Buchrezension: Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peeter Raane (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik – Zur Aktualität von Viktor Agartz
Wer war Viktor Agartz, welche wirtschaftspolitischen Konzepte vertrat er, und sind seine Überlegungen heute noch relevant? Ein kürzlich erschienener Tagungsband widmet sich diesen Fragen, und weist auf die Aktualität „klassischer“ sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik hin.
Viktor Agartz
Viktor Agartz (1897–1964) gilt als einer der einflussreichsten und bedeutendsten Wirtschaftspolitiker/innen der westdeutschen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die soziale und demokratische Neugestaltung der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu Agartz’ wichtigsten Konzepten gehören die expansive Lohnpolitik und die Wirtschaftsdemokratie.
In einem kürzlich erschienenen Sammelband zu einer Tagung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW anlässlich des 110. Geburtstags von Viktor Agartz wird argumentiert, dass dessen zentrale Überlegungen heute noch von Relevanz sind.
Expansive Lohnpolitik
Für Agartz ist „jede expandierende Wirtschaft von der Gefahr bedroht, dass die Nachfrage hinter dem Warenangebot zurückbleibt“ (S. 154). Die Lohnpolitik ist in Agartz’ Vorstellung nicht einfach produktivitätsorientiert, sondern versucht, „die wirtschaftliche Expansion von sich aus zu forcieren, um durch bewusste Kaufkraftsteigerung eine Ausweitung der Produktion herauszufordern“ (S. 154). Zugleich wirke diese expansive Lohnpolitik als Strukturpeitsche, welche die Unternehmen zu höherer Produktivität zwinge. Agartz war stets auf die gewerkschaftliche Autonomie bedacht, und plädierte gegen die Unterordnung gewerkschaftlicher Tarifpolitik unter andere Ziele, denn der Lohn sei „immer ein politischer Lohn“.
Gleichzeitig sah er in der expansiven Lohnpolitik aber keine egoistische Interessenspolitik, sondern eine wachstumsfördernde strukturpolitische Erweiterung der damals keynesianisch geprägten Vorstellungen des ökonomischen Mainstream. Gegen die Kritik, dass Lohnerhöhungen über den Produktivitätsspielraum hinaus eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen, wandte Agartz ein, dass die Preissetzung der Unternehmen nicht durch vollkommene Konkurrenz determiniert sei, sondern der jeweiligen Machtkonstellation folge. Es sei „Sache einer Regierung, Preissteigerungen durch eine aktive Preispolitik zu mildern oder zu verhüten.“ (S. 154) Expansive Lohnpolitik sei deshalb ein Instrument zur Begrenzung der Monopolrenten.
Wirtschaftsdemokratie
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stand die Gründung einer neuen demokratischen Gesellschaftsordnung an. Für Agartz sollte die Demokratie aus drei Gründen nicht an den Fabrikstoren enden: Erstens stabilisiere Wirtschaftsdemokratie die stets gefährdete politische Demokratie. Zweitens ermögliche sie die Entwicklung der formalen zur lebendigen Demokratie. Und drittens befördere sie die Emanzipation der Lohn- und Gehaltsempfänger/innen von Untertan/innen zu selbstbewussten Bürger/innen.
Agartz’ Konzept der Wirtschafsdemokratie beinhaltete die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und von unten nach oben organisierte, demokratische Planungsinstitutionen, welche einen volkswirtschaftlichen Rahmenplan ausarbeiten sollen. Er sah weiters eine paritätische Besetzung und Demokratisierung der Aufsichts- und Kontrollbehörden sowie der Wirtschaftskammern vor. Zentral ist zudem die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung auf alle privaten und öffentlichen Betriebe. Schließlich befürwortete Agartz eine stärkere Regulierung der Märkte. Ziel Agartz’ war die Sozialisierung der Unternehmer/innen/funktion, nicht aber die Abschaffung der Marktwirtschaft.
Wirtschaftspolitik in der globalen Krise
Die Beiträge des Sammelbandes diskutieren engagiert Agartz’ Konzepte und die Frage ihrer heutigen Relevanz, da sie aber vor der aktuellen Krise geschrieben wurden, gehen sie nicht auf die mittlerweile stark veränderte Situation der Weltwirtschaft ein. Diese unterstreicht aber nur die notwendige Abkehr von neoliberalen Denkmustern, „klassische“ sozialdemokratische Wirtschaftspolitik erscheint vor diesem Hintergrund wieder modern. Aber auch wenn neuerdings alle Keynesianer/innen seien, ist vielerorts doch nur ein rudimentärer Keynes angekommen.
Die globale Wirtschaftsleistung befindet sich im freien Fall, die USA werden ihre bisherige Rolle als Hauptabnehmerin von Produkten exportorientierter Länder mittelfristig nicht länger spielen können. Steigende Arbeitslosigkeit erhöht den Druck auf die Löhne, was zu einem weitern Wegbrechen der Nachfrage führt. Im schlimmsten Fall mündet diese Entwicklung in eine Deflationsspirale und Depression. Soll dies vermieden werden, muss der länger anhaltende Nachfrageausfall von Seiten der USA durch expansive Finanz- und Lohnpolitik insb. in Ländern mit Handelsbilanzüberschüssen – v.a. China, Japan, Deutschland sowie einige kleinere EU-Staaten – kompensiert werden. Aus makroökonomischer Sicht sind höhere staatliche Investitions- und Konsumausgaben, sowie eine stabilisierende Lohnpolitik unabdingbar zur Eingrenzung dieser „Jahrhundertkrise“.
In dieser Hinsicht sind die im Buch diskutierten lohnpolitischen Vorstellungen aktueller denn je. Und auch wirtschaftsdemokratische Überlegungen gewinnen in diesem Umfeld an Charme. Ein wichtiger Kontrapunkt gegen die Kurzfristorientierung der Finanzmarktakteur/innen im Betrieb kann die Stärkung der Mitbestimmung sein. Und was spricht gegen die Ausweitung von Mitbestimmungs- und Demokratieelementen in öffentlichen Betrieben und Regulierungsbehörden? Warum sollten Betriebe, die öffentliche Hilfsgelder in Anspruch nehmen, nicht auf eine demokratisch bestimmte Sozialcharta verpflichtet werden?
„Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik – Zur Aktualität von Viktor Agartz“ von Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peeter Raane (Hrsg.) ist 2008 im VSA-Verlag Hamburg erschienen. Es umfasst 244 Seiten und kostet 17,80 EUR.