Expansive Lohnpolitik – BEIGEWUM

Stichwort: Expansive Lohnpolitik


Buchrezension: Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peeter Raane (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik – Zur Aktualität von Viktor Agartz

Mai. 4th 2009 — 20:49

Wer war Vik­tor Agartz, wel­che wirt­schafts­po­li­ti­schen Kon­zep­te ver­trat er, und sind sei­ne Über­le­gun­gen heu­te noch rele­vant? Ein kürz­lich erschie­ne­ner Tagungs­band wid­met sich die­sen Fra­gen, und weist auf die Aktua­li­tät „klas­si­scher“ sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Wirt­schafts­po­li­tik hin.

 

Vik­tor Agartz

 

Vik­tor Agartz (1897–1964) gilt als einer der ein­fluss­reichs­ten und bedeu­tends­ten Wirtschaftspolitiker/​innen der west­deut­schen Gewerk­schaf­ten und Sozi­al­de­mo­kra­tie in der Nach­kriegs­zeit. Im Zen­trum sei­ner Über­le­gun­gen stand die sozia­le und demo­kra­ti­sche Neu­ge­stal­tung der BRD nach dem Zwei­ten Welt­krieg. Zu Agartz’ wich­tigs­ten Kon­zep­ten gehö­ren die expan­si­ve Lohn­po­li­tik und die Wirtschaftsdemokratie.

 

In einem kürz­lich erschie­ne­nen Sam­mel­band zu einer Tagung des Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tuts (WSI) in der Hans-Böck­ler-Stif­tung und der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung NRW anläss­lich des 110. Geburts­tags von Vik­tor Agartz wird argu­men­tiert, dass des­sen zen­tra­le Über­le­gun­gen heu­te noch von Rele­vanz sind.

 

Expan­si­ve Lohnpolitik

 

 

Für Agartz ist „jede expan­die­ren­de Wirt­schaft von der Gefahr bedroht, dass die Nach­fra­ge hin­ter dem Waren­an­ge­bot zurück­bleibt“ (S. 154). Die Lohn­po­li­tik ist in Agartz’ Vor­stel­lung nicht ein­fach pro­duk­ti­vi­täts­ori­en­tiert, son­dern ver­sucht, „die wirt­schaft­li­che Expan­si­on von sich aus zu for­cie­ren, um durch bewuss­te Kauf­kraft­stei­ge­rung eine Aus­wei­tung der Pro­duk­ti­on her­aus­zu­for­dern“ (S. 154). Zugleich wir­ke die­se expan­si­ve Lohn­po­li­tik als Struk­tur­peit­sche, wel­che die Unter­neh­men zu höhe­rer Pro­duk­ti­vi­tät zwin­ge. Agartz war stets auf die gewerk­schaft­li­che Auto­no­mie bedacht, und plä­dier­te gegen die Unter­ord­nung gewerk­schaft­li­cher Tarif­po­li­tik unter ande­re Zie­le, denn der Lohn sei „immer ein poli­ti­scher Lohn“.

 

Gleich­zei­tig sah er in der expan­si­ven Lohn­po­li­tik aber kei­ne ego­is­ti­sche Inter­es­sens­po­li­tik, son­dern eine wachs­tums­för­dern­de struk­tur­po­li­ti­sche Erwei­te­rung der damals keyne­sia­nisch gepräg­ten Vor­stel­lun­gen des öko­no­mi­schen Main­stream. Gegen die Kri­tik, dass Lohn­er­hö­hun­gen über den Pro­duk­ti­vi­täts­spiel­raum hin­aus eine Lohn-Preis-Spi­ra­le in Gang set­zen, wand­te Agartz ein, dass die Preis­set­zung der Unter­neh­men nicht durch voll­kom­me­ne Kon­kur­renz deter­mi­niert sei, son­dern der jewei­li­gen Macht­kon­stel­la­ti­on fol­ge. Es sei „Sache einer Regie­rung, Preis­stei­ge­run­gen durch eine akti­ve Preis­po­li­tik zu mil­dern oder zu ver­hü­ten.“ (S. 154) Expan­si­ve Lohn­po­li­tik sei des­halb ein Instru­ment zur Begren­zung der Monopolrenten.

 

Wirt­schafts­de­mo­kra­tie

 

Nach der Kata­stro­phe des Zwei­ten Welt­kriegs stand die Grün­dung einer neu­en demo­kra­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung an. Für Agartz soll­te die Demo­kra­tie aus drei Grün­den nicht an den Fabriks­to­ren enden: Ers­tens sta­bi­li­sie­re Wirt­schafts­de­mo­kra­tie die stets gefähr­de­te poli­ti­sche Demo­kra­tie. Zwei­tens ermög­li­che sie die Ent­wick­lung der for­ma­len zur leben­di­gen Demo­kra­tie. Und drit­tens beför­de­re sie die Eman­zi­pa­ti­on der Lohn- und Gehaltsempfänger/​innen von Untertan/​innen zu selbst­be­wuss­ten Bürger/​innen.

 

Agartz’ Kon­zept der Wirt­schafs­de­mo­kra­tie beinhal­te­te die Ver­ge­sell­schaf­tung der Schlüs­sel­in­dus­trien und von unten nach oben orga­ni­sier­te, demo­kra­ti­sche Pla­nungs­in­sti­tu­tio­nen, wel­che einen volks­wirt­schaft­li­chen Rah­men­plan aus­ar­bei­ten sol­len. Er sah wei­ters eine pari­tä­ti­sche Beset­zung und Demo­kra­ti­sie­rung der Auf­sichts- und Kon­troll­be­hör­den sowie der Wirt­schafts­kam­mern vor. Zen­tral ist zudem die Aus­wei­tung der pari­tä­ti­schen Mit­be­stim­mung auf alle pri­va­ten und öffent­li­chen Betrie­be. Schließ­lich befür­wor­te­te Agartz eine stär­ke­re Regu­lie­rung der Märk­te. Ziel Agartz’ war die Sozia­li­sie­rung der Unternehmer/​innen/​funktion, nicht aber die Abschaf­fung der Marktwirtschaft.

 

Wirt­schafts­po­li­tik in der glo­ba­len Krise

 

Die Bei­trä­ge des Sam­mel­ban­des dis­ku­tie­ren enga­giert Agartz’ Kon­zep­te und die Fra­ge ihrer heu­ti­gen Rele­vanz, da sie aber vor der aktu­el­len Kri­se geschrie­ben wur­den, gehen sie nicht auf die mitt­ler­wei­le stark ver­än­der­te Situa­ti­on der Welt­wirt­schaft ein. Die­se unter­streicht aber nur die not­wen­di­ge Abkehr von neo­li­be­ra­len Denk­mus­tern, „klas­si­sche“ sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Wirt­schafts­po­li­tik erscheint vor die­sem Hin­ter­grund wie­der modern. Aber auch wenn neu­er­dings alle Keynesianer/​innen sei­en, ist vie­ler­orts doch nur ein rudi­men­tä­rer Keynes angekommen.

 

Die glo­ba­le Wirt­schafts­leis­tung befin­det sich im frei­en Fall, die USA wer­den ihre bis­he­ri­ge Rol­le als Haupt­ab­neh­me­rin von Pro­duk­ten export­ori­en­tier­ter Län­der mit­tel­fris­tig nicht län­ger spie­len kön­nen. Stei­gen­de Arbeits­lo­sig­keit erhöht den Druck auf die Löh­ne, was zu einem wei­tern Weg­bre­chen der Nach­fra­ge führt. Im schlimms­ten Fall mün­det die­se Ent­wick­lung in eine Defla­ti­ons­spi­ra­le und Depres­si­on. Soll dies ver­mie­den wer­den, muss der län­ger anhal­ten­de Nach­fra­ge­aus­fall von Sei­ten der USA durch expan­si­ve Finanz- und Lohn­po­li­tik insb. in Län­dern mit Han­dels­bi­lanz­über­schüs­sen – v.a. Chi­na, Japan, Deutsch­land sowie eini­ge klei­ne­re EU-Staa­ten – kom­pen­siert wer­den. Aus makro­öko­no­mi­scher Sicht sind höhe­re staat­li­che Inves­ti­ti­ons- und Kon­sum­aus­ga­ben, sowie eine sta­bi­li­sie­ren­de Lohn­po­li­tik unab­ding­bar zur Ein­gren­zung die­ser „Jahr­hun­dert­kri­se“.

 

In die­ser Hin­sicht sind die im Buch dis­ku­tier­ten lohn­po­li­ti­schen Vor­stel­lun­gen aktu­el­ler denn je. Und auch wirt­schafts­de­mo­kra­ti­sche Über­le­gun­gen gewin­nen in die­sem Umfeld an Charme. Ein wich­ti­ger Kon­tra­punkt gegen die Kurz­fris­tori­en­tie­rung der Finanzmarktakteur/​innen im Betrieb kann die Stär­kung der Mit­be­stim­mung sein. Und was spricht gegen die Aus­wei­tung von Mit­be­stim­mungs- und Demo­kra­tie­ele­men­ten in öffent­li­chen Betrie­ben und Regu­lie­rungs­be­hör­den? War­um soll­ten Betrie­be, die öffent­li­che Hilfs­gel­der in Anspruch neh­men, nicht auf eine demo­kra­tisch bestimm­te Sozi­al­char­ta ver­pflich­tet werden?

 

Wirt­schafts­de­mo­kra­tie und expan­si­ve Lohn­po­li­tik – Zur Aktua­li­tät von Vik­tor Agartz“ von Rein­hard Bispinck/​Thorsten Schulten/​Peeter Raa­ne (Hrsg.) ist 2008 im VSA-Ver­lag Ham­burg erschie­nen. Es umfasst 244 Sei­ten und kos­tet 17,80 EUR.

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