht automatisch. Denn sollten die internationalen Kapitalströme in die USA, die zur Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits notwendig sind, versiegen und der Dollarkurs weiter abstürzen, dann würde das US-amerikanische Leistungsbilanzdefizit schrumpfen. Für die Akkumulationsaussichten der Weltwirtschaft wäre es äußerst problematisch, wenn sich in den USA das Defizit der Leistungsbilanz in einen Überschuss verwandeln sollte. Denn dann würde die Aufwertung des Euro sowie des Yen im Euroraum und in Japan die Deflationsgefahren massiv erhöhen. Besonders verheerend wäre es, wenn der Dollarkurs unkontrolliert ins Trudeln käme und sich die amerikanische Zentralbank gezwungen sähe, durch Hochzinspolitik den Dollarkurs zu verteidigen. […]
Insgesamt hat die Deregulierungswelle und die verstärkte Währungskonkurrenz zu einem strukturellen Machtgewinn von Geldvermögensbesitzern geführt. Der weltweite Rückgang von Inflationsraten, die zunehmende Unabhängigkeit von Zentralbanken, die Verabsolutierung der Dominanz von Preisniveaustabilität gegenüber allen anderen Zielen der Wirtschaftspolitik, die in vielen Ländern zu beobachten ist, ist Ausdruck dieser Machtverschiebung. Eine Konsequenz dieser neuen Situation, die bislang noch kaum diskutiert wurde, ist die latent deflationäre Konstellation der Weltwirtschaft.“
Wie kommt es dann, dass Angela Merkel vor einer Inflation warnt? Steckt ihr wirklich noch die Angst aus der Weimarer Republik in den Knochen? Oder steckt dahinter ein realitätsfernes Festhalten am deutschen Modell der Notenbanken? Oder wechselt Frau Merkel nur politisches Kleingeld? Oder weiß man in Frankfurt etwas, das in den U.S.A. niemand weiß?
Es geht ans Bezahlen
Bernhard Felderer – wir hatten bereits darauf hingewiesen – ist gegen Steuererhöhungen und für Einsparungen. Er präzisierte diese Aussage jetzt in der Presse: Er ist gegen eine Vermögensteuer und gegen die Erhöhung der Lohnsteuer, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer lehnt er aber nicht ab. Das ist konsequent. Es ist bekannt, dass Mehrwertsteuern degressiv wirken – auch Herrn Felderer. Deshalb wollte die SPÖ im Wahlkampf die Mehrwertsteuer sogar teilweise senken. Wenn Felderer dennoch die Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Sanierung des Budgets vorschlägt, dann macht das nur deutlich, dass sich alle, die die gigantische Umverteilungspolitik zu Gunsten der Reicheren ob der Krise am Ende sahen, zu früh gefreut haben. Die Auseinandersetzungen beginnen erst jetzt – Felderer hat einen Aufschlag gemacht. Es ist nun an SPÖ und ÖVP zu erklären, wie sie die öffentlichen Aufgaben zu finanzieren gedenken. Zumindest zum Teil vielleicht doch über eine Vermögensteuer und die Wiedereinführung der Erbschafts- und Schenkungsteuer?
Nachtrag 29.06.2009: Auch der Blog acht hat sich des Themas Felderer angenommen.
Staatsausgaben senken statt Steuern erhöhen?
So macht man also Politik: Zuerst werden die »Leistungsträger« einer Gesellschaft, also die oberen Prozent, entlastet, indem man Steuern senkt, dann muss bei den Staatsausgaben gespart werden. So wurde die Körperschaftssteuer gesenkt und die Erbschafts- und Schenkungssteuer abgeschafft, und die letzten Reformen sind noch gar nicht lange her: Man hat die Grenze, ab der der Spitzensteuersatz greift, auf 60.000 Euro zu versteuerndes Einkommen im Jahr angehoben. Daneben wurde ein ungebundener Freibetrag für Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit und Gewerbebetrieben beschlossen sowie der Freibetrag für investierte Gewinne erhöht. Steuersenkungspolitik als Standortpolitik war die Devise, wobei die Entlastungen natürlich zu einem erheblichen Teil denjenigen zu Gute kamen, denen es sowieso schon vergleichsweise gut geht. Die Folge: Staatsausgaben mussten zurückgefahren werden und das Investitionsdefizit in den Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge ist immens. Und die steigende Ungleichheit auch.
Dann kam die Krise. Bzw. sie war auch eine Folge der beschriebenen Politik, denn eine ungleiche Einkommensverteilung ist eine Ursache der Krise. Hieß es noch vor wenigen Monaten: „Es gibt nichts zu verteilen“, so wurden nun in Kürze der Zeit zahlreiche Hilfspakete für Banken und Konjunkturprogramme geschnürt – auf vergleichbare Zusatzausgaben für Soziales und Bildung wartet man jedoch noch immer. Die Banken- und Konjunkturpakete jedoch wollen nun bezahlt sein. Wer aber glaubt, dass dies auch über eine Vermögensbesteuerung passiert oder andere Steuern, der sieht sich getäuscht. Wer das auch nur andenkt, der wird mit einer Kampagne überzogen. Und Bernhard Felderer macht aktuell im Standard klar, was passieren wird:
Statt Steuern zu erhöhen oder neue einzuführen, redet der Wirtschaftsforscher einer Reduktion der Staatsausgaben das Wort: „Das muss absolute Priorität haben.“
Damit wird die alte Politik fortgeschrieben – nicht die Medizin war falsch, sondern die Dosis. Denn wenn das nicht wirkt, dann muss man eben mehr davon nehmen. Dass von Staatsausgaben eben gerade auch die sozial Schwächeren profitieren, von den Steuersenkungen aber nicht, ist bekannt aber offensichtlich egal. Dass Staatsausgaben gerade auch Nachfragewirksam sind – auch egal. Nur nicht das Vermögen und die Einkünfte der Besserverdienenden angreifen…
Es bleibt zu hoffen, dass Herr Felderer Widerstand bekommt und man endlich einmal eine Debatte über eine sinnvolle Vermögensbesteuerung zu Finanzierung öffentlicher Ausgaben führen kann. Die Kürzung der wifo-Gelder durch die Industriellenvereinigung macht dabei auch deutlich, warum Wissenschaft unabhängig sein muss.
Die Person macht’s
Gerd Valchars plädiert im Standard für eine Aufwertung des Persönlichkeitswahlrechts in Österreich:
„Eine solche Änderung im Wahlsystem würde das Gewicht bei der Kandidatenauswahl deutlich in Richtung Wähler verschieben, ohne dass die Parteien plötzlich ihren Einfluss auf die Rekrutierung gänzlich verlieren würden.“
Die Effekte, die sich Valchars davon verspricht: Größere „Bürgernähe“, sprich „mehr Unabhängigkeit der einzelnen Abgeordneten gegenüber ihrer Partei“. Zweitens, ein solcher Modus „macht einen Wahlgang natürlich auch deutlich spannender“. Drittens und vor allem aber: „Jede einzelne Vorzugsstimme zählt und wird auch wirksam.“
Bürgernähe, Spannung, Demokratie – Das klingt zwar ein bisschen nach Überraschungsei, ist aber sicher richtig. Ich persönlich würde vielleicht noch hoffnungsfroh anfügen, dass eine Profilierung der zu Wählenden gegenüber ihren WählerInnen zu erwarten wäre (was mir angesichts des niederschmetternden Zustands der politischen Klasse in diesem Land ziemlich notwendig erscheint).
Der Anlass, nämlich die EU-Parlamentswahl, wirft bei mir freilich eine Frage auf, die mich ganz generell schon seit längerem beschäftigt: Macht die politikwissenschaftliche Forschung das EU-Parlament vielleicht wichtiger als es nun einmal ist? Eine Kammer, die in weiten Teilen zahnlos ist und nicht einmal den grundlegenden Aufgaben einer Volksvertretung nachkommt, wird durch eine Änderung des Wahlmodus ja nicht relevanter. Was die Sache für Österreich irgendwie tragisch macht, ist der Umstand, dass es sogar einen potentiellen Kandidaten gab, der seit Jahren prononciert für eine Stärkung des Parlaments und damit für eine Demokratisierung der EU eintritt. Ausgerechnet Johannes Voggenhuber ist aber aus parteipolitischen Gründen von den Wahlen ferngehalten worden.
Valchars rennt mit seinem Beitrag bei mir offene Türen ein. Ich mag die Idee einer Wahlrechtsreform. Aber erst in Verbindung mit der Zuteilung von Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen wird eine Förderung lebendiger Demokratie erreicht.
Geschichte wird gemacht
Schweigen? Als Elder Statesman nicht mehr.
[…] unser riesiger Staatssektor war ja gar nicht ideologisch gewollt. Vielmehr war er aus einer Notwendigkeit heraus entstanden: In den 50er Jahren gab es in Österreich viele russische Industriebeteiligungen, besetzte Betriebe und Firmen im russischen Einflussbereich. Die ehemals deutschen Rüstungsbetriebe, das Industriekonglomerat Voest, die staatliche Mineralölverwaltung – all das war gefährdet. Wollte man diesen Einfluss zurückdrängen, konnte man die Unternehmen nur verstaatlichen.
So Wolfgang Schüssel im auch sonst amüsant lesenswerten Interview mit dem Manager Magazin. Dass die Voest jetzt neuerdings in sowjetischem Besitz gewesen sein soll (oder davon auch nur bedroht gewesen wäre), heißt Geschichte neu schreiben. Aber was solls, Herr Schüssel ist ja nicht Historiker, sondern, wie er salopp erklärt, Jurist Ökonom.
Political Meddling
Ein aktueller Nachtrag zu den „politischen Intellektuellen:“ Bisher konnten sich gerade ÖkonomInnen in Österreich noch zu jenen zählen, die sich von politischer Einflussnahme vergleichsweise frei machen konnten. Ein Grund neben anderen dafür ist das überparteiliche Wifo, eine der (wenigen) sozialwissenschaftlichen Errungenschaften der Zweiten Republik. Jetzt wird der dieser Einrichtung zugrunde liegende, politische Stillhaltevertrag grade aufgekündigt. Und warum?
Wifo-Chef Aiginger habe seine Mitarbeiter schlichtweg nicht mehr im Griff, wird kritisiert. Vor allem die prononciert „roten“ Wifo-Experten Margit Schratzenstaller, Stephan Schulmeister und Markus Marterbauer würden sich in der Öffentlichkeit ständig zu Wort melden – mit politisch eindeutigen Botschaften.
Man kann sich die Sorgenfalten am Schwarzspanierplatz lebhaft vorstellen. Jedenfalls ist der Vorfall ein deutliches Indiz, dass in der aktuellen Krise nicht nur der medial ausgetragene Konflikt um den „richtigen Kurs“ in der Wirtschaftspolitik schärfer wird. Jetzt soll – als Reaktion darauf – Macht exerziert werden. „Political Meddling“, wie es in den USA so schön heisst.
Was lernen wir daraus? Offenbar ist man an verschiedenen Stellen ganz schön nervös. Dass die Initiative offenbar von Raiffeisen (mit einem an sich eher unbedeutenden Jahresbeitrag) ausging, verstärkt den Eindruck. Die PR dieses schwarzen Konglomerats war in letzter Zeit ja nicht die beste. Von „nur über meine Leiche“ (Christian Konrad) ist man dort schnell dazu übergegangen, Geld von der Regierung zu nehmen. Das stellt vorerst zwar noch niemand in Frage. Aber besser gar nix anbrennen lassen.
Die Geschichte stellt auch einen ziemlich offenen Angriff auf das von WissenschaftlerInnen (zu recht) hochgehaltene Prinzip der „akademischen Freiheit“ dar. In diesem Zusammenhang ist das Wifo zwar in einer ungünstigen Position: Mehr Think Tank als Grundlagenforschungsinstitut. Aber trotzdem ist festzustellen, dass diese Institution für die heimischen Sozialwissenschaften sicher mindestens so wichtig ist wie CERN für die Physiker. Leider lehrt mich die Erfahrung, hinsichtlich der Reaktionen aus der Community pessimistisch zu sein: So wirklich tangiert das in Österreich wohl niemanden.
Politische Intellektuelle und die Wirtschaftskrise
Die Frage der politischen Interventionsfähigkeit der Sozialwissenschaften war ein Thema der Konferenz „Political Economy, Financialisation and Discourse Theory“ Ende Mai in Cardiff.
Karel Williams (Manchester Business School) thematisierte in seinem Vortrag, wie stark sich die öffentliche Reaktion auf die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise von der Reaktion auf die Krisen 1931 (Weltwirtschaftskrise) und 1981 (Thatcher-Schock in UK) unterscheide. Damals gerieten die Eliten unter Druck, 1931 führte das zu Veränderungen in der Wirtschaftspolitik, 1981 zumindest zu einem öffentlichen Auftreten linker Wissenschaft (auch wenn sie letztlich erfolglos blieb).
Heute sei die öffentliche Reaktion vergleichsweise verhalten. Williams konstatierte eine Art gesellschaftliches „Stockholm-Syndrom“, auf Basis einer Geiselnahme der Gesellschaft durch den Finanzsektor – die fortgeschrittene Durchdringung der Gesellschaft mit einer finanzialisierten Logik führe zur Identifikation mit den Interessen und Motiven des Finanzsektors.
Auch die öffentlichen Intellektuellen fehlten. Williams nannte folgende Gründe: Zersplitterung in feindliche Theorie-Lager; Verdrängung politischer Ökonomie aus der Mainstreamökonomie und Ausweichen in Sub-Disziplinen mit engem Fokus wie Internationale Politische Ökonomie, Geografie, Kulturstudien etc.; Professionalisierung/ Akademisierung – das Feld der Medienarbeit wird von AkademikerInnen aufgegeben und wird völlig den Leuten aus dem Finanzsektor überlassen.
Ein Teil der Erklärung für diese Entwicklungen sei Unklarheit über die Situation und der politische Kontext (Rechtswendung der Labour Party, Marginalisierung der Gewerkschaften). Einen Teil der Erklärung liefere aber auch die Selbstbeschränkung der Intellektuellen. Williams Abschlussfrage: Sollte die Intelligenz von der Kritik zur Selbstkritik über ihre innenorientierte Professionalisierung übergehen?
Colin Wight (University of Exeter) konstatierte eine „Gang-Mentalität“ in den Sozialwissenschaften. Theoretische Abgrenzungen hätten häufig mehr mit Identitätspolitik statt Substanz zu tun, seien in einem zersplitterten Feld wie etwa Politikwissenschaft aber wichtig für das akademische Fortkommen (vgl. den Artikel von Kyle Siler in Kurswechsel 4/05 für den Fall der Wirtschaftswissenschaften). Das zeige sich in vielen Diskussionen der Konferenz wieder, wo Debatten zwischen Postrukturalistismus- und Kritischer-Realismus-Ansätzen oft übertrieben heftig geführt würden (So hatte etwa jemand auf Marieke de Goedes [Uni Amsterdam] Einfühungsvortrag, in dem sie die internationale Terror-Geldwäsche-Bekämpfungs-Offensive als Projekt zur Ausdehnung der Überwachung im Alltag kritisierte, gefragt, wozu sie für diese Analyse einen poststrukturalistischen Ansatz bemühe).
Der kritische Buchhaltungs-Theoretiker Prem Sikka (University of Essex), der für die Aufdeckung von Parteienfinanzierungsströmen der Tories bekannt ist, plädierte für mehr journalistisches und politisches Engagement von WissenschafterInnen.
In der Diskussion wurde debattiert, ob die Ursache dafür in der Wissenschaft selbst oder eher in Veränderungen von Politik und Öffentlichkeit zu suchen ist. Die Ignoranz gegenüber Wissenschaft habe mit Interessen und Macht zu tun, nicht mit dem Zustand der Wissenschaft, so eine Anmerkung. Der öffentliche Sektor fragt heute Beratungsfirmen und Unternehmen um Expertise, nicht mehr in Universitäten. Öffentliche Untersuchungskommissionen sind nicht an wissenschaftlichen Ergebnissen, Problematisierungen und Ursachenforschungen interessiert, sondern kompilieren nur noch Meinungen von (Industrie-)ExpertInnen.
Andere hinterfragten, ob der Stellenwert der Wissenschaft in der (Berufs-)Politikberatung der entscheidende Indikator sei, oder ob es nicht vielmehr darum ginge, sich in Beziehung zu sozialen Bewegungen und widerständigen AkteurInnen außerhalb der etablierten Politik zu setzen.
Der BEIGEWUM hat zu diesen Themen vor einigen Jahren selbstreflexive Überlegungen angestellt (siehe auch hier). Zeit, angesichts der Krise daran weiterzuarbeiten!
Memorandum 2009
Jedes Jahr im Mai gibt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ein Memorandum zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen heraus. Die Memo-Gruppe selbst beschreibt Ihre Arbeit so: „In der ›Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik‹ arbeiten Wirtschafswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler sowie Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter an der Entwicklung wirtschaftspolitischer Vorschläge und Perspektiven, die sich an der Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze, der Verbesserung des Lebensstandards, dem Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie wirksamer Umweltsicherung in Deutschland orientieren.“ Die Memoranden beziehen sich zwar auf Deutschland, die Diskussionen sind jedoch auch über den nationalen Kontext hinaus interessant. Dieses Jahr widmet sich die Gruppe unter dem Titel „Von der Krise in den Absturz? Stabilisierung, Umbau, Demokratisierung“ den Folgen der Wirtschaftskrise und entwickelt Vorschläge für eine andere Wirtschafts‑, Sozial- und Bildungspolitik.
Exportweltmeister Deutschland
Im Mittelpunkt des Kapitels zur Finanz- und Wirtschaftskrise steht die verfehlte Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik. Über die Argumentation der Wettbewerbsfähigkeit wurden die Löhne immer weiter gedrückt und so die Binnennachfrage stranguliert. Der leichte Aufschwung der vergangenen Jahre war daher vor allem exportgetrieben. Die Konsequenzen der Lohnzurückhaltung sind bekannt: Die Einkommen aus Kapital und Vermögen stiegen, die aus Löhnen sanken. Es ist wenig verwunderlich dass ein Abschnitt wie folgt überschrieben ist: „Lohnzuwachs in Deutschland – gut für ganz Europa“ (S. 75). Dabei macht die Memo-Gruppe darauf aufmerksam, dass nicht etwa höhere Steuern und Abgaben Schuld an der schlechten (Netto-)Lohnentwicklung sind sondern eine zu geringe Bruttolohnsteigerung – das hatten wir auch schon hier im Blog.
In einem weiteren Kapitel wird der „Super-GAU der Finanzmärkte“ analysiert, bevor das Memorandum auf Beschäftigungsprogramme und Arbeitszeitverkürzungen eingeht. Dabei wird vor allem auch die Qualität der Arbeitsplätze betrachtet, da in Deutschland neue Jobs in den vergangenen Jahren nur bei Teilzeitjobs bzw. Leiharbeit entstanden sind. Ziel ist daher eine Umverteilung der Arbeitszeit.
Soziale Dienstleistungen und Alterssicherung
Ein Kapitel des Memorandum handelt von sozialen Dienstleistungen, die öffentlich zu organisieren sind. Hierbei geht es darum, soziale Dienstleistungen für die Gesellschaft anzubieten und die Memo-Gruppe stellt eine „soziale Dienstleistungslücke“ (S. 151) fest. Hierbei wird auch deutlich, dass die öffentlichen Ausgaben für soziale Dienstleitungen in Österreich ebenfalls unzureichend und noch geringer als in Deutschland sind.
Soziale Dienstleistungen erfüllen mehrere Funktionen: Einerseits kann so professionell ein entsprechendes Angebot geschaffen und in öffentlicher Verantwortung angeboten werden. Andererseits wird die heute oft privat und vor allem von Frauen getragene Arbeit im Bereich der sozialen Dienstleitungen dann bezahlt. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Frauenerwerbstätigkeit positiv mit dem Arbeitsvolumen im sozialen Dienstleistungsbereich korreliert. Um jedoch ein Schließen der Lücke zu erreichen ist eine Trendwende in der bisherigen Politik notwendig. Der „schlanke Staat“ kann dann kein Leitbild mehr sein, oder, um es mit den Worten des Memorandum zu sagen: „Eine höhere Staatsquote und gute soziale Dienstleistungsarbeit gehören untrennbar zusammen“ (S. 162).
Das Memorandum geht auch auf die Frage der Altersversorgung ein. Dabei wird auf die Gefahr der Altersarmut durch das Absenken des Rentenniveaus in Deutschland ebenso eingegangen wie auf die Frage der Demografie und der Produktivitätsentwicklung. Dabei wird darauf hingewiesen, dass erstens nicht die potentielle, sondern die tatsächliche Erwerbstätigen (also nicht die Arbeitslosen) relevant sind, und dass zweitens von der steigenden Produktivität ein Teil für höhere Beitragszahlungen abgezweigt werden kann. Eine Kapitaldeckung jedenfalls kann aus vielen Gründen keine Alternative sein – erstens muss auch hier eine Rendite erwirtschaftet werden, zweitens sind die Unsicherheiten immanent und drittens ist ein solidarische Umlagesystem gerechter als ein privates System, dass man sich eben auch leisten können muss.
Bildung
Seit einigen Jahren befindet sich im Memorandum auch jeweils ein Bildungsteil, ein Bildungstext hat es sogar schon unter die Memorandum-Klassiker geschafft (PDF). Dieses Jahr ist das Thema die neoliberale Ausrichtung der ökonomischen Bildung. Hierbei werden u.a. Planspiele für Schülerinnen und Schüler untersucht und so aufgezeigt, dass ein bestimmtes Denken gefördert werden soll. Das Thema knüpft an an die Frage der Finanzbildung, wie sie bspw. von Martin Schürz und Beat Weber thematisiert wurde, an.
Fazit
Das Memorandum lohnt sich. Zwar ist der Schwerpunkt die Politik in der Bundesrepublik Deutschland, vieles ist jedoch in der österreichischen Politik nicht unähnlich und die Forderungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sind zu unterstützen. Das Memorandum bleibt eines der erfreulichen Gegenpublikationen zum (noch?) herrschenden neoliberalen Mainstream.
AG Alternative Wirtschaftspolitik
MEMORANDUM 2009
Von der Krise in den Absturz?
Stabilisierung, Umbau, Demokratisierung
Alternativen der Wirtschaftspolitik
Neue Kleine Bibliothek 138,
268 Seiten
EUR 17,90 [D] / EUR 18,40 [A] / SFR 32,00
ISBN 978–3‑89438–409‑8
Wenn sich die Regierung einmischt
Die Bestimmung von Auto-Emissionen, die Obama gestern in Washington angekündigt hat, werden als der wichtigste Beitrag der USA zur Klimapolitik gesehen. Und die Vorgaben sind ja nicht schlecht: Erstmals seit zwei Jahrzehnten soll die Treibstoffeffizienz von Autos, die in den USA gefahren werden dürfen, wieder steigen.
Während andere klimapolitische Gesetzesvorlagen noch im Kongress stecken, können schon mal folgende Schlüsse gezogen werden:
Erstens, die Obama-Administration hat keine Bedenken, ihren Einfluss für Reformen geltend zu machen, die vor kurzem noch als undenkbar erschienen sind. Dass die Automobilindustrie dem neuen Plan zustimmt, liegt sicherlich daran, dass die Regierung inzwischen in weiten Teilen selbst Anteile daran hält; aber es ist dennoch bemerkenswert.
Zweitens zeigt sich, wie geschickt die Obama-Administration im Augenblick den politischen Prozess bestimmt. Die Republikaner sind entweder übergelaufen (wie Arnold Schwarzenegger) oder haben nicht viel zu sagen.
Drittens erkennt man das wiederkehrende Motiv, die Krise für Reformen zu nutzen. Der Kompromiss soll, so der Plan der Regierung, die notwendige Innovation stimulieren, um die amerikanische Wirtschaft im zentralen Bereich der Autoindustrie wieder top zu machen.
Viertens sieht man daran auch, dass hier wieder einmal auf altbewährte Kräfte gesetzt wird. Im Vergleich zu den Investitionen in Highway Construction nimmt sich der Anteil an Public Transportation sehr bescheiden aus. Und: Die bessere Effizienz von Autos bedeutet ja nicht unbedingt, dass weniger Schadstoffe in die Luft geschleudert werden (Jevons Paradox).
Christian Marazzi: „Finance as a real economy“ – Bericht
Bei einem Vortrag am 4.5.09 in Wien sprach der postoperaistische Ökonom Christian Marazzi (Professor an der Hochschule der italienischen Schweiz und Autor von Büchern wie „Fetisch Geld. Wirtschaft, Staat, Gesellschaft im monetaristischen Zeitalter“ und „Capital and Language. From the New Economy to the War Economy“) über das Verhältnis von Finanz- und Realwirtschaft. Früher seien Finanzblasen am Ende von Konjunkturzyklen aufgetreten, und seien somit aus marxistischer Sicht als Ausdruck von Verwertungsproblemen im Realsektor aufgefasst worden: Demnach flüchte überschüssiges Kapital in den Finanzsektor, und führe dort zu Vermögenspreisinflation, bis die Blase schließlich platzt. In diesem Kontext sei zu Recht von Entkoppelung von Finanz- und Realsphäre die Rede.
Diese Analyse sei für die Periode des Fordismus treffend gewesen, so Marazzi, mittlerweile habe sich aber ein Wandel zu einem postfordistischen Akkumulationsregime durchgesetzt, wo Finanzwesen und Realwirtschaft enger miteinander verwoben sind. Postfordistische Produktion sei durch die fortschreitende Auslagerung des Wertschöpfungsprozesses aus den Unternehmen gekennzeichnet. Unternehmen im fortschreitenden Bereich immaterieller Produkte überlassen das Produzieren anderen und konzentrieren sich aufs Koordinieren und die Abschöpfung von Wert, der außerhalb ihrer selbst produziert wird – von schlecht bezahlten Freelancern, oder gar gratis von Konsumenten, die durch ihr Feedback Ideen zur Produktentwicklung beisteuern und entscheidende Handgriffe selbst beisteuern (das Modell youtube) bzw. deren selbstgeschaffene Kultur vereinnahmt und kommerziell vermarktet wird (Lifestyle-Produkte). Das Finanzwesen spielt zum Funktionieren dieses Modells eine entscheidende Rolle. Erstens spielt die finanzielle Steuerung der Unternehmen eine zentrale Rolle für das Outsourcing (Shareholder Value-Orientierung führt zu Druck auf Unternehmensverschlankung). Zweitens schließt der Konsumentenkredit die Lücke zwischen geringen Lohneinkommen und der notwendigen Kaufkraft für den Konsum.
In der Ausweitung der Privatverschuldung komme auch ein eigensinniger Anspruch auf einen Lebensstandard der Privathaushalte zum Ausdruck, eine Verweigerung von Bescheidenheit und Zufriedenheit mit einem kargen Lohn, was als eine Art Ausdruck des Klassenkampfes unter Bedingungen des Postfordismus interpretiert werden könne, der sich ansonsten vor allem in der Verteidigung von Gemeingütern gegen Privatisierung manifestiere.
Die aktuelle Krise führt zu einem Wegbrechen der kreditgestützten Nachfrage, ohne die das System nicht läuft.
Die Redimensionierung und Einschränkung des Finanzsektors und damit des Kredits allein sei die falsche Antwort auf die Krise, weil damit der Kredit als (privatisierte Form der) Artikulation und Finanzierung von sozialen Ansprüchen zerschlagen werde, ohne dass ein Ersatz angeboten würde. Aufgrund der Zerschlagung des öffentlichen Sektors und Wohlfahrtsstaates etwa sei ohne Studienkredit von den privaten Haushalten keine Bildung zu finanzieren.
Um aus der Krise zu kommen, müsste man die Privatverschuldung ersetzen durch ein Recht auf ein Sozialeinkommen, also umverteilen. Für die unmittelbare Lösung des Problems der „toxic assets“ der Banken sei die Refinanzierung der Immobilienkreditschuldner der beste Weg.